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8 Uhr bis 9 Uhr

Enzigs Hände hinterließen auf dem Rednerpult einen dunklen Fleck. Auch nach all den Jahren konnte er seine Nervosität nicht ablegen, wenn er vor Menschen sprechen musste. Selbst während der Zeit an der Universität Liverpool hatte er darin keine Routine gewonnen. Gerade wunderte er sich selbst, dass er diesen Auftrag von der Uni Konstanz angenommen hatte. Aber Nein sagen konnte er eben auch nicht sonderlich gut. Ein Dilemma. Enzig rieb seine Hände. Auf dem Tisch neben ihm stand eine Thermoskanne mit Tee, die Anna ihm mitgegeben hatte. Davor ein Becher, von dem sich der Duft von Orange und Zimt schleichend ausbreitete. Vor ihm sammelten sich die Studenten in den in einem halben Sechseck angeordneten Sitzreihen im Audimax, das Platz für rund siebenhundert Menschen bot. Der Hörsaal war eigentlich zu groß, aber alles andere nicht verfügbar.

Enzig rückte seine Brille zurecht, schielte auf die Zettel und den dunklen Fleck daneben, rieb seine Finger aneinander und hätte am liebsten zu dem Taschentuch in seiner Jacke gegriffen, um sich die Hände zu trocknen, wohl wissend, dass es nichts bringen würde. Noch einmal kontrollierte er sein Smartphone, das auf dem Tisch bei dem Tee stand. Auf dem Display erschien ein Herz von Anna. Ein flüchtiges Lächeln legte sich auf seine Lippen, dann stellte er noch sein Dienst-Smartphone auf lautlos und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Mit seinem Blick folgte er den roten Stangen der Stahlkonstruktion an der Decke. Gepaart mit den roten Türen gaben sie dem Hörsaal etwas Kühl-Kühnes, Industrial Design, ungemütlich, aber vermutlich den Geist anregend.

Rund fünfzig Menschen hatten sich eingefunden. Die Uhr zeigte acht Uhr fünfzehn. In einer der hinteren Reihen fiel Enzig ein älterer, sehr distinguiert wirkender Herr auf, um den Hals ein Tuch, eine Weste über dem hellblauen Hemd, der Schnauzer sehr gepflegt, und sogar auf die Ferne war die Hochwertigkeit seiner randlosen Brille für Enzig erkennbar. Vielleicht auch eingebildet, weil sie sich so besser ins Gesamtbild fügte.

Für einen Moment glaubte er, den Mann schon einmal gesehen zu haben, doch dann verschwand das kurze Bild der Erinnerung in dem Nebel, der sich in seinem Kopf ausbreitete. Dabei sollte da doch eigentlich der einstudierte Vortrag sein.

Der ältere Herr nickte ihm flüchtig zu. Vielleicht doch ein Kollege, überlegte Enzig und erwiderte das Nicken. Der Hauch von Konspiration lag in der Luft, und Enzig wischte das merkwürdige Gefühl rasch beiseite. Schließlich wurde es still, die Türen schlossen sich. Enzig räusperte sich, trat an sein Rednerpult, stützte sich ab.

»Ein Tatort ist immer ein Raum, den es zu entdecken gilt. Wir müssen uns auf eine Suche begeben, die Grenzen finden, die Grenzen, die einen Ort zu einem Tatort werden ließen, ihn zum auserwählten Ort gemacht haben. Es war der Raum des Täters für eine bestimmte Zeit.«

Enzig erinnerte sich gut an Sitos Worte, als sie einander gerade kennengelernt hatten. Sitos philosophische Herangehensweise an die Tatortbegehung hatte ihn fasziniert, und er hoffte, diese Faszination nun in seinen Vortrag integrieren und vor allem auf seine Zuhörer übertragen zu können.

Plötzlich wurde die Tür geräuschvoll aufgestoßen, und alle drehten sich um. Miriam kam herein, hob entschuldigend die Hand, sah Enzig strahlend an und setzte sich in die erste Reihe.

»Entschuldigung«, sagte sie laut, machte eine lässige Handbewegung und fügte hinzu: »Einfach weitermachen.« Sie grinste Enzig zu.

