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7 Uhr bis 8 Uhr

Der Herbst kündigte sich langsam, aber stetig in den Gärten ringsum an, und die Reste der Nacht glitten mit der Sonne hinauf in den Tag. Sito winkte im Vorbeigehen seiner Nachbarin und wollte schnell in Richtung See laufen, wo es derzeit noch still war, doch seine Nachbarin erwiderte beharrlich seinen kurzen Gruß und kam ein paar Schritte auf den Gartenzaun zu, ein Kopftuch auf ihrem grauen Haar.

»Der Herr Hauptkommissar, wie schön, dass ich Sie treffe. Und das liebe neue Hundle is au dabei, ach, meiner ist jetzt schon eine Woche unter der Erde, wissen Sie, das ist hart.«

»Das tut mir leid«, sagte Sito, »das wusste ich nicht.« Er hatte die alte Frau mit ihrem Dackel im letzten Sommer öfter an seinem Garten vorbeilaufen sehen. Immer hatte sie angehalten, und er war sich nie sicher gewesen, ob sie sich oder dem Hund eine Pause gönnen wollte. Gemeinsam alt werden, wissend, dass der Sand in der Uhr unaufhörlich rann.

»Er war ja schon alt, ging einfach nicht mehr.« Sie klopfte sich auf die Hüfte. »Ich bin es ja auch, aber ich muss halt. Immer weiter müssen wir Alten, immer weiter.«

Sito nickte beklommen. »Hat er denn ein schönes Grab bekommen?« Er dachte an seinen früheren Hund, Pollux, ihn hatte er vor zwei Jahren am Purren oberhalb von Litzelstetten beerdigt, heimlich, weil er ihm diese Aussicht auf den See mit auf den Weg geben wollte. Mit auf den Weg? Wohin? Thanatos, der Gott der Toten, wird es wissen, er kannte nichts anderes. Zwei Jahre schon wieder, dachte Sito. Zeus stupste mit seiner Schnauze sanft an seine Hand, und Streuner, wie er immer noch hieß, grummelte zaghaft. Beide wollten sie endlich weiter.

»Aber gewiss hab ich ihn beerdigt«, sagte die Frau und zeigte nach rechts unter die Tanne. Dort stand ein Gartenzwerg mit einem Hund. Davor ein kleines Kreuz auf dem kaum sichtbaren Hügel. »Mein Schwiegersohn hat mir geholfen. Sie waren nicht da, da musste er.« Sie lächelte. »Die junge Frau, sie wohnt wohl jetzt bei Ihnen?«

Sitos Blick hing noch an dem Gartenzwerg, der so breit lachte. Der Hund an seiner Seite war ein Deutscher Schäferhund. Ob dem Dackel das gefallen würde? Sito musste sich ein Grinsen verkneifen. »Ja, die junge Frau wohnt jetzt bei mir. Miriam heißt sie.«

»Weiß ich doch, die Miriam, die Malerin, eine schöne Frau ham Se da. Und nett isse auch. Hat mir scho a paarmal mit den Einkäufen geholfen.« Sie nickte, als hinge sie gerade dieser Erinnerung nach. »Jaja, das ist gut, dass wieder eine Frau bei Ihnen wohnt. Wirklich, das freut mich. Soll keiner allein sein im Leben.« Ihr Blick ruhte auf dem Grab, und Sito wäre gern geflüchtet. »Im Alter schon gar nicht.« Sie lachte. »Is Ihnen scho mal aufgefallen, dass man da einen Unterschied macht? Man is im Leben net gern allein, und dann kommt das Alter, wie so eine – wie sagt man? – Grauzone zum Tod hin.« Ohne eine Reaktion von Sito abzuwarten, drehte sie sich um und hob im Gehen die Hand zum Gruß.

Ihr Gang kam Sito langsamer vor als noch vor einigen Wochen. Sofort waren seine Gedanken an den schönen Herbsttag verflogen. Er würde ein Auge auf sie haben müssen in der nächsten Zeit. Ob Miriam von dem Tod des Dackels wusste?

