Читать книгу Still schweigt der See - Tina Schlegel - Страница 12

4

Оглавление

9 Uhr bis 10 Uhr

Wieder warf Sito einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war eine Minute nach neun, der Konferenzraum gefüllt mit angespannter Stille. Seit knapp zwanzig Minuten wussten sie von der Geiselnahme. Zwischenzeitlich hatten die Geiselnehmer über die Facebook-Seite der Stadt mitgeteilt, dass sich in der Uni Männer verteilt hätten und jegliche Verhandlungen hinfällig wären, wenn Polizei auftauchen würde. Via YouTube gab es ein kurzes Video, in dem zwei Maskierte dieselben Informationen verlasen.

Der Busverkehr an die Uni war gestoppt, die Zufahrten über die Universitätsstraße und die Eggerhaldestraße sowie von der Bushaltestelle auf der Mainaustraße waren gesperrt. Die Geiselnehmer hatten auch dafür genaue Vorgaben durchgegeben, jedes Zuwiderhandeln habe Konsequenzen.

Die Tür ging auf, und Bürgermeister Jochen Auweiler betrat den Raum. Sein Kopf war hochrot, das Hemd spannte über seinem fülligen Bauch. Geräuschvoll ließ er seinen Notizblock auf den Tisch fallen, rückte den Stuhl weiter nach hinten, sodass er sich setzen konnte.

Mit im Raum waren außer Sito noch Marc Busch, die Kommissare Johannes Goffer und Martin Kaiser sowie Karl Zimmermann, Polizeipräsident Simon Jäger und Staatsanwalt Pierre Ruger. Sito nickte Busch zu, der erhob sich und ließ die Facebook-Seite der Stadt auf der Leinwand vor ihnen aufscheinen.

»Um acht Uhr einundvierzig posteten die Geiselnehmer, dass sie das Audimax der Universität gekapert haben. In den letzten zwanzig Minuten kam eine weitere Nachricht, dass keine Polizei zur Universität kommen solle, andernfalls würden wir das Leben der Geiseln riskieren. Selbige Nachrichten laufen über YouTube und Twitter. Von der Dame im Sekretariat wissen wir, dass etwa fünfzig Studenten in der Vorlesung sein müssten. Gehalten wurde die Vorlesung übrigens von unserem Kollegen Roman Enzig.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Polizeipräsident Jäger beugte sich vor. »Wir haben einen Kollegen unter den Geiseln? Wieso erfahr ich erst –«

»Jetzt wissen Sie es«, erklärte Sito und gab Busch ein Zeichen fortzufahren.

»Wir wissen nicht, wie viele Studenten sonst noch an der Universität sind, auch nicht, von wie vielen Geiselnehmern wir ausgehen müssen. Es sind Semesterferien, und es ist sehr früh. Vermutlich haben wir noch etwa zweihundert Zivilisten an der Uni.«

»Können wir nicht einfach die Seite blockieren?«, fragte Auweiler.

»Und dann? Dann überlassen wir sie alle ihrem Schicksal?«, herrschte Staatsanwalt Ruger den Bürgermeister an und schüttelte den Kopf.

Auweiler wehrte ab. »Darum geht’s doch nicht, aber offensichtlich brauchen die ja ein Medium, wenn sie keines haben, dann überlegen sie sich … Es gibt doch die Möglichkeit, das Internet irgendwie zu stören, oder?« Die letzte Frage richtete sich an Sito.

»Die gibt es, aber das wäre jetzt sehr unklug. Wir müssen erst einmal wissen, was die vorhaben.« Er starrte auf seinen Block, auf dem alle Mitteilungen der Geiselnehmer gesammelt waren. »Außerdem haben sie geschrieben, dass dies ihr Kommunikationsweg wird.«

»Dies?« Auweiler schnaubte. »Meine Website?«

»Ich glaube, sie meinten eher Facebook«, erklärte Zimmermann und ließ seine Finger knacken. »Hashtag GeiselnahmeUniversität.«

»Facebook als Medium bei einer Geiselnahme, hat man so was schon mal gehört?«, warf Kaiser in den Raum.

Sito verneinte.

»LKA und SEK sind informiert?«, fragte Jäger.

Sito nickte. »Selbstverständlich, sind unterwegs, aber das wird dauern. Das MEK ist ebenfalls unterwegs. Teile der Spezialeinheit sind bereits vor Ort für die Personenüberwachung rund um den Klimagipfel. Vorerst sind wir, was die Geiselnahme angeht, auf uns gestellt, und Heinrich Wint aus Gaienhofen ist auf dem Weg. Er wird uns unterstützen.«

Ruger hob fragend die Hände in die Luft. »Wint? Gaienhofen? Wie das?«

»Er war beim LKA. Ursprünglich erfahrener Vermittler bei Geiselnahmen. Jetzt sitzt er in Gaienhofen. Ist ausgestiegen, aber ein guter Mann. Er ist wie gesagt bereits unterwegs. Wir rechnen in der nächsten halben Stunde mit ihm«, erklärte Sito.