Einige lachten, und die nächsten zehn Minuten fielen Enzig erstaunlich leicht. Er erzählte von dem ersten Betreten eines Tatortes, dem Versuch eines Profilers oder der Fallanalytiker, in diesen Raum einzutauchen, wenn man ihn denn gefunden hatte, und im besten Fall noch etwas von der dortigen Atmosphäre, der Stimmung aufzunehmen. Nicht immer einfach sei das, meist sogar regelrecht –

Weiter kam er nicht. Wieder wurden die Türen aufgestoßen, dieses Mal an beiden Seiten des Auditoriums, und mehrere Männer kamen herein. Sie riefen etwas in barschem Tonfall, das nahm Enzig wahr, noch bevor er sah, dass die Männer allesamt in Uniform und mit Sturmmasken über dem Gesicht bekleidet waren. »Aufstehen!«, schrien die beiden vordersten. »Alle aufstehen!« Tumult, Taschen fielen zu Boden, Schreie.

»Schnauze«, »Du da, sofort hoch mit dir«, »Und keiner fasst sein Handy an, sonst ist er tot.«

Enzig stand bewegungslos auf der Bühne, suchte Blickkontakt mit Miriam, konnte sehen, dass die Studenten sich zwischen den Sitzreihen aneinanderzwängten, hörte einen Schuss. Er zuckte zusammen, drehte langsam den Kopf nach rechts, sah, dass einer der Bewaffneten sein Gewehr nach oben hielt – der Schuss war in die Decke gegangen, eine deutliche Warnung. In Windeseile versuchte Enzig, die Situation zu erfassen. Sechs Männer, alle mit Sturmgewehren.

»He, du da.« Ein Gewehr berührte Enzig an der Schulter.

Enzig trat einen Schritt von dem Pult zurück, seine Knie zitterten. Die Männer wirkten entschlossen, ein Anführer war auf die Schnelle nicht auszumachen. Sie waren von kräftiger Statur, allesamt. Vor ihm etwa fünfzig Studenten. Unterdrücktes Schluchzen, Miriam hatte das Mädchen neben sich im Arm. Für einen Bruchteil staunte Enzig über Miriams Kraft trotz ihrer eigenen Vergangenheit, obwohl, schalt er sich, vielleicht kam die Kraft gerade daher. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Eindrücke sammeln, von den Geiselnehmern, Verhalten, Strukturen, Schwächen, Merkmale. Dann die Opfer: Welche waren besonders gefährdet, welche konnten zur Bedrohung werden? Die ersten Minuten entschieden so vieles. Jetzt positionierte man sich, jetzt verrieten sich noch Muster, die später unter dem steigenden Druck nicht mehr klar erkennbar waren. So gab es verschiedene Schutzmechanismen aufseiten der Opfer, um die Situation zu erfassen und zu verarbeiten, manche überfiel die Panik, andere flohen in eine –

»Los, stell dich ans Pult und lies.«

Enzig zuckte zusammen. Der Mann, dessen Stimme blechern klang, rempelte ihn an und reichte ihm ein Papier. Enzig rückte seine Brille zurecht. Sein Hals war trocken. Er räusperte sich. In den Duft nach Orangentee mit Zimt mischte sich kalter Zigarettenrauch. Der Mann neben ihm hustete, jetzt roch es auch nach Kaffee und Nebel. Enzig beugte sich zu seinem Mikrofon und überflog die Zeilen.

Bemüht um einen ruhigen Tonfall, begann er zu lesen.

»Ihr werdet gleich auf Kommando«, Enzig räusperte sich, »langsam und nacheinander hier nach unten kommen. Eure Taschen nehmt ihr mit. Verhal…haltet euch so ruhig wie möglich, andernfalls schießen wir.«

Er hielt inne. Er hatte das Gefühl, dass jeder Ton in seinem Hals hängen bleiben wollte, als hätte er kleine Widerhaken.

»Und haltet eure Hände so, dass wir sie sehen können, und versucht keine krummen Touren. Es läuft ab jetzt alles genau so, wie wir das wollen. Wer sich widersetzt, wird … erschossen.«

Zweimal verhaspelte er sich, benötigte eine Pause, weil er sich mit dem Atmen verschätzt hatte. Er glaubte, man könnte sein Herz pochen hören. Manchmal reagierte der Schutzmechanismus des Gehirns auf einen Schock, dann nahm man plötzlich etwas ganz Nebensächliches wahr, etwa eine kleine Büroklammer, die frech und rot auf einem Schreibtisch lag. Enzig bildete sich auf einmal ein, die Vanillekipferl von Anna zu riechen.