Zeus zog an der Leine, Streuner lief wie immer ohne. Bei seinem letzten Besitzer in Gaienhofen hatte er eine Leine nicht kennengelernt. Nie hatte Streuner seine neue Familie in Frage gestellt, er war einfach mitgegangen, als habe er sich nahtlos in den Lauf der Dinge gefügt. Zeus hechelte ungeduldig. Er wollte endlich an den See und dann auf den Waldweg nach Litzelstetten abbiegen. Sito maßregelte sich, das nicht hinzunehmen, und rief Zeus zur Raison. Umgehend reagierte sein weißer Schäferhund mit einem ergebenen Blick zu seinem Herrn und dann einem sehnsüchtigen in Richtung Streuner. Der schien ihm aufmunternd zuzuzwinkern.

»Verbündet euch ruhig, hilft nichts«, scherzte Sito und streichelte Zeus über die Nase.

Es war wenig los zu dieser frühen Tageszeit. Auch wenn der Kalender schon den Herbst anzeigte, so wohnte diesem Freitag noch ein Restsommer inne. Die Touristen für die Mainau würden frühestens in einer Stunde anreisen, und ab Mittag dann zogen wieder ein paar hundert Menschen der Fridays-for-Future-Bewegung durch die Stadt. Sito würde sich wie schon so oft fragen, weshalb nicht die ganze Stadt dabei war, wo es doch um ihrer aller Zukunft ging.

Da fiel ihm ein: Heute würde es anders sein. Es war der Tag des Klimaschutzgipfels. Es gab eine große Kundgebung mit geladenen Gästen. Zwar hatte Greta Thunberg nicht zusagen können, doch kamen Sibylle Hundhammer, die deutsche Greta, sowie einige Spitzenpolitiker der Grünen, um vor den Demonstranten zu reden. Allerdings hatte sich auch ein Spitzenpolitiker der AfD, Michael Wertheim, angekündigt, er würde zur großen Gegenrede ansetzen, und Sito revidierte seine Einschätzung, dass nur ein paar hundert Demonstranten vor Ort sein würden – es kamen gewiss wesentlich mehr.

Weil es vor Kurzem schwere Auseinandersetzungen gegeben hatte, waren sie in Konstanz alarmiert. Seit Wochen hatte er die Nachrichten des Planungsstabes mitverfolgt und eben für den Moment prompt das Datum vergessen. Miriam und ihre Bilder hatten ihn abgelenkt. Ja, er führte wieder ein Privatleben, ging zur Arbeit, aber abends auch wieder nach Hause. Er war zurück im Leben.

Sito löste die Leine von Zeus, der sofort fröhlich mit Streuner losrannte. Von seiner Verletzung war im Moment kaum etwas zu sehen.

Freitag also. Dazu ein schöner Sonnentag. Vorhin, als er vor dem Winterbild von Miriam gestanden hatte, waren seine Augen über das Bild und dann zu dem großen Fenster gewandert, von dem aus man jetzt in dieser Jahreszeit wieder ein Stück des Sees sehen konnte. Er hatte das Blau des Sees und das sich bunt verfärbende Laub der Bäume genossen. Im Sommer, wenn sie dicht belaubt waren, versperrten sie die Sicht auf den See, was nicht schlimm war. Manchmal lag in der Unsichtbarkeit auch ein Zauber.

Miriams Winterbilder waren von einer solchen Einsamkeit beseelt, dass ihm kalt geworden war. Sie hatte bei ihrem Malkurs im Otto-Dix-Haus in Hemmenhofen angefangen, mit Öl zu malen. Ihre Lehrerin meinte, das müsse ihr liegen, und sie hatte recht behalten. Die ganze erste Jahreshälfte hatte Miriam nichts anderes getan, als ihre Skizzen von ihren Urlaubstagen zwischen Weihnachten und Silvester auf der Halbinsel Höri auf Leinwände zu übertragen – immer waren es strahlend weiße Wüsten, Baumgerippe, abgeblätterte Werbetafeln. Den Sommer über hatte sie dann gemalt. Mit Ölfarben ließ das Licht sich noch besser einfangen, die Sonne, die hin und wieder diesen Jahrhundertwinter aufgebrochen hatte, einen Winter, der Konstanz und Umgebung zeitweise lahmgelegt hatte.