»Worum es nun geht …«, begann Busch, und ein anderes Bild erschien hinter ihm an der Wand. Es zeigte die junge Sibylle Hundhammer, dunkelbraune Locken zierten das junge Gesicht, ein breites Lachen darauf, als läge ihr die ganze Welt freundlich zu Füßen.

»Was hat sie mit der Geiselnahme zu tun?«, fragten die Kollegen Goffer und Kaiser gleichzeitig. Auch Auweiler rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Es gab ein Quietschen auf dem Fußboden.

Sito fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Narbe an seiner linken Schläfe. »Wir haben heute einen Großeinsatz zum Schutz von Sibylle Hundhammer. Sollten Sie in letzter Zeit die sozialen Netzwerke konsultiert haben, dann dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass die Hetze gegen Hundhammer immer mehr zunimmt. Kollege Zimmermann beobachtet das seit Wochen für uns auch im Hinblick auf die Maßnahmen während der heutigen Demonstration.«

Alle sahen zu Zimmermann, der sofort nickte. »Es reicht bis zu konkreten Mordankündigungen.« Zimmermanns Finger knackten wieder, Sito zog unwillkürlich die Schultern nach oben, das Geräusch war ihm unangenehm, Zimmermann jedoch schätzte er sehr. »Das ist eine riesige Welle«, sagte der gerade und zog an dem kleinen Finger der linken Hand.

»Ich verstehe noch immer nicht«, sagte Auweiler. Der Bürgermeister drückte sich die flache Hand gegen den Magen. »Könnt ich wohl ein Glas Wasser haben?«

»Wir beobachten mit wachsender Sorge den organisierten Hass aus der rechten Ecke«, erklärte Zimmermann.

»Okay, ich kenn die Sprüche natürlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mob ausgerechnet in meiner Stadt zuschlagen würde. Und vor allem – was hat das mit der Geiselnahme zu tun?«

Busch war aufgestanden, um ein Glas Wasser zu holen, und reichte es Auweiler gerade. Der Bürgermeister trank gierig.

»Wir wissen es nicht«, begann Sito, sah zu Busch, der sich die Ärmel seines hellgrauen Hemdes hochkrempelte und noch weitere Gläser mit Wasser verteilte. Er war ein echter Teamplayer, das wurde Sito schlagartig bewusst, einer, der sich selbst auch zurücknehmen konnte. »Kollege Busch und ich sind uns aber einig, dass wir das nicht ausschließen dürfen. Weshalb sollte die Geiselnahme ausgerechnet heute stattfinden?«

»Vielleicht, weil dann weniger Polizeikräfte zur Verfügung stehen«, mutmaßte Goffer.

»Wir müssen es im Auge behalten«, sagte Sito. »Meine Hoffnung ruht derzeit auf Enzig. Ich hoffe, er kann sich irgendwie mit uns in Verbindung setzen.«

»Fakt ist«, mischte sich nun Zimmermann ein, stand auf und stellte sich neben Busch an den Computer. »Ich darf doch mal.« Busch machte Platz, und Zimmermann tippte, bis auf der Leinwand die Kommentarleiste einer anderen Facebook-Seite erschien. »Wenn Sie sich das hier anschauen, dann verstehen Sie vielleicht eher, was ich mit einer riesigen Welle meine.«

»Fahrt mit dem Panzer in die Demo!«

»Löscht aus, was euch kaputtmachen will.«

»Die Schulschwänzer sollte man alle verhaften.«

»Die Demo beginnt um vierzehn Uhr, da ist die Schule vorbei.«

»Ihr linksgrünen scheiß Ökofaschisten kommt euch besonders schlau vor, wie?«

»Die wollen uns nur das Geld aus der Tasche ziehen.«

»Manipulation der Dummen und ihr macht da mit.«

»Dreckspack, einsperren mussma das.«

»Früher hätts das net gegeben, dass so junge leut einfach alles von de alten schlecht machen. Wo hammsden alles her? Von de alten, von der kohle und des is ja au deutschland und wieso solln die deutschen die kohle und die chinesen machen was se wolln … nur meine meinung …«

»Elendes dreckspack. Ich kenn noch eine garage und gas hab ich auch noch 13/4/7 …«

Stille im Raum.

