Читать книгу Tödliches Orakel - Tina Sabalat - Страница 5
Tag 2 – Montag, 31. Juli
Оглавление»Sie müssen herkommen. So geht das nicht«, sagte Frau Berger, kaum dass ich den Telefonhörer abgenommen hatte.
»Was ist los?«, erkundigte ich mich – leicht gereizt, denn ich war gerade ein paar Bahnen in meinem nagelneuen Pool geschwommen und hatte diesen Genuss für das laut und lauter werdende Schrillen des Telefons unterbrechen müssen. Jetzt stand ich am Rand des Pools und bereute tropfnass, dass ich das Telefon überhaupt mit hinausgenommen hatte.
»Der junge Mann«, erwiderte Frau Berger in einem Tonfall, der meine Frage als überflüssig abstrafte.
»Welcher junge Mann?«
»Der gestern bei Ihnen war. Der blasse, dünne. Er war sehr früh heute Morgen schon einmal hier, und ich habe ihm gesagt, dass Sie nicht zu sprechen sind. Dass er einen Termin ausmachen muss. Er ist gegangen, aber jetzt ist er wieder da.«
»Und was tut er?«
»Er hat erneut geläutet, ich habe ihm das Gleiche mitgeteilt wie heute Morgen. Und jetzt sitzt er vor der Tür auf der Treppe. Er wartet, hat er gesagt, irgendwann würden Sie schon ein paar Minuten für ihn haben. Heute oder morgen. Oder übermorgen.« Frau Berger holte tief Luft. »Und er raucht«, fügte sie mit deutlichem Widerwillen hinzu, was mich lächeln ließ. Rauchen war eine Todsünde für Frau Berger, weswegen ich meine Zigaretten immer sorgfältig versteckte, wenn sie in der Nähe war.
»Lassen Sie ihn rauchen«, sagte ich mit dem Wissen des allsehenden Orakels, »das bringt ihn nicht um.«
»Aber das ist nicht richtig. Stellen Sie sich vor, das machten alle Ihre Besucher so.«
»Es herrscht Rauchverbot im Konsultationszimmer.«
»Mit Fug und Recht. Aber ich spreche von dieser anderen Anmaßung. Er hat heute keinen Termin.«
»Deswegen wartet er ja auf der Treppe.«
»Aber wie sieht das denn aus«, empörte sich Frau Berger, ich lachte.
»Das sieht aus, als würde ein gut aussehender, junger Mann mit Engelsgeduld auf Sie warten. Also lassen Sie ihn warten. Mal sehen, wie lange er durchhält«, erwiderte ich, und als Frau Berger ohne ein weiteres Wort auflegte, wusste ich, dass ich ihre faltigen Wangen gerade in verlegenes Rot getaucht hatte.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und sprang wieder in den Pool: Ich gab Sam drei Stunden – wenn er dann immer noch auf der Treppe hockte, würde ich ihn empfangen. Nicht, weil das so üblich war. Nein, ganz und gar nicht, da hatte Frau Berger absolut recht. Besucher wurden nur mit Termin empfangen, so etwas wie Laufkundschaft ertrug ich nicht. Heute einer, morgen zehn, aneinandergereihte Bäder in fauligen Mägen – das war unmöglich. Was ich wusste, denn das hatte ich bereits versucht. Als meine Gebühr nur einen Bruchteil der heutigen betragen hatte, als ich es hatte lernen müssen. Das gezielte Sehen, vor allem aber, mich nicht immer und überall zu übergeben. Diese Zeit war vorbei, zum Glück. Zurückgeblieben war nur diese Übelkeit, erträglich, wenn auch noch nicht optimal.
Wenn ich meine Kunden sonst so auf Abstand hielt, warum sollte ich Sam dann noch einmal empfangen? Und ihm helfen? Weil er sterben würde? Ja, denn eine Kugel in seinem Köpfchen könnte durchaus meinen Seelenfrieden stören. Könnte. Ich fragte mein Gewissen, aber es schwieg. Es hatte zu viele Tode gesehen und gestand sich keine spontane Regung mehr zu. Streng genommen hatte Sam von gestern noch Zeit übrig: Ich hatte ihm gesagt, was ich gesehen hatte, er hatte lauthals gelacht und war gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Der Termin hatte keine dreißig Minuten gedauert, und weil ich wegen des kühlen und chlorsauberen Wassers auf meiner Haut gerade milde gestimmt war, entschied ich, dass ich Sam die restlichen Minuten heute gewähren würde. Wenn er denn geduldig war.