Sito war froh, dass bald Miriams Ausstellung war, er hoffte, sie würde dann wieder anderes malen, Bilder mit bunten Farben. Er wollte keine Winterbilder mehr sehen.

Plötzlich blieb Zeus stehen. Er witterte, winselte kurz, dann sah er zu Sito.

»Was ist denn los?« Sito lief zu seinem Hund, dessen Blick zum Wald gerichtet war. Vielleicht ja ein Wolf, schoss es Sito durch den Kopf.

»Hast du was entdeckt? Ein Eichhörnchen?«

Sito versuchte, durch die Bäume hindurch etwas zu erkennen, aber da war nichts.

»Komm, Zeus, das ist längst weg.«

Aber Zeus verharrte immer noch und starrte in den Wald. Sito kniff die Augen zusammen, versuchte, die Perspektive seines Hundes einzunehmen – und dann sah er es: Bei einem Baum ungefähr in der dritten Reihe war ein hellblaues Band um einen Ast gebunden. Es flatterte im Wind, und Sito konnte nicht sagen, was daran ihn verstörte.

»Das hast du gesehen?«, fragte er seinen Hund und ging dann langsam zu dem Baum. Das Band war jetzt genau auf Augenhöhe. Es war sauber um den Ast gewickelt, zweimal, und dann mit einer Schleife über einem einfachen Knoten geschlossen. Die Schleife hing vom Ast herab, die Bänder wehten im Wind.

Sito wusste nicht, weshalb, aber er nahm sein Smartphone aus der Tasche und machte Aufnahmen von dem Ort und dem Band. Anschließend fischte er eine Tüte aus seiner Tasche, die er für Zeus dabeihatte, griff hinein und löste so mit geschützten Händen die Schleife und den Knoten. Er zog die Tüte von seiner Hand und über das blaue Band und schob es in seine Tasche.

»Gut gemacht«, lobte er seinen Hund.

Zeus rannte vergnügt von einer Seite des Weges zur anderen, immer begleitet von Streuner. Ein Jogger begegnete ihnen, grüßte, und Sito erkannte in ihm einen der Topstars vom Ruderclub Konstanz. Er hatte knapp die Nominierung für das Olympiateam verpasst. Zwei Frauen auf Rädern lachten, als die Hunde ihnen Platz machten, und wenig später kamen zwei Familien mit Kinderwagen und Laufrädern – Letztere wurden jeweils vom Vater getragen – und einigen quietschenden Kindern. Ganz schön früh unterwegs, dachte Sito. Grellbuntes Kinderlachen. Zeus hielt den Kopf gesenkt beim Vorbeilaufen, am liebsten hätte er sich wohl die Ohren zugehalten. Da musste nun Sito lachen.

Das blaue Band indessen ging ihm nicht aus dem Kopf. Was hatte er als Erstes gedacht? Etwas Beunruhigendes. Eine Schleife an einem Ast. Hatte jemand das Band gefunden und dort angebunden? Damit es diejenige, die es verloren hatte, auch wiederfinden würde? So in Augenhöhe, ja, das könnte eine einfache Erklärung sein, dachte Sito. Er hätte es einfach hängen lassen sollen.

Als er gegen acht zu Hause ankam, war Miriam bereits fort. Stimmt, erinnerte sich Sito, sie wollte noch einmal nach Gaienhofen und ein paar Eindrücke sammeln, die sie im Winter vielleicht verpasst hatte.

Unschlüssig stand er in der Küche, starrte aus dem Fenster und beobachtete die beiden Hunde. Streuner tat Zeus sichtlich gut, gleichwohl fühlte Sito immer einen Stich, als trüge dieser Hund die Vergangenheit wie ein Schild mit sich herum. Sito wischte die Erinnerung beiseite und schluckte das Unwohlsein hinunter.