Staatsanwalt Ruger sog scharf die Luft ein. »Gleich mehrere Straftatbestände. 13/4/7 ist die Abkürzung für einen Gruß unter Neonazis – Mit deutschem Gruß – und verboten. Gilt aber als Erkennungszeichen, wie die Vier im Übrigen auch.«

Auweiler schlug mit der Faust auf den Tisch und murmelte: »Verdammt. Können wir die Seite nicht dichtmachen? Ich will so einen Mist nicht in meiner Stadt!«

Zimmermann tippte mit einem Stift auf die Leinwand. »Das ist das Internet, Herr Auweiler. Wir können hier gar nichts dichtmachen. Das ist der neue Informationskrieg um Meinung, ganz einfach. Seit dem Wahlkampf von Trump und dann von der AfD ist das gang und gäbe.« Er nahm ebenfalls einen Schluck Wasser. »Im Übrigen ist das nur ein verschwindend kleiner Auszug und noch nicht einmal mit dem härteren Vokabular. Wir haben Undercover-Leute in einigen rechtsradikalen Troll-Netzwerken. Mit Kollege Sito wollte ich ohnehin heute sprechen, denn wir sind uns einig, dass etwas geplant wurde. Wir haben immer wieder sogenannte Marschbefehle entziffern können, das C18 beziehungsweise 318 tauchte an unterschiedlichen Stellen auf. Es steht für eine neonazistische und terroristische Vereinigung. Bei uns längst verboten. Erst dachten wir, es geht um die Klimaschutzdemo«, Zimmermann tippte auf seinem Laptop, »und um diese Sibylle.« An der Wand war unter den Zeilen ein Scheiterhaufen zu sehen, darauf Sibylle Hundhammer. Zahlreiche Kommentare feierten die angekündigte Hexenverbrennung mit Lach-Smileys und applaudierenden Händen.

Zimmermann räusperte sich, kratzte sich am Mundwinkel und redete dann weiter. »Aber jetzt müssen wir das natürlich im Hinblick auf die Geiselnahme erneut überprüfen. Es geht eben auch um Waffen. Die Seite hier gehört zum Beispiel einer Gruppe, die sich ›Die Naturbewahrer‹ nennt, wobei es freilich nicht um die Natur im Hinblick auf Umweltschutz geht, sondern vielmehr um den vermeintlich natürlichen deutschen Lebensstandard, wie er eben aktuell praktiziert wird. Wir beobachten die Gruppe schon eine Weile, die sich der AfD und den Identitären verbunden fühlt. Im Darknet haben wir außerdem gerade in der letzten Woche eine Zunahme der Aktivität feststellen können. Wir wissen auch von Waffenkäufen, können aber die IP-Adressen nicht zurückverfolgen, weil die natürlich alle über eine VPN-Adresse, also ein virtuelles privates Netzwerk, ins Netz gehen. Wir wissen nicht, ob die sogenannten Marschbefehle im Zusammenhang mit der heutigen Geiselnahme stehen, aber ich gebe Kollege Sito recht: Wir müssen es in Betracht ziehen.«

Ruger stand der Mund offen. »Weshalb zum Teufel erfahre ich erst heute und hier davon?«

Zimmermann schnaubte. »So kann man das nicht sagen. Wir plädieren seit Ewigkeiten dafür, diese Gruppierung unter Beobachtung des Verfassungsschutzes zu stellen oder wenigstens Razzien zu genehmigen.« Er wirkte für einen Moment resigniert, sein linkes Augenlid zuckte, dann fuhr er fort: »Wissen Sie, seit Jahren ist ein Kollege bei den Rechtsrockfestivals unterwegs. Immer wieder berichtet er von schweren Verstößen, von Aufrufen zu Gewalt und Mord, von Lobeshymnen auf Hitler und so weiter und so fort. Noch immer gibt es kaum nachhaltige Reaktionen. In Thüringen hat sich jetzt mal was getan, da hat die Polizei durchgegriffen bei den sogenannten Versammlungen mit rechter Musik. Wir Netzbeobachter und Beobachter der rechten Szene sagen schon lang, dass man die Erlebniskultur der Neonazis endlich unterbinden muss, denn genau dort werden Gelder und Anhänger akquiriert.«

»Wir sind aber nicht in Thüringen«, wandte Ruger ein.

»Nein, sind wir nicht, aber die Neonazi-Szene ist international vernetzt. Einer der wichtigsten Netzwerker Europas sitzt nun mal in Deutschland. Ich sage das nur, weil Sie nicht überrascht sein müssen, falls die hier so groß auflaufen.«

»Was Sie da sagen, Herr Zimmermann, wir sprechen also von einem möglichen Terrorakt? Hier bei uns?«, fragte Jäger.

»Denkbar.« Zimmermann griff wieder an seine Fingergelenke, verzichtete aber auf weiteres Knacken.