»Eure Ta… Taschen gebt ihr … gebt ihr an der Seite ab, eure Smartphones kommen in den Sack. Wer sich wider… widersetzt, wird erschossen.«

»Anschließend setzt ihr euch hier unten hin. Es wird nicht gesprochen. Wer redet, wird erschossen.«

Der Mann drängte Enzig zur Seite, griff nach dem Smartphone auf dem Tisch und stieß dabei die Thermoskanne um. Die dampfende rote Flüssigkeit breitete sich über Enzigs Unterlagen aus, färbte sie blutrot. Enzigs Augen blieben für einen Moment daran hängen, Erinnerungen rasten durch seinen Kopf. Analysieren, sagte er sich, objektiv und mit Sachkenntnis. Er war hier der Profiler, der Polizist. Er musste für Kontrolle und Ordnung sorgen.

»Verhaltet euch alle ruhig«, rief er seinen Studenten zu. »Wir werden diese Situation …« Der Gewehrknauf landete auf seinem Kinn, und Enzig fiel zu Boden.

***

Auf dem Fahrradweg von Egg nach Konstanz traf Sito keinen einzigen Menschen. Gerade als er sich darüber wundern wollte, klingelte am Stadtrand von Konstanz sein Handy. Er hielt auf dem Parkplatz eines kleinen Blumenladens. Karl Zimmermann, der für Internetkriminalität zuständig war, war am Apparat. Das war eigentlich nicht die Zeit des Kollegen, der gern nachts im Büro war.

»Karl, so früh schon bei der Arbeit?«, fragte Sito erstaunt und betrachtete die Auslage in dem Geschäft. Überall Vorschläge für eine schöne Herbstdeko – Pilze aus Holz, Hirsche aus Porzellan, Kränze mit diesen orangen Lampenschirmen, die Miriam im Garten sammeln würde, und Kürbisse. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die Jahreszeiten im Kopf anfingen.

»Noch, Paul, ich bin noch bei der Arbeit. Ich hab hier was, das gefällt mir nicht«, sagte Zimmermann. »Ich plädiere für eine außerordentliche Sitzung …«

»Ist gut«, sagte Sito. »Ich komme gleich bei dir vorbei.«

Wenig später stellte Sito sein Rad in den Fahrradständer vor dem Präsidium am Benediktinerplatz und betrachtete den vollen Mülleimer an der Ecke. Wie kamen die Bierflaschen hierher? Auch das Graffitizeichen an der Blechumrandung war neu. Er konnte das Zeichen nicht entziffern, vermutete aber einen Zusammenhang zu den beiden Flaschen in der Tonne.

»Guten Morgen.« Marc Busch schwang sich ebenfalls vom Fahrrad. »Endlich wieder Sonne. Ich dachte, der Nebel holt uns dieses Jahr noch früher ein. Wie geht’s daheim?«

Sito nickte. »Schickes Rad. Neu?«

Busch, der augenscheinlich daran gewöhnt war, dass Sito wenig Privates von sich gab, bejahte nicht ohne Stolz. »Aber nicht freiwillig. Mein altes wurde mir geklaut.« Er sperrte sein Rad zweimal ab, dann stellte er sich neben Sito und blickte zum Mülleimer hin. »Merkwürdig.«

»Liegt heute etwas an?«, fragte Sito seinen langjährigen Partner.

Busch zuckte die Schultern. »Das Übliche. Die Fridays-for-Future-Demo und ihre Gegner, also Hoffnung und Engagement auf der einen Seite und Ignoranz und Borniertheit auf der anderen. Ich kenn mich da langsam nicht mehr aus mit den Menschen.«

Sito schluckte. Es passte zu seinen Gedanken am Morgen, zu jenen, die ihn mit Albinonis Adagio schleichend heimgesucht hatten. Der Großteil der Menschen wehrte sich mit aller Macht gegen die notwendige Veränderung, zu lange verwöhnt vom technischen Fortschritt, angetrieben von der Sucht nach Optimierung und Bequemlichkeit.

»Ich glaube, das gibt noch mal ein ganz böses Erwachen«, murmelte Busch und wandte sich dem Haupteingang zu. »Komm, wir schauen mal nach Roman. Der ist doch bestimmt …« Er hielt inne. »Ach, der hat heute ja seinen Vortrag an der Uni.«

»Ja, hat er, und Anna wird froh sein, wenn das abgeschlossen ist.« Sie mussten beide lachen. »Ach, Karl hat mich eben angerufen. Er bat um ein Treffen. Irgendetwas muss passiert sein im Netz. Es klang dringlich.«

»Ja, ich weiß, wir können gleich zusammen zu ihm.«

Als sie wenig später den Aufzug betraten, gesellte sich im letzten Moment noch ihre Sekretärin Rosa Eckert dazu.

