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Prolog

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Der Turm warf im Kerzenlicht einen kleinen Schatten auf das Brett. Es bedurfte keiner langen Bedenkzeit, in drei Zügen wäre er matt. Im Aschenbecher ruhten Zigarrenstummel, in Gedanken zählte er, doch konnte er sich nicht daran erinnern, sie auch geraucht zu haben. Draußen lag der Bodensee längst im Sterben unter dem Mond.

Seit dem späten Nachmittag suchten sie nach einem Vermissten. Das wusste er, weil er die Boote der Küstenwache gehört hatte, die nah an seinem Seegrundstück vorbeigefahren waren. Viele blieben auf immer im See, über hundert sollten es bereits sein, dabei war der Bodensee gar nicht so groß. Er seufzte. Im Frühling gingen die Leute eigentlich seltener ins Wasser.

Der Schatten flackerte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, als würde dieser Turm dort wanken. Es war die beharrliche Suche nach einem Ausweg – aus dem Spiel, der Umklammerung seines Königs, vielmehr aber aus diesem Leben, das sich nur mehr von einer Gewohnheit zur anderen hangelte.

Die Zigarre seines Freundes glomm auf, das paffende Geräusch legte sich in die Nacht.

»Was ist?«, fragte sein Gegenüber und betrachtete den silbergrauen Ascheberg auf seiner Zigarre.

Er kratzte sich an der Stirn. »Du gewinnst schon wieder.«

Helles Lachen zwischen dem Paffen. »Schon wieder? Ach, mein lieber Freund, in all den Jahren hast du gewiss fünfmal öfter gewonnen als ich. Lass mir die Freude, dass ich jetzt ein wenig aufhole.«

»Wir langweilen uns, hab ich recht?« Er musterte seinen langjährigen Wegbegleiter, der so zufrieden vor ihm saß. Unmut stieg in ihm auf.

»Tun wir das?« Behutsam klopfte der andere die Zigarre auf den Rand der Schale aus rot leuchtendem Muranoglas.

»Mir fehlen die Aufgaben, die Menschen. Das hier«, er fegte mit einer Handbewegung über den Tisch, »hält uns nur am Leben.«

Der andere musterte ihn, dann stand er unvermittelt auf und kam mit zwei Cognacschwenkern zurück. »Ich darf doch?« Er schenkte ein und bewegte sich nach all den Jahren tatsächlich so, als wäre er zu Hause, zumindest im Bibliothekszimmer mit der kleinen Hausbar. »Dir fehlen nicht die Menschen, dir fehlt die Macht, über einen Menschen verfügen zu können.«

»Ich verfüge doch nicht«, antwortete er barsch, dann starrte er auf das Schachspiel, als würde er dort irgendwelche Antworten finden. »Denkst du das von mir?«, fragte er.

»Was denkst du denn selber?« Ein Stück Schokolade verschwand in seinem Mund. Er zerbiss es nicht, sondern ließ es im Mund hin und her wandern.

Er senkte den Blick und ließ den Cognac in seinem Glas kreisen. Er wusste, dass er ihm nicht bekommen würde. »Vielleicht hast du recht. Mir fehlen nicht die Menschen. Ich hatte immer mit verdorbenen Charakteren zu tun.« Er trank mit einem Anflug von Zerstörungswillen. »Mir fehlt es, die verdorbenen Charaktere herauszufiltern. Die Ordnung wiederherzustellen.«

»Du willst wieder am Rad mitdrehen. Mein Freund, ich kann dich gut verstehen. Geh doch endlich in die Politik.«

Sein Gast lachte wieder hell auf, erhob sich und holte den Humidor.

Er bewegt sich hier nicht wie ein Freund, der sich wohlfühlt, dachte er. Er bewegt sich wie jemand, der sich überlegen fühlt. Sein eigener Humidor wurde ihm geöffnet präsentiert.

»Greif zu, mein Freund, das scheint mir eine längere Nacht zu werden.« Sie wählten beide eine Zigarre, benutzten sorgfältig den Cutter und entzündeten die beiden Griffin’s.