»Solange auch bei der AfD so ein Müll gepostet wird, ist es eben schwierig. Und unter uns: Ich bin mir auch nicht immer sicher, wie viel Rückhalt die wirklich haben. Außerdem gilt die Versammlungsfreiheit für diese abscheulichen Konzerte. Ganz einfach. Fragen Sie beim Verfassungsschutz nach. Meinungsfreiheit eben. Die AfD sitzt im Bundestag. Sagen Sie das also den Politikern!«, verteidigte sich Ruger. Der Staatsanwalt verschränkte die Arme. »Immerhin haben wir das Netzwerkdurchführungsgesetz seit Anfang 2018.«

»Ja, schön, haben wir. Hat ja aber im Grunde nichts daran geändert, dass immer noch nur das verboten ist, was vorher auch schon verboten war.« Zimmermann blätterte in seinen Unterlagen. »Jetzt brauchen wir nur noch mehr Kräfte, die sich darum kümmern.«

Ruger machte eine ausschweifende Handbewegung. »Ja, dann schauen Sie nur mal zu Facebook. Die haben ein paar hundert Mann in einem Büro in Berlin sitzen, die sich Tausende von Kommentaren anschauen sollen, die gemeldet wurden. Wir kommen den bösen Idioten einfach nicht hinterher.«

»Lassen Sie uns bitte bei der Sache bleiben«, forderte Polizeipräsident Jäger. »Reden wir von Terrorverdacht, ja oder nein?«

Zimmermann kaute auf seiner Unterlippe. »Es war nicht leicht, Undercover-Leute in die rechtsradikalen Netzwerke einzuschleusen. Jeder braucht eine eigene rechtsradikale Vita, muss aktiv auftreten und so weiter. Das sind Hierarchien, man muss sich hoch–«

»Terrorverdacht, ja oder nein?« Jäger trat unruhig von einem Bein auf das andere. Seine Stirn lag in tiefen Falten.

Zimmermann stöhnte und schüttelte den Kopf. »Noch haben wir keine konkreten Anhaltspunkte.«

Auweiler atmete erleichtert aus, dann zeigte er mürrisch auf die Leinwand. »Was passiert denn da gerade?« Vor ihnen poppten immer weitere Kommentare auf, und immer wieder war Sibylle Hundhammer auf einem Scheiterhaufen zu sehen.

»Wir befinden uns hier in einem Troll-Netzwerk. Das sind solche Tagesbefehle, ausgegeben von den Rangoberen in diesem Netzwerk: ›Stört in folgenden Frontabschnitten, also etwa bei Facebook, Twitter und YouTube, ab zwanzig Uhr.‹ In diesem Fall«, Zimmermann zeigte auf den Verlauf, »geht es um die Seite unserer Stadt ab neun Uhr dreißig.«

Ruger nickte. »Das ist ein großes Problem, das ist mir durchaus bewusst. Aber es gibt klare Vorgaben, wann etwas gelöscht werden muss.«

»Klare Vorgaben schon«, sagte Zimmermann, »aber fließende Grenzen, wann etwas wirklich gegen Paragraf 130 des Strafgesetzbuches verstößt und wann die Volkshetze eben nicht greift.« Er scrollte ein wenig nach oben. »Hier haben wir zum Beispiel 19/8, das steht für ›Sieg Heil‹, und hier steht ›Adolf is back‹ in den Zahlen 192.«

»Volksverhetzung«, korrigierte Ruger und verschränkte die Arme.

»Wie dem auch sei. Das Schlimme ist doch, dass durch diese komprimierten Hasskommentare der Eindruck entsteht, das wäre eine riesige Gruppe, die die Klimademo und unsere Stadt bedroht. Darum geht es doch, oder? In Wirklichkeit aber ist dieser Hass von einer kleinen Gruppe nur gut organisiert«, sagte Busch.

»Exakt«, sagte Zimmermann.

Auweiler hielt sich die Hand an den Hals, als wolle er einen Krawattenknoten lockern, aber da war keiner. Busch stand auf und schenkte ihm Wasser nach.

»Solange wir keinen Beweis haben, dass die Marschbefehle mit der Geiselnahme zu tun haben –«, begann Ruger, doch Goffer fiel ihm ins Wort.

»Und dann? Irgendwann feststellen, dass die in den Troll-Netzwerken längst alles organisiert haben?«

»Meine Herren, bitte, dafür ist nicht die richtige Zeit«, versuchte Jäger, die Runde zu beruhigen. Er fuhr sich mit einer Hand durch seinen Bart.

»Richten Sie hier sofort einen Ticker für das Intranet ein. Ich will, dass alle immer in der Zeit sind. Da soll auch alles zur Demo kommen, aber sonst eben nichts.«

»Ist erledigt.« Zimmermann tippte, dann erschien der Newsticker zur Geiselnahme. »Das andere richtet ein Kollege gerade ein.«

»Können wir die Friday-Leute nicht einfach absagen?«, fragte Auweiler und wippte mit seinem Stuhl. Es quietschte wieder, und er sah entschuldigend in die Runde. »Ich meine, wo jetzt das Wort Terror schon ein paarmal gefallen ist.«

»Herr Zimmermann sagte es bereits, wir haben keinen hinreichenden Beweis«, sagte Sito und sah zu dem Monitor, der die aktuellen Nachrichten übertrug.

