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Оглавление10 Uhr bis 11 Uhr
Der Blick aus dem Fenster auf den Rhein war ihr nicht mehr genug. Fast kam es ihr so vor, als sei das Zimmer in der Pension kleiner geworden. Sie sah noch einmal nach unten auf den Uferweg, grinste und entschied sich für die Freiheit. Schnell packte Sibylle ihre Geldbörse, eine Packung Taschentücher und ein Buch ein. Sie würde gewiss keine Ruhe finden zum Lesen, aber es vermittelte ihr ein Gefühl von Normalität.
Mit einer dünnen Jacke schlenderte sie am Schänzle entlang, betrachtete die Möwen und Enten zwischen all den Booten auf dem Rhein. Ein paar Radler kamen ihr entgegen, auch zwei Mütter mit Kinderwagen. Dass sie ohne ihre Sicherheitsleute unterwegs sein wollte, war vielleicht leichtsinnig, aber notwendig, das spürte sie schon nach wenigen hundert Metern – sofort waren ihre Schultern entspannter. Sie wusste, dass dieser Tag mit der TV-Übertragung des Events und ihrer Rede ihr Leben wieder etwas mehr verändern würde.
Noch war es ruhig. Auf der Rheinbrücke für Radler und Fußgänger allerdings kamen ihr schon wesentlich mehr Leute entgegen. Sie zögerte und fragte sich, ob sie gerade das Richtige tat. Aber es waren alles junge Leute mit Rucksäcken und Umhängetaschen in Gepäckträgern. Gewiss waren die meisten Studenten unterwegs zur Fachhochschule, die in dem Stadtteil mit dem schönen Namen Paradies lag. Die FH befand sich in den Gebäuden eines ehemaligen Schlachthauses. Als Sibylle das bei einer Studentenparty mitbekommen hatte – im Eingangsbereich hingen immer noch Fotos aus der Zeit –, war sie tief schockiert gewesen. Sie glaubte nicht an Seelenwanderung, wohl aber daran, dass gequälte Seelen einen Raum prägten. Doch es kam noch schlimmer: Bis in die neunziger Jahre war die FH nur in eine Hälfte der Gebäude gezogen, in der anderen wurde nach wie vor geschlachtet. Die Studenten jedoch hatten sich beschwert, dass man im Sommer das Fenster nicht öffnen könne, weil man dann das panische Schreien der Tiere höre. Ihre Todesangst. Wie sollte man da lernen?
Die Radbrücke, auf der täglich bis zu fünfzehntausend Radler unterwegs waren, mündete genau in den Herosé-Park, ein ehemaliges Firmengelände. Bis 2000 wurden hier Textilien veredelt. Das Wissen huschte an Sibylle vorbei, stolperte aber über ihre innere Unruhe.
Im Park angekommen, hielt sie inne. Sie tastete nach dem Buch in ihrer Tasche. Es war tatsächlich gut, es dabeizuhaben. Sie sah in beide Richtungen, unschlüssig, wohin sie gehen sollte. Rechts lag die Villa Rheinburg, irgendwo auch das Rheinstrandbad. Sibylle entschied sich für die andere Seite. Sie ging auf den breiten Wegen nach Westen in Richtung der Villa Schneckenburg. Die Bäume säumten den Weg am Rhein entlang und leuchteten goldgelb um die Wette. Am Boden lagen die bunten Blätter, die sich vom Sommer verabschiedet hatten. Ihre zarten Adern waren wie filigrane Kunstwerke überall verteilt. Zwei Birken hatten sich einander zugewandt, es sah aus, als wollten sie tanzen.
Sibylle genoss die Ruhe, die von der Allee ausging. Niemand würde sie hier ansprechen. Sie setzte sich auf eine der Bänke und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Nach einigen Minuten fühlte sie sich einigermaßen entspannt. Sie nahm sogar das Buch aus ihrer Tasche und schlug es auf. Nach ein paar Zeilen jedoch legte sie es neben sich auf die Bank und genoss einfach den Ausblick.