Ohne weiter darüber nachgedacht zu haben, tat er etwas Seltsames. Jedenfalls stufte er es schon während seiner Schritte zum CD-Player und seines zielsicheren Griffs in das CD-Regal als seltsam ein: Er legte Albinoni ein, dessen Adagio in g-Moll seine Klänge kurz darauf im Wohnzimmer entfaltete. Sito musste sich langsam in den Sessel neben dem Regal setzen. Die Musik hatte nichts an ihrer magischen Anziehungskraft eingebüßt, spürte er und legte sich eine Hand auf den Mund. Was hatte ihn bewogen, sie ausgerechnet heute aufzulegen? Welche Erinnerung oder Ahnung?

Seine Gedanken wanderten zu jener blauen Schleife im Wald, die nun im Flur in seiner Tasche ruhte.

Einsamkeit.

Abschied.

Blau.

***

Sein Spiegelbild schien zu wanken. Er rief sich zur Haltung. Prüfend hielt er sich die Krawatte an den Hemdkragen. Nein, dachte er, das passte nicht. Auch das Hemd gefiel ihm nicht mehr. Er begriff nicht, weshalb seine Kleiderauswahl heute eine Rolle spielte, dennoch war es so. Seine Frau schlief noch. Er konnte ihren Atem hören, wie er ihn seit nun einundfünfzig Jahren hörte. Bedrohlich klang es in ihm nach. Die Bettdecke hob und senkte sich, Atem floss hinein und hinaus und bewegte das, was ihn nur mehr entfernt an seine Frau erinnerte, ein leises Nachschnauben. Seine Nasenflügel bebten. Er konnte sie förmlich riechen. Dieser Geruch, der sich in all der Zeit verändert hatte, ihm von Zeit zu Zeit heimlich in die Nase stieg, ihn belästigte. Wenn sie ihn beim Essen ansah, dann meinte er, in einen Spiegel seiner Gedanken zu blicken. Wenig außer Verachtung las er dort. Sie aber überschüttete ihn mit Aufsicht und Fürsorge, sodass er beinahe erstickte.

Er legte auch die dritte Krawatte zur Seite und zog das gestreifte Hemd wieder aus. Stattdessen griff er nach einem hellblauen, zog eine Anzugweste darüber und band sich einen passenden Schal um den Hals. Ja, dachte er zufrieden, so sah einer aus mit einem Vorhaben. Das sah nach Tatendrang aus, nach Esprit und nicht nach bloßer Pflichterfüllung.

Früher, wenn er zum Gericht gegangen war, dann hatte er sich genauso gefühlt. Er fuhr sich über die tiefen Falten auf seiner Stirn. Einige davon verdankte er seiner Aufgabe als Richter, nicht weil sie ihm Sorge bereitet hatte, vielmehr, weil er sich stets den Anschein gegeben hatte, ernst und aufrichtig zu sein – den Menschen gegenüber wollte er weise und vor allem unfehlbar erscheinen. »… und legte demutsvoll die Stirn in Falten …«, hatte einmal in einem Porträt über ihn gestanden. Demutsvoll. Kaum ein Begriff traf weniger auf ihn zu. Demut empfand er ausschließlich angesichts eines unanfechtbar verkündeten Urteils, wenn er die bewundernden Blicke im Raum sah.

Er wusste nicht genau, was heute passieren würde und ob ihm das bis zuletzt die erhoffte Ablenkung bringen würde. Ablenkung, vor allem aber auch Erlösung.