Die anderen folgten seinem Blick und sahen die Schlagzeilen: »Geiselnahme an der Universität Konstanz *** Eilmeldung *** Geiselnahme an der Universität Konstanz *** Klimagipfel in Gefahr *** Eilmeldung *** Die Polizei ist noch zu keiner Stellungnahme bereit *** Eilmeldung …«

»Da haben Sie es!« Auweiler war aufgesprungen und stützte die Hände in die Seiten. Sein Hemd war an einer Seite aus der Hose gerutscht und hing über den Bund. »Die vermuten ja schon selbst, dass wir das Klimatreffen absagen.«

Jäger hob die Hand. »Wir klären das mit dem Innenminister.«

»Wenn wir jetzt mit einer Absage kommen, dann lösen wir womöglich ein riesiges Chaos aus«, sagte Sito.

Der Bürgermeister legte seine Hände in den Nacken und seufzte. »Mir war dieses Ausmaß der Bedrohung nicht bewusst. Tun Sie das Nötigste. Ich will nicht, dass ausgerechnet hier …« Er schluckte den Rest herunter, schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. »Ich will, dass wir die Sicherheit der jungen Leute garantieren können. Ich bin hier der Bürgermeister. Hier ist kein Platz für Gewalt.«

»Dann sind wir uns einig. Ich spreche mit dem Innenminister, wir müssen umgehend eine Pressekonferenz geben, damit die Leute nicht aus den sozialen Netzwerken informiert werden. Der Terrorverdacht bleibt in diesen vier Wänden. Sie, Zimmermann, beobachten das weiter. Auch wenn wir hier zum Warten verurteilt sind, müssen wir tun, was wir tun können. Und dabei gilt: Ein Kollaps in der Stadt ist unter allen Umständen zu vermeiden, haben wir uns verstanden?« Er stand vor ihnen, aufrecht und mit felsenfester Überzeugung nickte er in die Runde: »Wir schaffen das, meine Herren, wir schaffen das.«

Sito bewunderte Jäger in diesem Moment. Er wusste von seiner Krankheit, als Einziger, von der Sorge, wann das Zittern Oberhand über seinen Körper erlangen würde. Jäger stand auf und trat ans Fenster, um zu telefonieren. Sito ließ die anderen gehen und wartete. Als das Telefonat beendet war, ging er zu ihm.

»In zehn Minuten unten im Presseraum. Das Fernsehen ist unterwegs«, erklärte Jäger, den Blick nach draußen gerichtet. »Ich will Sie dabeihaben.« Er wandte sich an Sito. »Weshalb wollen die Leute diese Art der Öffentlichkeit?«

Sito zuckte mit den Schultern. »Genau das frage ich mich auch.«

Jäger sah wieder nach draußen. Der Baum vor dem Konferenzraum trug endlos viele Kastanien. »Ganz ehrlich, als ich vorhin den Kollegen Zimmermann gehört habe, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Rechten haben diesen Meinungskrieg fest im Griff, sie haben das Internet erobert, weil wir seit Jahren zusehen und alles verharmlosen. Der Terror ist längst in der Stadt.«

***

Ihre Eltern hatten gemeinsam mit ihr verschiedene Universitäten angesehen. Ihre Mutter war von der Idee, dass auch sie nach Konstanz gehen würde, natürlich begeistert, aber zur Sicherheit sollte sie sich über Alternativen informieren. An dem Tag, als sie sich im Allgäu auf den Weg nach Meersburg machten, um dort auf die Fähre nach Konstanz zu steigen, regnete es in Strömen. Ihre Mutter fluchte leise, aber unaufhörlich auf der Fahrt. Sie hatte sich das so schön ausgemalt: die Fahrt über den Bodensee, die Ankunft in Konstanz-Staad, dort mit dem Bus in die Stadt, ein wenig herumschlendern durch die vielen schönen Gassen der Altstadt, schließlich mit der Neuner-Linie hinauf zur Uni. Und dann so etwas: alles grau und nass draußen. Unerbittlich regnete es, und unerbittlich verfolgte ihre Mutter dennoch den Plan, ihr Konstanz so schmackhaft wie möglich zu machen.

Hilke musste lächeln, als sie sich gerade daran erinnerte. Vielleicht hätte sie ihrer Mutter gleich sagen sollen, dass sie längst vorhatte, in Konstanz zu studieren. Am Hafen, als die Mutter gerade über das Hochwasser von 2005 referierte – wie passend zu dem Regen –, hörte selbiger endlich auf. Die Sonne kam heraus und mit ihr das strahlende Lächeln der Mutter.