Sie war in Konstanz aufgewachsen, und doch kam ihr der Ort in diesem Moment vollkommen neu vor, als würde er sich mit ihr verändern. Sibylle wusste, dass sie Angst hatte. Weniger vor denjenigen, die ihren Hass laut herausriefen, als vor denjenigen, die ihr ins Gesicht lächelten, ihr die Hand reichten und viel Glück wünschten, insgeheim aber gewiss das Gegenteil hofften. Sie waren überall und doch unsichtbar. Sie schüttelte den Kopf, dann hörte sie ihren Magen knurren.
Der Ebertplatz war nicht weit entfernt, dort gab es ein vegetarisches Restaurant. Mit schnellen Schritten lief sie durch den Park und stand wenig später vor dem imposanten Gebäude mit halbrunden großen Fenstern, einem Erkerturm und schönen Voluten in der Fassade. Sibylle sah hinein. Der rote Schriftzug vom Fenster wiederholte sich in einzelnen roten Hockern und Kissen, das gefiel ihr. Die Aussicht, jetzt zur Stärkung einen Kaffee zu genießen und – sie sah auf die Speisekarte – ein Panini mit Auberginencreme, bestätigte ihr, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Sie hatte in den letzten Wochen so viel über ihre eigene Sicherheit nachgedacht, über das Leben, das sie eigentlich führen wollte, über Mut und Zuversicht, dass sie jetzt froh war, endlich einmal wieder allein unterwegs zu sein.
Sie wollte gerade hineingehen, als sie die beiden roten Busse der Linie 9 entdeckte. Sie fuhren hintereinander, ruckartig, irgendwie auffällig. Voll besetzt kamen sie an ihr vorbei in Richtung Sternenplatz, um wenig später zum Benediktinerplatz abzubiegen. Kamen die nicht von der Universität?
Sie hatte von dem Überfall gehört, davon, dass fünfzig Menschen in der Gewalt von Geiselnehmern waren und man noch nicht wusste, wie viele Menschen sich sonst noch an der Universität aufhielten. Der Busverkehr war offiziell eingestellt, aber woher kamen diese Busse, wenn nicht von der Universität? Sibylle spürte die Gänsehaut auf ihrem Rücken. Die Gleichzeitigkeit machte ihr nicht zum ersten Mal Angst und jetzt auch ein schlechtes Gewissen. Während sie hier über ein spätes Frühstück nachdachte, waren knapp zwei Kilometer weiter Menschen in Lebensgefahr. Schlagartig verlor sich das Gefühl von Freiheit. Umgehend suchte sie nach ihrem Handy, um ihren Personenschützer, Otto Behringer, anzurufen. Während sie wartete, fiel ihr auf, dass sie ihr Buch auf der Parkbank vergessen hatte – der kurze Anflug von Normalität war buchstäblich verloren gegangen.
***
Während Busch sich bemühte, Zugriff auf die Kameras der Verkehrsüberwachung rund um die Universität zu erlangen, saß Sito an seinem Schreibtisch und suchte nach Enzigs letzten Fällen. Gab es vielleicht doch einen persönlichen Zusammenhang? Was hatte es mit diesem älteren Herrn auf sich? Wenn Enzig es für so wichtig hielt, dann war es mehr als ein merkwürdiges Gefühl – mindestens Intuition, vielleicht sogar ein konkreter Verdacht.
Sito überprüfte die Werbung, die für den Kurs gelaufen war. Es war eine öffentliche Veranstaltung, nicht nur für Studenten. Die Sekretärin hätte weiterhelfen können, aber es gab keine Verbindung mehr zur Universität. Die Beamten, die versucht hatten, sich über den Wald oberhalb der Mainau nach oben zu arbeiten, hatten noch keine brauchbaren Hinweise. Am Eingang hatten sie einen bewaffneten Mann gesehen, damit stieg die Zahl der Geiselnehmer auf sieben, und dass am Haupteingang ebenfalls Männer standen, daran hatte Sito keinen Zweifel. Welche Gruppe konnte im Stillen einen solch großen Einsatz planen?