»Guten Morgen, Herr Dienststellenleiter«, sagte sie und zwinkerte Sito zu. »Zur Feier des Tages haben wir noch mal Sommer. Ich sag Ihnen, wir sind die letzten Tage schon wieder in den Graumodus verfallen in Gaienhofen drüben.«

»Drüben?«, hakte Busch nach.

Rosa lachte. »Wie soll ich sagen? Hinterm See gleich links?«

Busch hob die Hand in die Höhe. »Also ich würde ja drunten sagen, so vom Gefühl her, weil ihr ja im Süden –« Er wandte sich an Sito. »Was meinst du, Paul?«

Sito schüttelte grinsend den Kopf. »So viel Philosophisches am Morgen überfordert mich.«

»Himmel«, Busch schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Paul, das hab ich glatt vergessen. Gratuliere. Dienststellenleiter, wurde auch Zeit.«

Sito nickte. »Es ändert nichts. Bloß nicht, bitte.«

»Nein, nein, keine Sorge«, lachte Rosa und legte Sito eine Hand auf den Arm. »Ich bin und bleibe die Dienstälteste und schmeiße den Laden. Apropos, ich bin bei den Demos heute wieder dabei, das geht doch in Ordnung, oder?«

Sito nickte und schob seine Hände in die Jackentaschen. Plötzlich legten sich seine Finger um die Tüte, in der sich die blaue Schleife befand. Er zog sie heraus und hielt sie in die Runde. »Könnt ihr damit irgendetwas anfangen?«

»Eine blaue Schleife«, kommentierte Busch.

Rosa hob fragend die Hände.

»Zeus hat sie gefunden. Sie war an einen Ast im Wald gebunden, kurz vor der Mainau.«

Sie erreichten den zweiten Stock und gingen jeweils zu ihren Zimmern. Sitos Raum lag am weitesten entfernt. Auf dem Weg nahm er sich einen Kaffee aus einem der Automaten mit, die eigentlich nur noch der Nostalgie wegen dort standen, längst gab es in den Büros Kaffeemaschinen und auf jeder Etage eine Küche. Er dachte an Zeus und Streuner, die zu Hause vermutlich gerade heimlich aufs Sofa sprangen. Jeden Abend konnte Sito die Spuren sehen, erwischt hatte er noch keinen der beiden auf dem Sofa. Anscheinend hatte Zeus dem Neuen die Spielregeln deutlich eingeschärft.

Ein Lächeln legte sich auf Sitos Lippen, verblasste aber schnell, als er an den bevorstehenden Prozess wegen des ehemaligen Besitzers von Streuner vor dem Landgericht in Konstanz dachte. Bei dieser Gelegenheit würde er auch seinen Kollegen Heinrich Wint wiedersehen. Auf diese Begegnung indessen freute er sich.

Auf seinem Schreibtisch lagen zwei Glückwunschkarten anlässlich seiner Ernennung zum Dienststellenleiter. Sito schob sie zur Seite. In der rechten Schreibtischecke lagen wie immer zwei Steine, daneben ein Foto von Miriam.

Um acht Uhr siebenunddreißig sah Sito auf die Uhr. Es würde das letzte Mal an diesem Tag sein, dass es beiläufig geschah.

Wenige Minuten später wurde seine Tür aufgestoßen, und Busch kam hereingestürmt. »Fahr deinen Computer hoch«, rief er, kam direkt auf Sitos Seite des Tisches und stützte sich auf seinen Stuhl. Seine Stimme klang derart alarmiert, dass Sito nichts fragte, sondern einfach nur auf das Erscheinen des Startbildschirms wartete.

Auf der Facebook-Seite der Stadt hatten Unbekannte ein Video hochgeladen, darin verkündeten zwei bewaffnete und maskierte Männer, dass sie soeben das Audimax der Universität Konstanz eingenommen und Geiseln genommen hätten. Zehn Sekunden. Sito sah nach oben zu Busch.

»Ist das echt? Wann kam das rein? Haben wir sonst eine Meldung?«

In diesem Moment ging die Tür ein weiteres Mal stürmisch auf, und Rosa Eckert kam herein. »Da ist ein Video auf der Stadtseite, das –«

»Wir haben es gesehen«, erklärte Sito. »Ruf in der Uni an, vielleicht ist das ein schlechter Scherz.«

Keine zwei Minuten später kam Rosa Eckert mit der Bestätigung, dass es kein schlechter Scherz sei.