Hilke wischte die Gedanken an den Regen und die Tauben auf der Marktstätte ebenso weg wie die Tatsache, dass vor ihr noch ein Stapel Bücher lag, den sie lesen wollte. Sie war unkonzentriert. Dieses alte Militärfahrzeug, das sie vorhin auf dem Parkplatz gesehen hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Und sie wusste auch, weshalb: An der Windschutzscheibe hatte sie einen Totenkopf baumeln sehen. Wenn sie sich diesen jetzt in Erinnerung rief, dann lief es ihr eiskalt über den Rücken.

Hilke lehnte sich für einen Augenblick zurück, froh, in friedlichen Zeiten zu leben, und wissend, dass es auch wieder anders werden könnte. Sie hielt inne. War da ein Geräusch? Sie sah sich um. Da wieder. Schnelle Schritte. Irgendwo. Sie sah sich wieder um. Niemand war zu sehen. Sie war noch ganz allein in den ›heiligen Hallen‹, wie sie die Bibliothek gern mit einem Augenzwinkern bezeichnete.

Die Bibliothek der Universität Konstanz war ein besonderer Ort. Sieben Jahre lang war sie kernsaniert worden, 2017 dann endlich waren diese Maßnahmen abgeschlossen. Hilke hatte das Glück, schon in der neuen Bibliothek zu arbeiten. Im Eingangsbereich empfing einen nüchternes Grau, klare geometrische Strukturen, die großen Lichtkreise an der Decke und das leuchtende Gelb der Mittelwände. Einerseits fand sie das nicht gerade gemütlich, andererseits war sie in den Bann gezogen von der Klarheit des Konzeptes.

Ihre Gedanken waren schon wieder abgeschweift. Wieder hörte sie etwas, wieder sah sie sich um, stand dieses Mal sogar auf und beugte sich um eine Regalreihe, die ihr die Sicht zum Ausgang versperrt hatte. Nichts. Sie merkte, dass ihr Puls sich beschleunigte. »Hallo?«, fragte sie vorsichtig in den Raum. Nichts. Sie setzte sich wieder, vorsichtig und flach atmend. Energisch schüttelte sie den Kopf.

Spinn ich jetzt? Ganz ruhig, du bist in der Bibliothek.

Hilke schlug entschieden das Buch auf und beugte sich darüber, als sie Schreie hörte. Sie kamen vom Gang und dröhnten durch ein Megafon. Es dauerte, bis die Worte ihr Gehirn erreichten, vermutlich begriff sie erst beim dritten Mal, was da gerade passierte. Sie solle die Bibliothek verlassen, hieß es, sofort. Wer zurückbleibe, werde erschossen.

Die Worte hallten durch die Bücherreihen, hallten wider vom Boden und von der Decke, umfingen sie. Sie packte ihre Stifte in ihr Mäppchen und stand auf, als wäre es wichtig, den Platz ordentlich zu verlassen. Für einen Moment verharrte sie, dann klappte sie das Buch zu. Jetzt sah sie einen Mann mit Sturmmaske und einer alten Uniform. In einer Hand hielt er ein Gewehr.

»Los jetzt, raus hier!«, schrie er, doch die Stimme kam nur gedämpft an ihr Ohr. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, kam an ihm vorbei, roch seinen rauchigen Atem.

Vor der Bibliothek warteten bereits andere Menschen, aber sie kannte niemanden. Schreie folgten, weitere Befehle drangen durch die Halle. Zum Eingangsbereich sollten sie alle laufen. Keiner wagte einen Ausbruch. Unterwegs hörten sie noch mehr aufgeregte Rufe, Stolpern, einige stürzten. Im Eingangsbereich der Universität warteten an die zweihundert Menschen.

Hilkes Herz galoppierte. Erst jetzt traf es sie wie ein Schlag: Das hier war keine Übung, es war auch kein übler Scherz. Es war todernst.

***

Schweiß lief ihm über die Stirn, obwohl es nicht sonderlich warm war. Noch widerstrebte es ihm, mit dem Ärmel darüberzuwischen. Er fühlte die Tropfen an seinem Hemdkragen. Es war ein kariertes Hemd, überall blaue und braune Linien, die einander kreuzten. Anna hatte gelacht. Schon lange hatte er kein kariertes Hemd mehr getragen, stattdessen Rollkragenpullis und eine Weile Langarmshirts mit Sakko darüber. Heute also ein kariertes Hemd, das jetzt Schweißtropfen sammelte. Seine Hand glitt langsam in seine Hosentasche. Enzig war froh, sich für die etwas weitere Stoffhose entschieden zu haben – er hatte Platz, sein Smartphone abzutasten, im Moment aber vor allem Angst, es würde ihm aus den Händen rutschen.

Miriam beobachtete ihn. Sie wusste, worauf es jetzt ankam, das konnte er ihr ansehen. Unmerklich nickte sie ihm zu, dann stand sie entschlossen auf.