Er rief bei Zimmermann an und teilte ihm die Neuigkeiten mit, während er zu dem Foto von Miriam auf seinem Schreibtisch blickte. Die Glückliche saß irgendwo in Gaienhofen.
»Wir haben weitere Waffenkäufe im Darknet gefunden«, erzählte Zimmermann. »Mit Modellbezeichnung. Wir glauben, einen Verkäufer zu kennen, allerdings kollidiert diese Info mit einer lang angelegten Beobachtung von Waffenhändlern. Das wird noch nicht freigegeben.«
»Himmel«, rief Sito aus, »da geht es um über fünfzig Menschenleben!«
»Im anderen Fall vielleicht um viel mehr. Paul, schimpf nicht auf mich, ich bin nur der Bote. Ich schau, was ich tun kann. Ich hab die Kollegen aus München und Duisburg an der Strippe. Kann Enzig vielleicht ein Modell benennen?«
»Er weiß, worauf es ankommt. Wenn er was Neues hat, dann schreibt er uns, da bin ich sicher«, erklärte Sito.
»Du willst ihm keine Infos zukommen lassen? Ich würde das versuchen.«
Sito tippte auf seinen Schreibtisch. »Ich bin unschlüssig, was, wenn er sein Handy nicht auf lautlos gestellt hat?«
Am anderen Ende hörte er Zimmermanns Finger knacken. »Unterschätz ihn nicht.« Ein Räuspern übertönte das erneute Knacken. »Nein, Quatsch, Paul. Enzig war dort für einen Vortrag! Der hatte sein Handy auf jeden Fall aus. Schreib ihm zurück. Er muss wissen, dass wir seine Nachrichten lesen.«
Sito nickte. »Du hast recht. Ich werde ihm schreiben. Unter uns, Karl: Du gehst nach wie vor davon aus, dass eine rechtsradikale Gruppierung für die Geiselnahme verantwortlich ist, nicht wahr?«
Zimmermann blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich wurde Sitos Zimmertür aufgestoßen, und Rosa stürmte herein. »Unten sind zwei Busse. Wir sollen sofort …« Sie stand im Raum, plötzlich wie eingefroren mitten in der Bewegung. Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen, und Rosa fuhr sich mehrmals nervös durch die Haare.
Sito sprang auf und rannte zum Fenster. Da standen zwei rote Busse der Neuner-Linie von der Universität. Innerlich schlug Sito sich gegen die Stirn. Sie wussten doch, dass Busse unterwegs waren. Sie hatten die Linie zwar gestoppt, aber da hätte doch bereits klar sein müssen, dass noch welche an der Universität standen. Der Takt der Busse, die Vorgabe für die Straßensperren, sie hatten sich ein Schlupfloch gelassen … »Himmel, weshalb haben wir daran nicht gedacht?«
»Paul, kommst du?«
Sito drehte sich zur Tür. Neben Rosa stand nun auch Marc Busch. Im selben Moment ertönte der interne Alarm.
»Was wissen wir?«, fragte Sito und folgte im Laufschritt Busch und Rosa nach draußen auf den Flur. Rosa ging zurück in ihr Büro und telefonierte mit den städtischen Krankenhäusern, damit die sich für den Ernstfall rüsteten.
»Nichts«, rief Busch über die Schulter. »Wir wissen nichts«, seine Stimme überschlug sich. »Wir wissen nur, dass da draußen zwei Busse voll mit Menschen stehen.«
»Voll?«
»Sieht – so – aus.« Buschs Worte kamen stoßweise, während er immer zwei Stufen auf einmal nahm.
Sie rannten durch die Eingangshalle auf das Hauptportal zu. Zahlreiche Kollegen waren dort bereits versammelt. Sito wagte kaum zu atmen.
***
Die Busse standen nebeneinander wie dampfende Tiere, lauernd. Der Motor aus, die Menschen darin starr. Sito und Busch liefen langsam nach draußen. Sito hatte ein Megafon in der Hand und bat die Menschen, mit erhobenen Händen auszusteigen. Nichts passierte. Er sah zu Busch, dessen Mundwinkel zuckten. Er rieb sich mit der linken Hand über das Gesicht, seine Stirn legte sich in Falten.