»Ist im Audimax nicht Enzig?«, fragte Busch.

Sito sah erschrocken zur Seite. »Ist das sicher?« Er sah zu Rosa, die sogleich das Zimmer verließ.

»Wenn Enzig unter den Geiseln ist, dann kann das auch ein Vorteil für uns sein«, sagte Busch leise.

»Je nachdem, was die wollen.« In Sito lief ein ganzer Film ab, was jetzt zu geschehen hatte. »Marc, stell eine Sonderkommission zusammen. Treffen im Konferenzzimmer in«, er sah auf seine Armbanduhr, »fünfzehn Minuten ab genau jetzt.«

Sito stellte sich den Wecker. Er wusste, wie wichtig es war, jetzt schnell zu sein und die wichtigsten Dinge zu koordinieren. »Wir werden Einsatzkräfte brauchen, die in Zivil an die Uni fahren. Wer weiß, wie die sich dort positioniert haben. Wir brauchen sofort ein Netzwerk für Informationen. Suche Kontaktpersonen, die uns im Augenblick etwas über die Situation in der Uni sagen können. Ich telefoniere mit dem Bürgermeister und dem Staatsanwalt. Wir müssen das Landeskriminalamt in Stuttgart informieren und das SEK anfordern. Ich ruf beim Polizeipräsidium Einsatz in Göppingen an –« Er hielt inne. »Wie viele Kräfte sind für die Kundgebung heute Mittag eingesetzt?«

Busch schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Himmel, das ist auch heute, verdammt. Wir müssen uns zweiteilen.«

»Stimmt, also gleich auch das MEK. Und Marc, zur Sicherheit, kontaktiere Zimmermann. Er soll sofort die Foren der Klimaschutzgegner durchforsten. Zwei solche Ereignisse an einem Tag, wir müssen gewappnet sein. Man kann nie wissen.«

***

Egal, wie sehr er sich auch um Fassung bemühte, immer wieder schweiften seine Gedanken ab, suchten nach einem Halt in dieser absurden Situation. Der Raum, der Tatraum, weshalb hier? Weshalb er? Und Miriam? Er sah sich um. Was passierte hier? Enzig rieb seine Hände aneinander. Er schwitzte. Konzentrier dich, sagte er sich. Und: Stell dir eine Befragung vor. Wie viele Geiselnehmer?

Enzig ließ seine Augen im Raum hin und her wandern. Sechs Männer in Uniform. Okay, weiter, sagte er sich. Welche Waffen? Er fokussierte sich auf die Täter, stellte sich seine weiße Tafel vor, machte sich in Gedanken Notizen zu Größe und Gang und Geruch. Gerade wurden die Handys eingesammelt. Miriam stützte noch immer das Mädchen neben sich und half ihr gerade mit der Handtasche, weil diese sie mit ihren zitternden Händen nicht öffnen konnte. Sekunden später ließ Miriam das Smartphone in den bereitgehaltenen Sack fallen.

Ihre Blicke trafen sich für einen verschwörerischen Moment, der Mutzuspruch beinhaltete und gleichzeitig das Versprechen, gemeinsam eine Lösung zu finden. Kaum merklich nickte Enzig ihr zu, dann schielte er zu seiner Jacke, die noch immer über dem Stuhl hing. Wieder überkam ihn das Bedürfnis, seine Hände trocken zu reiben. Jetzt lief der Mann mit dem Sack auf den Schreibtisch zu, blätterte in den Unterlagen, spähte in die Aktentasche, die Enzig auf den Stuhl gestellt hatte, dann trat er ans Rednerpult.

Enzig hielt den Atem an. Wenn er die Jacke nicht kontrollieren würde, hätte er ein funktionierendes Smartphone. Der Mann am Rednerpult lachte kurz auf. Enzig durchfuhr ein eisiger Schreck – was, wenn sie gleich merkten, dass er von der Polizei war? Früher oder später würde es herauskommen, das wusste er, aber vorerst konnte er darauf verzichten. Seine Hände zitterten. Im Augenwinkel sah er, dass auch Miriam den Atem anhielt.