Sie hatten das Gespräch nicht weitergeführt an jenem Abend. Jeder war seinen eigenen dunklen Gedanken nachgehangen. Zumindest hatte er das Gefühl, dass es durchweg dunkle Gedanken gewesen sein mussten. Auf dem Schachspiel war seine Dame gefallen, unabsichtlich. Er war nicht umhingekommen, für einen Moment ein Omen darin zu sehen. Der unbewegliche König, die gestürzte Dame …

Vor einer Woche hatten sie das letzte Mal zusammengesessen, und ihm war klar, dass ein weiteres Spiel keinen Sinn mehr machen würde. Ihre Abende waren gezählt, das Ritual war aufgelöst in sinnloser Banalität. Ein letztes Mal hatten sie den Wein geteilt, die Zigarren gewählt, eine Weile in den großen Sesseln gesessen mit Blick in den Garten und auf das gegenüberliegende Ufer der Reichenau, wo immer ein paar Lichter durch die Nacht funkelten.

Das Tuch an seinem Hals saß zu fest. Er lockerte es, löste es dann ganz und legte es sich noch einmal um den Hals. Irgendwann, so dachte er, würde er einfach in den See gehen. Das Wasser um seine Füße spüren, die Reichenau im Blick, und dann nicht mehr anhalten, einfach ins Wasser gehen wie so mancher vor ihm. Auch Tschaikowski hatte es versucht, sich aber nur einen Schnupfen geholt. Erst die Cholera hatte ihm endlich die Erlösung gebracht. Der Idiot hatte das verseuchte Wasser einfach so getrunken.

Plötzlich überkam ihn große Lust, Tschaikowski zu hören. Was würde er jetzt auflegen? Natürlich die vierte Sinfonie in f-Moll. »Fatum, eine Kraft des Schicksals, die uns verbietet, glücklich zu sein …«

Schicksal … Die zweite Frau, sie hatten sie nicht gefunden.

***

Aus der Luft betrachtet, sah die Universität Konstanz mit ihren roten, blauen und gelben Feldern aus wie ein buntes Puzzle, das jemand humorvoll über einen Hügel verteilt hatte. Die Mainau fügte sich unterhalb gelegen schön ins Bild. Zoomte man die Ansicht etwas heran, verschwand zwar die Mainau aus dem Blickfeld, dafür konnte man aber die bunten Pyramiden des Glasdaches über dem Foyer erkennen, das Otto Piene 1972 gebaut hatte. Als die Bauherren am 21. Juni 1966 den Grundstein legten, ahnten sie sicher nicht, welche Karriere die Universität nehmen sollte.

Hilke schmunzelte, noch immer stolz, wenn sie den Weg von der Bushaltestelle unterhalb der Universität auf Höhe der Mainau antrat. Sie kam aus Litzelstetten. Da wäre der Weg bis in die Stadt Konstanz, um dort auf die Linie 9 umzusteigen und dann direkt vors Hauptportal fahren zu können, zwar bequemer, aber eben auch wesentlich länger. Also nahm sie diese Strecke, die sie von ihrem Zuhause in einer WG in wenigen Minuten bis zu dieser Haltestelle brachte. In zehn Minuten lief sie den Hügel hinauf und zu einem Seiteneingang in die Universität.

Heute war dieser Weg besonders schön. Bunte Blätter verteilten sich auf dem Weg, das knirschte so schön und erinnerte Hilke an die Spaziergänge mit ihrer Mutter früher. Die Vögel freuten sich über den Sonnentag nach ein paar Herbsttagen und zwitscherten vergnügt. Sie selbst freute sich auf ihr zweites Semester an der Eliteuniversität, das Mini-Harvard am Bodensee, wie es in einer Zeitung gestanden hatte. Ihre Eltern zogen sie immer ein wenig damit auf, wenn sie zu Hause im Allgäu bei ihnen war, aber insgeheim waren sie natürlich sehr stolz auf sie. Hilke Schmid, Studentin an der Exzellenzuniversität Konstanz.

Ihre Mutter hatte schon in Konstanz studiert, aber damals war es noch keine sogenannte Exzellenzuniversität, erst 2007 trat die Universität Konstanz in diesen Rang und behauptete ihn seitdem konsequent. Ihr erstes Semester Psychologie, Philosophie und Rechtswissenschaften hatte Hilke mit Bravour gemeistert, das zweite stand unmittelbar bevor, ihre Seminararbeiten waren abgeschlossen, heute wollte sie einfach so in der Bibliothek stöbern.