»Was sollen wir machen?«, fragte Sito leise. »Kommen Sie mit erhobenen Händen langsam aus dem Bus«, rief er noch einmal durch das Megafon, sah zu Jäger, der seine linke Hand mit der rechten festhielt.
»Wenn es nun trojanische Pferde sind?«, murmelte Busch, und Sito wusste sofort, worauf er hinauswollte.
»Wir holen uns den Feind ins Haus.«
Plötzlich kam Bewegung in den ersten Bus. Die Tür wurde geöffnet, und der Busfahrer erhob sich, ein Smartphone in der Hand. »Nicht schießen«, rief er nach draußen, seine Stimme überschlug sich fast.
Sito sah, dass er durchgeschwitzt war, die Ränder unter den Armen reichten bis zum Hosenansatz. Die Haare klebten am Kopf. Die verfügbaren Polizisten hatten sich um die Busse postiert.
»Wir dürfen aussteigen«, sagte der Busfahrer und wedelte mit dem Smartphone.
»Kommen Sie langsam heraus«, rief Sito und sah, dass alle um ihn herum in Alarmbereitschaft waren, die Polizisten hielten die Waffen schussbereit.
Die Menschen im Bus standen alle, sie drängten zu den Türen. Der Busfahrer hob seine Hände, trat langsam aus dem Bus und stieg die Treppen nach unten. Sein Gang war wacklig, als gehörten seine Beine nicht zu seinem Körper. Als er unten ankam, sackte er in sich zusammen. Hinter ihm kamen die anderen Insassen. Auch sie wirkten allesamt apathisch. Ängstlich sahen sie sich um und betraten vorsichtig die Treppen aus dem Bus ins Freie.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, raunte Sito zu Busch und gab den Einsatzkräften ein Zeichen, dass sie vorrücken sollten.
Allmählich kamen immer mehr Menschen aus dem Bus, es wurde unübersichtlich. Sito versuchte, den Überblick zu behalten, beobachtete die Personen, versuchte, sich einzuprägen, wie sie reagierten auf die gewonnene Freiheit. Busch lief langsam auf die Gruppe zu. Einer hatte dem Busfahrer zwar aufgeholfen, aber andere waren ebenfalls gestürzt. Gerade stieg der letzte sichtbare Fahrgast aus dem Bus.
»Was ist mit dem zweiten Bus?«, sagte Sito laut vor sich hin. »Was ist mit dem zweiten?«, wiederholte er. Die Gruppe wurde umringt von Polizisten und zum Gebäude geführt. »Was ist mit dem zweiten Bus?«, schrie Sito. Er beobachtete die Szene, starrte zum zweiten Bus, der nach wie vor einfach nur dastand. Die Menschen klopften gegen die Scheiben, als würden sie um Hilfe rufen, sie hielten sich die Hände vors Gesicht, und Sito meinte, einige weinen zu sehen.
Busch kam zu ihm. »Was ist da los?«
Beide starrten sie gebannt auf die Tür, doch nichts regte sich. Der Busfahrer hatte den Kopf sinken lassen. Sitos Blick wanderte zurück zum ersten Bus. Er rief sich den Busfahrer in Erinnerung, wie er, das Smartphone noch am Ohr, die Tür öffnete. »Wir dürfen aussteigen«, wiederholte er leise, was der Busfahrer gesagt hatte. »Wir dürfen aussteigen.« In Bruchteilen einer Sekunde traf es Sito wie ein Blitz.
»Weg von dem Bus!«, schrie er durchs Megafon. Busch reagierte sofort. Er trieb die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung an, sich schneller zum Gebäude zu bewegen, seine Kollegen folgten ihnen, und plötzlich waren rund hundert Menschen auf der Flucht in Richtung Präsidium. Sie gingen in Deckung und warteten. Sito hatte sich mit Busch hinter einem Wagen verschanzt und beobachtete die düstere Szenerie. Die Menschen in dem zweiten Bus sahen aus den Fenstern, einige klopften noch immer. Gedämpfte Hilferufe drangen nach außen. Sekunden verrannen, nichts passierte. Sekunden, Atemzüge, Schluchzen im Hintergrund, nichts passierte.