Der Mann am Rednerpult zögerte, betrachtete den ausgelaufenen Tee, fächerte sich das Aroma zu, grinste. Enzig hatte wieder den Duft nach Vanillekipferl in der Nase. Endlich trat der Mann von dem Pult weg, ging stattdessen allerdings zu dem Stuhl, wo Enzigs Jacke hing. Enzig spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Nicht nur die Angst, diesen Zugriff zur Außenwelt zu verlieren, auch die Tatsache, dass er vor nur wenigen Minuten sein anderes Smartphone abgegeben hatte und ihn das Verschweigen des zweiten sicher in Misskredit bei den Geiselnehmern brächte, ließ ihn innerlich beben. Bitte nicht, flehte er, bitte greife nicht in die Innentasche. Er atmete flach, sein Kinn schmerzte. Er sah zu Miriam hin und erkannte, dass auch ihr Blick gebannt den Mann verfolgte, der gerade Enzigs Jacke hochhob. Wusste sie von dem zweiten Smartphone? Hoffte sie darauf, weil Sito ja sicher auch zwei hatte?

Der Mann drehte die Jacke in seiner Hand. Die Sekunden zogen sich wie klebriger Honig. Spürte er das Gewicht des Smartphones? Dann plötzlich ein Ruf von der Seite. Ein zweiter Geiselnehmer hatte Probleme mit zwei Studenten. Sie hatten versucht, ihn zu überrumpeln. Wie töricht, dachte Enzig, was soll das für ein Plan sein, wenn sechs bewaffnete Männer in einem Raum sind? Die Gänge zwischen den Stuhlreihen viel zu eng für einen Kampf, Treppen, steile Gänge zudem, unverrückbare Tische im Weg, keine Fluchtwege …

Es folgten weitere Schreie, gleichzeitig fiel etwas scheppernd zu Boden. Sofort ließ der Mann neben Enzig die Jacke wieder über die Stuhllehne sinken und rannte zu seinem Kollegen. Die anderen wurden unruhig, manche hielten sich die Hände über den Kopf, duckten sich auf den Boden, Schläge, Weinen.

Blitzschnell ließ Enzig seinen Blick durch den Raum schweifen. Zwei Männer standen an den Eingängen, einer sprach über ein Funkgerät und hatte sich abgewandt, einer war mit dem Einsammeln der Taschen und Mobiltelefone beschäftigt, die übrigen damit, aufmüpfige Studenten mit wenigen Schlägen zu Boden zu werfen. Tumult in dieser Ecke, Wutschreie.

Enzig spürte Schweißperlen auf seiner Stirn, seine Finger kribbelten. Er saß bereits, hinter sich die große Leinwand, auf der er später Bilder aus seinem Vortrag gezeigt hätte. Zwei Meter lagen zwischen seiner Position auf dem Boden und dem Stuhl mit seiner Jacke. Noch einmal rundum die Augen, noch einmal Luft holen, ein kurzer Blick zu Miriam, die gerade bei ihm ankam, dann bewegte er sich in der Hocke zu seiner Jacke, griff in die Innentasche und holte das Smartphone heraus. Sekunden später saß er wieder auf seinem Platz.

Außer Miriam hatten es vielleicht noch eine Handvoll Studenten mitbekommen. Hoffnungsvolle Blicke, gehauchtes Staunen. Enzig wusste, dass von jetzt an diese Hoffnungen alle auf ihm ruhten. Ein wenig entfernt saß der ältere Herr, den er noch immer zu kennen glaubte. Er schien abwesend, als gehörte er nicht dazu. Das beunruhigte Enzig.

Das Smartphone ruhte in seiner Hosentasche. Enzig musste einkalkulieren, dass er vielleicht nur wenige Nachrichten nach außen schicken konnte, bevor er entdeckt wurde. Was dann passierte, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Aber er war Polizist, sagte er sich, er war nicht länger der Hasenfuß Dr. Enzig, der nur am Schreibtisch brillant war. Er musste dieses Risiko eingehen. Ein Name, er musste einen Namen herausfinden. Später dann den Standort der Geiselnehmer übermitteln, vielleicht sogar mit einem Foto, den Drahtzieher, die Schwachstellen. So vieles konnte für die Ermittler draußen von Bedeutung sein. Erst einmal ein Name, ein Name war ein Türöffner zu dem Menschen hinter der Maske.