***
Er war geduldig. Als ich nach drei Stunden von meinem Haus zu dem von Frau Berger hinüberschlenderte, saß Sam immer noch auf der Treppe vor ihrer Haustür. Er hatte einen dunklen Fleck hinten auf dem Hemd, kleine Schweißtropfen glitzerten in seinem Nacken, in der Hand hielt er eine Zigarette.
»Das ist schon die Achte«, flüsterte Frau Berger, als ich über ihre Schulter durch das Küchenfenster blickte. Ich ahnte, dass sie die vergangenen Stunden damit verbracht hatte, auf Sams schmalen Rücken zu starren und Angst vor dem zu haben, was die Nachbarn dachten. Vor dem Haus stand ein Oldtimer-Mustang in beklagenswertem Zustand, hoffnungslos schief eingeparkt – entweder war Sam ein miserabler Autofahrer oder er hatte es verdammt eilig gehabt, mit mir zu sprechen. Ich tippte auf Letzteres, denn dazu passte auch, dass er vor der Haustür hockte und nicht in seinem Wagen wartete: Die schleicht sich nicht ungesehen aus dem Haus, schien das zu besagen.
»Er ascht in die Rosen.«
»Und die Kippen schmeißt er in die Dahlien?«
Frau Berger kniff die Lippen zusammen.
»Lassen Sie ihn ein. In fünf Minuten. Und bringen Sie ihm kein Wasser.«
»Sie wollen ihn empfangen? Ohne Termin? Das ist gegen alle Regeln«, bekräftigte Frau Berger, was ich wusste, weil ich die Regeln gemacht hatte.
Ich antwortete nicht, sondern ging in mein stickiges Stübchen, dachte nicht zum ersten Mal daran, dort eine Klimaanlage installieren zu lassen und aktivierte Kameras und Computer. Das System brauchte drei Minuten, und als die zahlreichen Ansichten des Konsultationszimmers auf den Monitoren vor mir erschienen waren, hatte ich noch knappe zwei Minuten Zeit, um mein Berufslächeln aufzulegen, als wäre es ein Lipgloss. Dann ging die Tür auch schon auf und Sam trat ein.
Er ging zielstrebig zum Sofa und setzte sich. Sein Bartschatten war ein wenig stärker geworden, unter seinen Augen lagen bläuliche Ringe, auf seiner Brust zeichneten sich ebenfalls Schweißflecken ab: Er sah erschöpft aus, gereizt und unausgeschlafen.
»Was soll der Scheiß?«, fragte er statt einer Begrüßung mit einer Geste zum Monitor. »Können Sie nicht normal mit mir reden?«
»Nein«, antwortete ich. »Seien Sie froh, dass ich Ihnen diese Zeit gebe, vergeuden Sie sie nicht mit nutzlosem Gemecker. Sie haben noch genau 34 Minuten, die sind von Ihrer Stunde gestern übriggeblieben.«
Sam sah finster in die Kamera.
»Ich möchte wissen, wer dieses Spielchen hier veranstaltet«, verlangte er. »Wer Ihnen aufgetragen hat mir zu sagen, dass ich sterben werde. Dass ich erschossen werde.«
Niemand«, antwortete ich. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich in Ihnen gesehen habe. Und das ist das, was passieren wird. Betrachten Sie Sehen und Passieren als Synonyme.«
»Ja, genau«, ätzte er. »Und morgen kommt der Weihnachtsmann.«
»Nein«, entgegnete ich ungerührt, »zumindest nicht zu Ihnen. Das hätte ich gesehen.«
»Sarkastisch sind Sie also auch noch«, schnappte Sam. »Aber ich glaube Ihnen kein Wort. In die Zukunft sehen – wenn Sie selber glauben, dass Sie das können, sind Sie verrückt.«
Ich lächelte wieder. Allerdings nicht besonders freundlich.
»Ich habe gesehen und gesagt, was passieren wird. Akzeptieren Sie diese Antwort, Sie werden keine andere bekommen.«
Sam schnaubte. »Deswegen bleiben Sie lieber da drin, oder? Das macht das Lügen leichter.«
»Ja, genau«, gab ich zurück. »Ich kann besser lügen, wenn eine hochauflösende Kamera auf mein Gesicht gerichtet ist und Sie jedes Zwinkern auf 26 Zoll bewundern können.«
Sam machte seine müden Augen schmal, ich blieb ungerührt.
»Wer hat Ihnen die Gebühr bezahlt? Die Zehntausend?«
Ah, endlich eine sinnvolle Frage.