Sito sah sich um, suchte nach dem Fahrer aus dem ersten Bus und rannte zu ihm. Er packte den noch immer völlig apathisch wirkenden Mann am Arm und schüttelte ihn sacht, aber eindringlich.
»Was ist da los?«, fragte er.
Der Mund des Busfahrers stand offen, und der Atem kam stoßweise. »Eine – Bombe«, sagte er.
»Was?«
»Die Bombe ist im zweiten Bus. Wir wussten es nicht, als wir losfuhren.« Er sackte erneut in sich zusammen.
***
Sie waren gerade mit Blaulicht an den wartenden Autos über die B 33 gefahren. Im Vorbeifliegen hatte er den Bodensee auf der einen Seite, das Kloster Hegne auf der anderen gesehen. Ein Studienfreund hatte mal ein WG-Zimmer in Hegne gehabt, daher kannte er den Ort. Auf Höhe der Reichenau kam plötzlich die Meldung, dass sie es fortan nicht mehr nur mit der Geiselnahme an der Universität zu tun haben würden, sondern auch mit einer Geiselnahme und Bombendrohung direkt auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums.
Konstantin Hagen sah seinen Kollegen an, der ihm vor einer Stunde noch Mut gemacht hatte, dass sie auch diesen Tag heil überstehen würden, und sah dessen erstaunten Blick. »Zwei Geiselnahmen an einem Tag und in einer Stadt? Spinnen die?«
»Ist heute der Tag der Bekloppten?«, fragte ein anderer.
Über Funk sprachen sie mit ihrem Einsatzleiter Georg Moller und beschlossen, dass sie sich direkt fahrzeugweise aufteilten, die Einsatzleitung auf dem Präsidium sollte Konstantin Hagen übernehmen. Sein Nachbar stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite und nickte ihm zu. »Das rockst du«, sagte er ihm. Schon flogen die Hände in die Mitte, jeder legte seine auf eine andere, und sie stimmten sich ein: »Einer für alle, alle für einen«, klang es wie aus einem Munde durch den Bus. Nur Konstantin fühlte einen Kloß im Hals.
Im Grunde hatten sie eine exzellente Quote, meist lösten sie Geiselnahmen und andere Konflikte, ohne von der Schusswaffe Gebrauch machen zu müssen. Sie verhandelten, sie stürmten, sie waren ihren Gegnern taktisch überlegen. Weshalb also machte Hagen sich an diesem Tag Sorgen? Lag es daran, dass er beim Aufwachen das Gefühl gehabt hatte, eine tiefschwarze Decke läge über seinem Gesicht? So ein merkwürdiger Schleier vor den Augen, den er nicht sofort auf die noch währende Dunkelheit in seinem Zimmer schob, sondern erst auf sein Augenlicht. Er würde seine Freundin heute nicht mehr treffen. Er wäre gleich wieder unterwegs, um Frieden zu stiften, und würde auch davon niemandem erzählen können.
Sie erreichten den Parkplatz des Präsidiums. Das große herrschaftliche Gebäude ragte vor ihnen auf, davor der rote Bus. Sie fuhren vor den Seiteneingang, Hagen gab das Zeichen für die Sturmmasken, die sie ab sofort tragen würden, bis sie in einem abgeschlossenen internen Bereich waren, und gemeinsam verließen die zwölf Männer das Einsatzfahrzeug. Vom Uni-Bus aus konnte man sie nicht sehen. Hagen wusste, dass der Aufmarsch des SEK schnell Panik auslösen konnte, und noch hatten sie keine Ahnung, wie die Bombe gezündet werden würde. Womöglich also waren auch Geiselnehmer mit an Bord. Im Besprechungszimmer nahm er seine Sturmmaske wieder ab und spürte sofort den angenehmen Luftzug an seinem Gesicht. Ab jetzt wartete er auf die neuen Informationen der Hauptkommissare vor Ort.