Es war ein besonderer Tag. Sie hatte Geburtstag. Ihre Eltern wollten am Nachmittag vorbeikommen, am Abend würden sie essen gehen mit einer Freundin, die tagsüber in einem Seminar über Tatortanalyse sitzen würde. Hilke hatte sich das auch überlegt, war sicher spannend, aber einen Tag einfach tun zu können, was man wollte, war auch mal schön. Hilke lachte vergnügt vor sich hin. All ihre Zweifel der letzten Wochen, ob Psychologie auf Dauer das richtige Fach für sie sein würde, waren wie weggeblasen. Irgendwie hatte sie bei der Seminararbeit diesbezüglich einen Einbruch erlitten. Was aber sicher auch daran lag, dass das erste Semester mit diesen drei unterschiedlichen Fächern ausgesprochen vollgepackt gewesen war. Aber das war nun ausgestanden.

Wie vermutlich alle Studierenden hatte auch sie mit ihrer Freundin und zwei weiteren Kommilitonen den Plan gefasst, einmal in der Bibliothek zu übernachten, denn diese war rund um die Uhr geöffnet. Obwohl also diese Möglichkeit im Raum stand und von vielen auch genutzt wurde, mutete es für die Neuanfänger immer wie ein Abenteuer an. Bislang hatten sie es noch nicht auf die Reihe bekommen, einmal waren sie bis zwei Uhr tatsächlich am Arbeiten gewesen, aber Hilke hatte dann festgestellt, dass sich die Freigeiststimmung, die sie erwartet hatte, mit zunehmender Müdigkeit verabschiedete.

Auf halber Strecke hielt sie an, weil ihr Telefon klingelte. Ihre Mutter. Noch einmal. Hilke lächelte. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter fehlte. Ihre Mutter fragte zum zweiten Mal an diesem Tag, ob sie nicht doch noch etwas Besonderes einkaufen und mitbringen solle.

Hilke ergriff die Gelegenheit und blickte auf den Bodensee hinab. Vor der Mainau lag bereits eine große Fähre. Später würde sie rüber nach Meersburg fahren. Der See glitzerte in der aufgehenden Sonne. Im nächsten Sommer wollte sie unbedingt den von der Universität angebotenen Segelschein machen, der theoretische Teil würde jetzt schon im Wintersemester beginnen. Das bedeutete zwar, dass sie noch mehr lernen musste, aber das war es ihr wert.

Auf dem kleinen Parkplatz neben ihr sah sie ein ausrangiertes Militärfahrzeug. Und wunderte sich. Weshalb wollte jemand ein Auto fahren, das an den Krieg erinnerte? Psychologisch war das … Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Das war sicher die typische Anfängerreaktion: alles in die eigene Wissenschaft einzuordnen. Ich bin jetzt schon eine Fachidiotin, lachte sie sich aus und verdrängte den Gedanken an Menschen, die die Erinnerung an den Krieg mit Militär-Devotionalien aufrechterhielten. Einen Uropa mit Kriegsvergangenheit, womöglich noch einer SS-Geschichte, mit Waffen oder Helmen oder Uniformen im Keller, mit geschwellter Brust, wenn er von den gefallenen Kameraden sprach, hatte sie Gott sei Dank nicht, stattdessen jedoch Vorfahren, die in dem Konzentrationslager von Dachau gestorben waren.

Vielleicht hatte sie deswegen unbedingt Psychologie studieren wollen – um herauszufinden, ob Erinnerungen sich womöglich vererben, ob sie sich in das Gedächtnis einprägen. Und, falls ja, wie. Für Hilke war die Beschäftigung mit der Vergangenheit wie ein Abenteuer. Dass dieses bisweilen gefährlich nah an die Gegenwart rückte in letzter Zeit, verdrängte sie meist in eine gut verborgene Schublade.

Still schweigt der See

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