»Das muss ich nachschauen, Moment.« Ich rief das Eingangskonto auf. »Das Geld kommt von einem Konto in Liechtenstein. Bankhaus Tobel«, sagte ich. »Ein Name ist nicht angegeben, Verwendungszweck 'Sitzung', mit dem heutigen Datum. Mit diesem Betreff lasse ich alle Überweisungen machen, damit ich sie zuordnen kann. Möchten Sie die Kontonummer?«
Sam bejahte, ich las die ewig lange Ziffernfolge zweimal vor, er notierte sie sich in einem kleinen Heft, das er aus der Hosentasche gezogen hatte. Ich sah kein Problem darin, ihm dies zu verraten, das Geld gehörte schließlich zu seinem Termin.
»Wann wurde die Summe bezahlt?«, fragte Sam, ich gab ihm auch diese Information: drei Tage, nachdem der Termin ausgemacht worden war. Diese Schnelligkeit war üblich, auch wenn der Termin noch Monate hin war. Dahinter steckte zumeist die Hoffnung des Kunden, dass die Sitzung nicht abgesagt werden würde, wenn sie schon bezahlt worden war.
»Und wann wurde der Termin ausgemacht?«
Ich nannte ein Datum vor etwa fünf Monaten.
»Wie? Telefonisch, E-Mail, Brief?«
»Per Telefon.«
»Wer hat angerufen?«
Ich hatte das Gefühl, dass Sam schon öfter Interviews oder Verhöre geführt hatte, denn seine Fragen kamen schnell und präzise. Bei dieser musste ich allerdings passen.
»Frau Berger nimmt die Anrufe entgegen, und zu diesem hat sie keinen Namen notiert. Also wurde keiner genannt.«
»Und sie hat sich nicht gewundert? Über den anonymen Anruf?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Der Anruf war genauso, wie alle Anrufe hier sind. Ich lege keinen Wert darauf, die wahre Identität meiner Kunden zu kennen. Das schützt sie, und es schützt mich.«
Ich hätte Sam noch sagen können, dass es scheinbar sogar ein angenehmes Telefonat gewesen war, denn Frau Berger vergab drei Symbole, wenn sie mir einen Termin mit einem neuen Kunden eintrug. Ein Minus für Leute, die eventuell schwierig sein konnten, die jammerten, einen früheren Termin wollten, die Gebühr zu hoch fanden. Neutrale Anrufe bekamen eine Null, freundliche Stimmen ein Plus. Sams Anrufer hatte ein Plus bekommen, den Vermerk 'männlich, Sprache: Deutsch' sowie einen Hinweis auf einen teilweise schwer verständlichen, wahrscheinlich schweizerischen Akzent. Ich hätte Sam das weitergeben können, aber ich unterließ es – ich war hier, um die von ihm gestellten Fragen zu beantworten, nicht mehr und nicht weniger.
»Und Sie haben mir nur erzählt, was Sie gesehen haben. Ohne, dass Ihnen dieser Anrufer oder sonst jemand ein kleines Drehbuch gegeben hat.«
»Korrekt.«
»Danke.«
Sam stand auf und steckte sein Notizbuch weg. Ich war verblüfft.
»Sie wollen gehen?«, fragte ich, warf einen Blick auf den Countdown. »Sie haben noch 20 Minuten.«
»Und was sollten die mir bringen?«
»Nun, Sie könnten Fragen stellen.«
»Das habe ich getan.«
»Die richtigen Fragen«, präzisierte ich, Sam runzelte die Stirn.
»Ich habe die richtigen Fragen gestellt«, beharrte er, ich schüttelte den Kopf.
»Nein, haben Sie nicht. Es sei denn, Sie gehen immer noch davon aus, dass sich jemand einen Spaß mit Ihnen macht. Überlegen Sie sich, was für Fragen Sie stellen würden, wenn Sie überzeugt wären, dass ich die Wahrheit sage. Und zwar jetzt.«
Weil ich in Spendierlaune war, hielt ich die Uhr an, auf der Sams Zeit tickte. Sam sah auf das Sofa, auf den Monitor, auf die Tür zu meinem Zimmer – dann ging er. Die Tür zum Flur ließ er offen, die Haustür warf er wütend zu, und als ich aus meinem Zimmerchen kam, stand Kasimir hinter der Haustür. Er drückte seine feuchte Nase gegen das Glas und blickte Sam betrübt hinterher, als wäre der sein Herrchen, das allein auf den versprochenen Spaziergang gegangen war.
Ich kraulte Kasimir seine weichen Dackel-Schlappohren.
»Der kommt wieder«, tröstete ich ihn. »Ich wette um eine Dose Chappi.«