***
Das Gebiet um das Polizeipräsidium war weiträumig abgesperrt. Die Menschen aus dem ersten Bus befanden sich inzwischen in verschiedenen Räumen im Präsidium und wurden von einem Kriseninterventionsteam der umliegenden Krankenhäuser betreut. Rosa rannte zwischen der Küche und den Räumen hin und her und versorgte die Geretteten, so gut es ging. Die meisten waren umgehend zu Befragungen bereit. Nach einer Viertelstunde hatten Sito und Busch ein doch recht klares Bild von den Abläufen der letzten Stunden. Sie zogen sich in Sitos Büro zurück, die Kollegen würden die Befragungen fortsetzen.
Sito stand am Fenster und beobachtete den Parkplatz. Ein Sprengstoffexpertenteam kontrollierte sicherheitshalber den leeren Bus. Langsam bewegten sie sich vorwärts, gaben Zeichen, wenn etwas gesichert war. Sito hatte von verschiedenen Übungen eine ungefähre Vorstellung, wie hoch der Adrenalinpegel dieser Leute war – jeder Schritt ein Wagnis. In den Trainingsräumen lösten Fehltritte Alarmsignale aus, akustische Schockmomente, die in der Realität den Tod bedeuten konnten. Er riss sich los und hob seinen Blick in den Baum gegenüber seinem Fenster. Vor etwas über zwei Stunden hatten sie von der Geiselnahme an der Universität erfahren. Er hatte das Gefühl, der Tag dauere schon ewig.
»Die Geiselnehmer haben noch immer keine Forderung geschickt«, sagte Busch von seinem Schreibtisch aus. Er hatte sich hingesetzt und sah sich suchend um. Abrupt stand er auf. »Und? Was entdeckt in dem Baum?«, fragte er. »Ich brauch einen Kaffee. Du auch?« Ohne die Antwort abzuwarten, trat er zur Kaffeemaschine und kochte eine ganze Kanne für sie beide. Das Gurgeln war für eine kleine Weile das einzige Geräusch im Raum, durchdrungen von den Rufen durch das Megafon, die sich blechern über den Platz vor dem Präsidium nach oben verteilten.
Sito legte sich die Hände in den Nacken. »Die haben wieder Stäbe aufgebaut.«
»Hm?«
»Gegen die Tauben. Diese Minispeere.« Sito öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um die Metallspitzen umzubiegen, scheiterte jedoch. »Jedes Mal sehe ich eine aufgespießte Taube in meiner Phantasie.« Er würde eine Zange brauchen, um die Speere unschädlich zu machen.
Busch starrte nach draußen. Er musste sich losreißen. »Der Kaffee«, murmelte er. »Ich glaub –«
»Es ist schrecklich«, sagte Sito. »Wir stehen hier und können nichts tun, außer zu warten.«
»Das ist ein schlechtes Zeichen, dass die sich noch nicht gemeldet haben«, sagte Busch und trat mit zwei Kaffeetassen neben Sito ans Fenster.