***

Der Einsatzbefehl kam um Viertel vor neun. Konstantin Hagen hatte die Zahnbürste im Mund, weil er eigentlich heute Vormittag freihaben sollte. Das hatte er bei seiner Berufswahl nicht berücksichtigt: dass der Dienst in der Spezialeinheit und die dazugehörige Rufbereitschaft jegliches Privatleben auf eine sehr harte Probe stellten, wenn nicht gar unmöglich machten. Er war Anfang zwanzig gewesen, als er sich dazu entschlossen hatte, mittlerweile war er seit zehn Jahren dabei und hatte mehrere hundert Einsätze pro Jahr zu absolvieren. Seine Kollegen in Nordrhein-Westfalen kamen auf neunhundert Einsätze pro Jahr. Er bereute es nicht, immerhin gehörte er zum SEK Baden-Württemberg, das neben der GSG 9 der Bundespolizei als einziges deutsches SEK zum Atlas-Verbund europäischer Spezialeinheiten zählte. Das zeigte sich nicht zuletzt durch ihre Erfolge bei dem internationalen Wettbewerb, der Combat Team Conference, die sein Göppinger Team schon dreimal gewinnen konnte. Erzählen konnte er leider niemandem davon, denn als Spezialkräfte der Polizei blieben ihre Identitäten verdeckt. Sie hatten einfach eine Kennziffer, seine lautete 349.

Geiselnahme an der Universität Konstanz. Alle verfügbaren Kräfte aus Göppingen und das MEK aus Freiburg waren bestellt. Anreise sofort, in voller Montur. Schwer bewaffnete Geiselnehmer. Erhöhtes Risikopotenzial durch die anstehende Demonstration der FFF. Kollegen vom MEK waren bereits vor Ort zum Personenschutz, das wusste Konstantin. Personenschützer würde er vielleicht auch einmal werden. Später. Zehn Jahre würde er noch im Dienst sein, zehn Jahre, dann war er fünfundvierzig und somit im SEK-Rentenalter.

Er stellte die Zahnbürste in den Becher, und Minuten später stand er in voller Montur auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums in Göppingen und begrüßte seine Kollegen. Seiner Freundin schrieb er, dass er kurzfristig zu einem Geschäftstermin musste, er würde sich am nächsten Tag melden. Schon oft hatte er diese Floskel einfach so geschrieben und dabei wohl gewusst, dass es vielleicht keinen nächsten Tag geben würde. Bei der Ausbildung hatten sie nicht nur gelernt, mit Waffen umzugehen, und sich außerordentliche körperliche Fitness antrainiert. Sie mussten zudem gut mit Stress umgehen können und mit der Tatsache, dass sie immer Gefahr liefen, selbst verletzt oder gar getötet zu werden. Das geschah glücklicherweise wesentlich seltener, als Krimis im Fernsehen dies vermuten ließen, aber die Gefahr bestand und wuchs in den letzten Jahren, weil auch die Verbrecherseite immer besser ausgerüstet war. Entsprechend gab es zunehmend Beschwerden von Polizisten und SEK-Leuten, technisch nicht mehr mit ihren Gegnern mithalten zu können.

Konstantin und die anderen SEK-Mitglieder bestiegen die Einsatzfahrzeuge. Insgesamt würden sie mit vier Wagen unterwegs sein, davon war einer die technische Zentrale, in ihm fuhr auch der Chef des heutigen Einsatzes, Georg Moller, mit. Konstantin setzte sich, die Sturmhaube und den kugelsicheren Helm auf dem Schoß. Ein Kollege berichtete alle Fakten und erklärte die Lage in der Universität, mit Betonung auf den Schwierigkeiten, die der Einsatz mit sich bringen würde.

Das Klickholster drückte ihm in die Seite, Konstantin versuchte, eine andere Position zu finden. Bei der letzten Geiselnahme hatte es einen Toten gegeben. Er erinnerte sich noch gut an den Geiselnehmer, der sich in dem Mehrfamilienhaus verschanzt hatte, weil er dem Gerichtsvollzieher nicht aufmachen wollte. Welch unwürdige Situation. Keiner wollte schießen, aber der Mann war so verzweifelt, dass er mit dem Messer auf einen Kollegen losgegangen war. Als man ihn überwältigte, war er gestürzt und auf dem Couchtisch gelandet.

Konstanz. Zuletzt war er dort mit seiner Schwester gewesen. Im Sommer bei einer Taufe. Konstantin atmete laut aus.

»Alles klar?«, fragte sein Nebenmann Markus Welser und bot ihm einen Kaugummi an.

Konstantin nickte. »Hab grad an Konstanz gedacht. Ich war schon mal dort. Du auch?«

Seine Schwester hatte am Hafen die Enten gefüttert. Sie hatten nach der Taufe noch zwei Tage angehängt. Schön war das, mal wieder mit der Schwester zu verreisen, abends in eine Bar im Hafenareal zu gehen, die eine Außenterrasse mit Blick über den Bodensee in Richtung Schweiz hatte. Dort in Kreuzlingen wollte die Schwester am nächsten Tag noch Schokolade kaufen für die Eltern. An dem kleinen Grenzübergang war vor einigen Jahren ein Grenzbeamter erschossen worden – mitten in dieser Idylle zwischen zwei Gemeinden, die sich im Krieg gegenseitig geholfen hatten. Eigentlich gehörten sie hier zusammen, eigentlich gab es hier keine Grenze. Konstanz und Kreuzlingen und der See und das Seenachtfest mit dem großen Feuerwerk. Konstantin sah schnippende Finger vor seiner Nase.