»Hey, du, hinsetzen«, rief der Mann, der die Gruppe bewachte und sofort seine Waffe auf Miriam richtete.

Miriam hob die Arme. »Ich wollte nur eine Frage stellen.«

»Setz dich hin«, rief ein anderer barsch.

»Könnten wir vielleicht etwas zu trinken haben? Es ist so stickig. Bitte.«

Der Mann drehte sich zu seinen Kollegen und lachte übertrieben. »Es ist stickig, ha, und ein Getränk möchte die Dame bestellen. Na so was. Klar, wir bestellen ein paar Cocktails.«

Miriam trat noch einen Schritt auf ihn zu. Enzig hielt die Luft an. Er kannte ihre Entschlossenheit, er kannte auch ihre Sturheit. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie am Arm zurückgehalten, aber ihm war klar, dass sie dieses Manöver seinetwillen gestartet hatte.

»Hören Sie«, sagte Miriam ruhig und senkte ein wenig den Kopf. »Ich wollte nur höflich fragen, ob Sie vielleicht Wasser organisieren könnten. Ich wollte keinesfalls Ihre Position hier in Frage stellen.« Sie lächelte. »Wie heißen Sie denn?«

»Halt’s Maul«, erklang eine Stimme aus dem Hintergrund, und Enzig wusste nicht, wen der dazugehörige Mann meinte, Miriam oder seinen Kollegen, aber wahrscheinlich meinte er beide.

»Ich kann Sie ja Jochen nennen.« Miriam sah an ihm vorbei zu dem anderen. »Und Sie könnte ich Gert nennen.«

Gert kam auf das Podium zugelaufen, stapfte auf Miriam zu und baute sich vor ihr auf. »Dir hat man wohl ins Gehirn geschissen. Was soll der Mist von wegen stickig? Hältst du uns für blöd?«

Die beiden am Rand Stehenden wurden unruhig.

»Was ist denn da los bei euch?«, rief der eine, und der andere sah sich nach den Männern an der Tür um.

»Ich wollte lediglich Wasser von Gert und Jochen«, rief Miriam trotzig zurück.

»Hey.« Gert rempelte Miriam an, doch sie hatte sich gleich wieder gefangen. »Du hältst jetzt das Maul, sonst …« Er richtete die Waffe direkt auf sie. Plötzlich erhob sich der ältere Herr und hob beschwichtigend die Hand. Er kam zu Miriam und stellte sich schützend dazwischen. Enzig beobachtete die Szene und staunte über den Mut des Mannes. Ein Raunen ging durch die restliche Gruppe am Boden. Die zwei Männer, die vorhin ebenfalls versucht hatten, sich aufzulehnen, hielten sich bereit. Enzig hoffte inständig, dass sie nicht ein weiteres Mal versuchen würden, handgreiflich zu werden. Es wäre der falsche Zeitpunkt, auch für Miriam wurde es langsam Zeit, sich zurückzuziehen.

»Ich wollte wirklich nur Wasser, ehrlich, Gert.«

Gert holte tief Luft und öffnete den Mund, beherrschte sich aber.

»Wir können Wasser bestellen«, rief einer vom Gang.

Miriam nickte langsam. »Dann gehen wir jetzt einfach auf unsere Plätze zurück, in Ordnung? Sie haben hier das Kommando.« Sie drehte sich um und wollte gerade losgehen, hielt dann aber inne und wandte sich noch einmal an Gert und Jochen. »Ich bin Miriam. Vermutlich wäre es nicht schlecht, wenn Sie auch Namen hätten. Wir haben sicher einiges zu besprechen heute.«

»Du vorlaute kleine –« Gert kam nicht weiter, der andere legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie hat recht, oder?« Jochen sah zu dem älteren Mann. »Hat sie doch, oder?« Der nickte erschrocken.

»Was wird das hier?«, raunte ihm sein Kollege zu.

»Hey, was zum Teufel treibt ihr da auf der Bühne?«

Enzig hatte auf einen Schlag ein etwas klareres Bild der Gruppe. Das hat Miriam großartig gemacht, dachte er, und professionell obendrein. Sie hatte dem anderen das Gefühl gegeben, die Kontrolle zu haben, und dennoch dafür gesorgt, dass die Geiselnehmer sich positionieren mussten.

»Bist du von der Polizei oder was?«, fragte der Größere jetzt Miriam. Seine Stimme klang zornig.

»Nein, Gert, ich studiere hier«, antwortete Miriam unaufgeregt.