»Die da unten«, Sito nickte in Richtung Parkplatz, »die erleben gerade die Hölle, und nichts in ihrem Leben wird mehr so sein, wie es mal war.« Er trank einen Schluck. »Also, Marc, lass uns die Ereignisse rekonstruieren.« Sito setzte sich mit seinem Kaffee und wartete, bis Busch ihm gegenübersaß, dann nahm er einen Zettel und einen Stift und begann zu notieren. »Ungefähr um acht Uhr dreißig sieht die Sekretärin bewaffnete Männer im Gang, oder?«
Busch nickte. »Soviel ich mitbekommen habe, war die Rede von vier Männern.«
»Vier Männer zusätzlich zu den sechs Geiselnehmern in der Uni. Hm, scheint mir ungleich verteilt. Gehen wir mal lieber davon aus, dass es noch mehr sind.«
»Garantiert sind es mehr. Die haben sicherlich Posten an den Ausgängen.«
Busch nahm sich Zucker für seinen Kaffee und reichte die Zuckerdose an Sito weiter. »Sie wollte sich in ihrem Zimmer verstecken, aber dann kamen wieder Bewaffnete und forderten sie auf, zum Ausgang zu laufen.«
»Und dort standen zwei Busse?«
»Genau. Einer der Männer erklärte ihnen, dass ihnen nichts passieren wird, wenn sie sich ruhig verhalten.«
»Und alle stiegen sie ein.« Sito nickte, rührte seinen Kaffee um, trank noch einen Schluck, der jetzt mit Zucker schon besser schmeckte. »Die Busfahrer wussten nichts von der Bombe? Ist das glaubwürdig?«
Busch nickte. »Frau Hauser hat erzählt, dass die beiden Busfahrer draußen warten mussten und von einem Mann mit Waffe in Schach gehalten wurden. Die Sekretärin konnte sehen, dass etwas besprochen wurde, woraufhin sich die Busfahrer die Hände vors Gesicht schlugen, und einer hat was gerufen, was wie ›nein‹ klang, aber sie hatte nicht verstanden, worum es ging. Nach dem Losfahren hat der Fahrer dann über den Lautsprecher verkündet, dass in einem der beiden Busse eine Bombe an Bord wäre, er aber nicht wüsste, ob sie in diesem Bus ist oder in dem anderen. Beide hätten den Auftrag gehabt, zum Polizeipräsidium zu fahren, ohne anzuhalten, vor allem, ohne jemanden aussteigen zu lassen. Auf dem Parkplatz des Präsidiums würden sie dann erfahren, ob sie in dem Bus mit der Bombe sitzen.«
»Also glaubwürdig.«
»Absolut. Evelyn Hauser meinte, die Fahrt von der Universität runter in die Stadt hätte sie wie in Trance erlebt. Alles schien in Watte gepackt und nur in Zeitlupe zu schleichen. In Gedanken hat sie das Szenario durchgespielt, wenn sie im Bus mit der Bombe säße, und sich innerlich verabschiedet von ihren Lieben, sie gar vor ihrem geistigen Auge bei ihrer Beerdigung weinen gesehen. Du kannst dir die Aussage noch einmal anschauen, es werden alle aufgezeichnet.«
»Okay, dann haben wir also einen Bus mit rund hundert unschuldigen Menschen und einer Bombe da unten.«
»Das sind Sadisten, so viel wissen wir jetzt auch«, sagte Busch und trank den Kaffee, als bräuchte er ihn gegen die innere Kälte.
»Ich weiß nicht recht, das ist sehr merkwürdig. Ich muss immer an Romans Bemerkung über den alten Mann denken.«
»Hat er noch mal geschrieben?«
»Nein, natürlich nicht. Das hätte ich dir doch sofort gesagt, Marc.« Sito kratzte sich an der Stirn. »Ich werde ihn über die Busse informieren, aber ich hab echt Magenschmerzen dabei, ihm zu schreiben.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Busch. »Hast du denn in Romans Fällen etwas gefunden, was in einem Zusammenhang stehen könnte?«
Sito schüttelte den Kopf. »Nichts, was so eine große Geschichte erklären würde.«
»Das ist ja das Problem«, sagte Busch nachdenklich, »was fiele uns überhaupt ein, das eine so große Geschichte erklären könnte?«
***
Vor seinen Augen flimmerte es, als wäre die Luft zu heiß. Er blinzelte mehrmals, fokussierte die roten Stangen an der Decke, um seine Sehschärfe zu überprüfen, und zählte langsam von zehn rückwärts, den Atem bewusst kontrollierend. Allmählich gewann das Gestänge unter der Decke wieder an Kontur. Drei – zwei – eins. Enzig begriff, dass ihm Schweiß in die Augen gelaufen war, nichts weiter.
Was hatten die vor? Warum gab es nicht endlich Forderungen? Niemand hatte den Raum verlassen. Sie saßen einfach hier und warteten. Unruhig sah Enzig sich um. Worauf verdammt noch mal warteten die?