»Ach, der arme Teufel dort draußen hat dich bestimmt auf diese trüben Gedanken gebracht, nicht wahr?«

Er versuchte ein Lächeln und nickte. »Das wird es sein.« Sie rauchten eine Weile, plötzlich wurde er unruhig. »Sieh dir das Spiel an. Wir können noch zwanzig Jahre weiterspielen und würden nicht einmal merken, dass es sich wiederholt. Wir bestehen irgendwann nur noch aus diesen Wiederholungen.«

»Ich sagte ja, du brauchst Abwechslung. Komm in die Politik. Da hast du genug Abwechslung. Und Nervenkitzel obendrein.«

Er sah zu seiner Hausbar. Sein Freund hatte sich vorhin bedient, wie an vielen anderen Abenden auch schon, aber heute hatte es ihn das erste Mal gestört. Er spürte, dass er mit den Backenzähnen knirschte. »Glaubst du, wir sind verantwortlich für das, was wir tun?«

Der andere sah überrascht auf: »Natürlich! Was für eine Frage.«

»Auch für das, was andere tun?«

»Ich verstehe nicht. Jeder ist verantwortlich.« Er beugte sich nach vorne. »Du bist heute seltsam. Willst du mir etwas sagen?«

Er zog den Kopf zwischen die Schultern. »Wir sind verantwortlich für das, was wir tun und nicht tun, für das, was passiert, wenn wir tatenlos zusehen, nicht wahr?«

»Himmel, was ist bloß los mit dir heute?« Der andere stand wieder auf und wollte wie selbstverständlich den Cognac holen, doch er hielt ihn am Arm zurück.

»Lass es«, sagte er. In seinem Kopf rasten die Gedanken. »Wollen wir ein Spiel spielen?«, fragte er.

»Willst du dieses hier aufgeben?«

Er lachte und wischte abwehrend durch die Luft. »Geschenkt. Ich spreche von einem anderen, viel größeren Spiel. Ein Spiel um wirkliche Macht. Und um Kontrolle.« Er stand nun selbst auf und holte die Cognacflasche. Während er einschenkte, sagte er: »Das liegt dir doch.«

Sein Schachpartner legte den Kopf schief. »Ich glaube ja, dich zu kennen, aber dieses Blitzen in den Augen habe ich wahrlich schon lange nicht mehr gesehen. Wovon, lieber Freund, also sprichst du?«

Er lächelte. »Lass uns ein wenig mit den Menschen spielen, mit echten Menschen. Lass uns sehen, wie es um ihre Moral bestellt ist.«

Wieder beobachtete er seinen Freund ganz genau. Schöpfte er Verdacht? Nein, seine Überheblichkeit war grenzenlos. Gerade fuhr er mit der Hand über das Schachbrett. Auf dem Weg zu seinem Springer stieß er gegen die verbliebene Dame, sie zitterte, strauchelte und fiel. »Hoppla«, entfuhr es ihm. Er grinste. »Um die Moral also?«

»Ich will sehen, wie sehr sie sich anstrengen, bessere Menschen zu sein.« Er machte eine Pause, hob sein Glas. »Was sagst du dazu?«

Es blieb eine ganze Weile still. »Bessere Menschen?«, fragte der andere schließlich und paffte an seiner Zigarre, sein Glas ließ er stehen. Der winzige Leuchtstreifen unter dem weißen Ascheturm glomm auf. »Gemessen woran?«

Das versetzte ihm trotz allem einen Schlag. Seit Jahrzehnten saßen sie hier einander gegenüber, und plötzlich war er ihm fremd. »Gemessen am Willen zur Gerechtigkeit natürlich.«

»Ach so, ja, klar, natürlich.« Die Griffin’s in der einen, das Cognacglas in der anderen Hand, ein breites Lächeln im Gesicht. »Mein Gott, haben wir uns voneinander entfernt. Wille zur Gerechtigkeit? Den gibt es nicht. Schau dich um. Auch die Gutmenschen bringen ihre Schäflein ins Trockene. Wenn wir wollen, regieren wir alsbald. Gerechtigkeit ist kein absoluter Wert, sie ist das, was wir etablieren für die kleinen, braven Hirten.«

Er öffnete den Mund, aber die Antwort blieb ihm im Hals stecken. Sein Blick fiel auf das Spiel vor ihm, das in drei Zügen verloren wäre, auf die liegende Dame, auf die Bauern und Läufer und Springer, die sich abmühten, das Unaufhaltsame hinauszuzögern, die Türme, geduldig warteten sie auf ihr Ende. Der König, die mächtigste, doch unbeweglichste Figur, dieser König war er – und wollte es nicht mehr sein.

»Wir können ja wetten«, sagte er, erhob wieder sein Glas und wartete. Er fühlte sich erstarkt. Er würde nicht verlieren, er würde beweisen, dass es den Willen zur Gerechtigkeit gab. Endlich erhob der andere sein Glas. Das Klirren der Gläser klang wie ein Glockenläuten aus weiter Ferne. Dann begriff er, dass tatsächlich die Glocken läuteten. Es war Mitternacht.

Still schweigt der See

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