»Hey, Kumpel, träumst du?«

Konstantin lachte. »War echt schön dort«, sagte er und rieb sich über die Nase. »Also? Schon mal da gewesen?«

»Klar, Mann, ich hab da studiert«, sagte Markus und wedelte mit dem Kaugummi vor Konstantins Gesicht.

Konstantin lächelte und schob sich den Kaugummi in den Mund. Er schmeckte nach Zucker und Minze und nach zu viel von beidem. »Schöne Scheiße. Eine Geiselnahme an der Uni«, murmelte er. »Und die Demo. Das MEK ist auch schon unterwegs. Wir haben heut das volle Programm.«

»Hab ich gehört.« Markus lockerte die Klettverschlüsse seiner Jacke. »Wird ein großes Ding heute.« Er klopfte Konstantin auf die Schulter. »Aber wie immer werden wir das hinbekommen. Wirst sehen. Heute Abend sind wir wieder daheim.«

Konstantin nickte dankbar. Sie waren eine eingeschworene Gemeinde beim SEK in Göppingen, sie mussten sich aufeinander verlassen können, einander Mut zusprechen. Er konnte das gut, aber heute, da hatte er ein ganz mieses Gefühl.

***

Das Tuch an seinem Hals kratzte, und er verspürte Durst. Seit die Männer den Hörsaal A 600 gestürmt hatten, drückte sein Magen unangenehm. Ob es Hunger war? Er hatte nichts angerührt am Morgen. Sabine würde sich wundern, wenn sie denn mal aufstand. Er krümmte sich leicht unter einem weiteren Magenkrampf zusammen. Manchmal hatte er sich kurz vor einem unerfreulichen Urteil so gefühlt. Und neulich war der Krampf gekommen, als er von der Vergewaltigungsserie gelesen hatte. Ein viertes Opfer. Und dann waren sie wieder da, die böse Erinnerung und das schlechte Gewissen.

Der Hörsaal kam ihm plötzlich sehr warm vor. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er sah ein Schachspiel vor sich, einen Turm, der im Mondlicht ins Wanken geriet. Er sah den Schattenwurf des Königs auf den schwarzen und weißen Feldern. Eine Dame setzte sich wie von Geisterhand in Bewegung und kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Er zuckte zusammen und rieb sich unwillkürlich die Augen.

Ich muss die Nerven behalten. Ich bin kein unbeweglicher König, keine Figur in einem Schachspiel.

Bei der Urteilsverkündung blieb alles an den Richtern hängen, früher an ihm, egal, wie offensichtlich er lediglich der Überbringer der Botschaft gewesen war, die letztendlich nur auf den zuvor von den Ermittlern erworbenen Fakten basieren durfte. Bei den Menschen blieb nur der Richterspruch in Erinnerung. Sie überlegten nicht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft im Vorfeld gearbeitet hatten. Bei jener Vergewaltigungsserie, die Konstanz seit über einem Jahr in Atem hielt, war es bislang noch nicht einmal zu einer Anklage gekommen.

Er wusste selbst nicht, was an jenem Tag in ihm passiert war, vielleicht war es das Zusammentreffen der persönlichen Frustration und der Unfähigkeit, eine solche Niederlage hinzunehmen. Vielleicht hatte er auch in diesem Moment zu seiner Frau auf der anderen Seite des Tisches gesehen und sich gefragt, wer dieser Mensch noch war außer der Hülle eines vergangenen Glücks. Vielleicht, und das erschien ihm im Moment das Naheliegendste, konnte er Ungerechtigkeit einfach nicht ertragen, vor allem, wenn sein Gefühl ihm die ganze Zeit einflüsterte, dass er dazu befähigt war, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wenngleich, auch das wusste er, sein Gefühl da durchaus anmaßend war.

Jetzt saß er hier in der Universität und fragte sich, was bewaffnete Männer mit seinem Gerechtigkeitsgefühl zu tun hatten. Sechs Männer mit Maschinengewehren und einem –

Sechs Männer?

Still schweigt der See

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