Miriam fing seinen Blick auf und hob die Augenbrauen. Enzig war sich umgehend sicher, dass sie denselben Gedanken hatte. Ihr investigatives Talent wäre ihr zuletzt beinahe zum Verhängnis geworden, auf alle Fälle war es unbestreitbar. Sito würde sich damit abfinden müssen, dass aus ihr, wenn nicht eine Polizistin, so doch eine Kriminalistin werden würde. Sie gab Enzig mit den Augen ein Zeichen. Gewiss wollte sie ihm Zeit verschaffen, die er sinnvoll nützen sollte.
Miriam hob die Hand. »Hans«, sie winkte, blieb aber sitzen. »Können wir jetzt reden? Sie sagten doch, dass –«
Hans war im Gespräch mit dem Mann an der rechten Seitenwand. Beide sahen sie zu jenem an der Tür, der wieder telefonierte. Gert indessen kam auf das Podium und baute sich vor Miriam auf. »Klappe, du renitentes Biest«, schimpfte er.
»Du hast mir gar nichts zu sagen. Gert«, erwiderte Miriam, und Enzig hielt den Atem an. Dieser Gert kochte bestimmt vor Wut. Seine Sturmmaske ließ einen Blick auf seine Augen- und Stirnpartie sowie seinen Mund zu, und ein Stück am Hals lag ebenfalls frei, weil die Maske dort verrutscht war. Ein Stückchen blanke Haut. Enzig musste an Achilles denken, ein winziges verwundbares Stück, die Halsschlagader. Schnell schüttelte er die Bilder ab, die sich gerade einen Weg bahnen wollten.
»Nenn mich nicht Gert, sonst …« Er trat noch einen Schritt näher. Die Menschen um Miriam herum wurden unruhig. Enzig glaubte, die Ader am Hals des anderen pochen zu sehen.
Blanke Haut, verwundbar. Klatschmohnrot, eine Fontäne … Weg mit den Bildern.
»Was soll ich machen?«, fragte Miriam forsch, doch Enzig kannte ihre Stimme. Sie klang angestrengt und eine Spur zu hoch. »Du verrätst deinen Namen ja nicht, Geeeert.« Enzig zog intuitiv den Kopf ein, er wusste, das war zu viel.
»Du blöde Gans«, schrie er. »Ich heiße Jürgen.« Dabei flogen Spuckefäden durch die Luft. Er holte mit dem Gewehr aus.
»Halt«, rief der alte Mann.
Enzig setzte sich abrupt auf. Auch Jürgen sah sich erstaunt zu ihm um und ließ das Gewehr sinken. Erst dann schien er zu begreifen, was gerade passiert war. Er senkte den Kopf. Er war auf Miriams Provokation hereingefallen. Sie saß vor ihm, hatte sich halb abgewandt und versuchte irgendwie zu verschwinden. Jürgen wandte sich ab, das Gewehr klickte merkwürdig. In einer ruckartigen Bewegung fuhr er herum, machte zwei schnelle Schritte und stand dann vor Miriam. Sie schrie auf, hob die Hände schützend vors Gesicht, doch Jürgen holte bereits aus, um ihr einen Schlag zu versetzen. Schneller, als Enzig ihm das zugetraut hätte, stand der alte Mann neben Jürgen und hatte das Gewehr in der Hand.
»Wage es ja nicht«, sagte er mit einer so kraftvollen Stimme, dass es Enzig beschämte. Er hätte dort stehen müssen und dieses Gewehr aufhalten. Er! Stattdessen stand dort ein Mann, der gewiss über siebzig war. Resolut und wagemutig.
Wieder hatte sich der Unbekannte schützend vor eine der Geiseln gestellt, wieder vor Miriam.
Jürgen nickte. »Gut, dann ist jetzt wohl die Zeit für unsere Forderung gekommen.« Anschließend wandte er sich an Miriam: »Und du, kleine Fotze, komm mir nicht noch einmal in die Quere, sonst fick ich dich.«