»Hör auf, mich Gert zu nennen.«

»Dann verrate mir doch deinen richtigen Namen.«

»Du blöde –« Wieder hielt ihn sein Kollege zurück. »Was denn? Die will mich nur aushorchen, die denkt, ich bin blöd.«

»Vergiss meinen Freund hier. Nenn mich Hans«, sagte der andere mit ruhiger Stimme. »Wir reden, wenn es etwas zu besprechen gibt. Und du, alter Mann, setz dich endlich wieder hin, verstanden?« Er trat einen Schritt zur Seite und sagte etwas lauter zu allen Anwesenden: »Habt ihr das gehört? Sie ist jetzt eure Sprecherin.«

Langsam ging Miriam zu ihrem Platz zurück. Enzig konnte sehen, wie die Anspannung von ihr abfiel. Er konnte auch die hasserfüllten Augen von Gert in ihrem Rücken sehen und fröstelte.

Miriam warf ihm im Vorbeigehen einen Blick zu, der vor allem Hoffnung in sich trug, doch als sie sich setzte, sah Enzig, dass ihre Hände zitterten. Sie hatte sich einem der Geiselnehmer entgegengestellt, sich damit aus der Menge herausgehoben. Dieser Gert würde sie fortan kennen und mit Argwohn betrachten.

Enzig wusste, dass es Hans war, an den er sich halten musste. Der hatte beschwichtigt und eingelenkt, er war bereit zu reden, und deshalb mussten sie mit ihm verhandeln. Noch wirkte er sehr kontrolliert, andererseits war Enzig sicher, dass Hans nicht der Drahtzieher hier war. Doch Enzig dachte noch etwas anderes, nämlich dass er den älteren Herrn auf jeden Fall im Auge behalten sollte. Und eine weitere Sache hatte er in den letzten beiden Minuten ebenfalls entschieden: Er würde Sito nicht schreiben, dass Miriam hier war. Soweit er informiert war, hatte Miriam das spontan entschieden, und für den Fall, dass Sito nicht Bescheid wusste, sollte das auch so bleiben. Auch die Geiselnehmer sollten auf keinen Fall von ihrer Verbindung zum zuständigen Hauptkommissar erfahren.

Das Smartphone in seiner Tasche fühlte sich hart und heiß an, doch das war nur Einbildung. Immerhin hatte er eine Nachricht schreiben können. Wer wusste schon, wie viele Chancen er dazu noch bekam?

***

Sibylle Hundhammer saß in ihrem Hotelzimmer und ging ihre Rede noch einmal durch. Sie hatte schon einige Reden gehalten, aber das heute war eine Nummer größer. Das Fernsehen würde sie begleiten, auch hatte sie zivilen Personenschutz. Mehrere tausend Menschen wären dabei, der Ministerpräsident wollte kommen, es war ihr großer Tag. Greta hatte ihr am Morgen schon eine Nachricht geschickt und alles Gute gewünscht. Kraft und Mut und Nachhaltigkeit in ihren Worten.

Sibylle atmete tief durch. Sie stand auf und ging zum Fenster, öffnete es und sah auf den Rhein hinaus. Ein schönes Zimmer mit Blick auf den See oder den Fluss hatte sie sich von den Veranstaltern gewünscht, etwas Kleines, nur nicht im mondänen Inselhotel, wo sie sich wie eine Betrügerin an der Sache vorgekommen wäre. Das ehemalige Dominikanerinnen-Kloster, das zum feudalen Hotel umgebaut worden war und den Blick auf die Uferpromenade bot, war kein Ort, an dem sich Sibylle auf eine Rede zur Nation über Mäßigung des Lebensstandards vorbereiten wollte.

Der Duft des Wassers tat gut, befreite ihre Lungen. Möwen flogen vorbei und kreischten. Die kleine Pension im ehemaligen Fischerviertel von Konstanz bot einen Blick auf den Rhein und die gegenüberliegende Uferseite, wo früher Fabriken die Sicht zerstörten. Heute lagen dort Die Bleiche, ein schönes Restaurant mit Biergarten am Rheinufer, die Rheinterrassen des Volksbades, der Herosé-Park und seit ein paar Jahren auch die große Wohnanlage sowie das noch junge Bodenseeforum, in dem sie heute sprechen würde. Eindrucksvoll war es schon, ob es die Stadt Konstanz wirklich zu einer Kongressstadt werden ließ, war fraglich. So viel hatte Sibylle in der Presse mitbekommen. Elf Säle konnte man mieten im Bodenseeforum, der größte bot Platz für zweitausend Personen. Dort würde sie sprechen. Es gab außerdem eine Liveschaltung in andere Säle und nach draußen, denn sie rechneten mit wesentlich mehr Menschen.

Sibylle legte den Kopf in den Nacken. Sie könnte jetzt auch wie ihre Freundinnen in einer Vorlesung sitzen. Ein Semester hatte sie in Freiburg Theaterwissenschaften studiert, dann aber feststellen müssen, dass sie nicht die innere Ruhe besaß, sich mit trockenem Lehrstoff abzugeben, während draußen aus ihrer Sicht die Welt den Bach runterging. Dieses Gefühl, das sie seit ihrer frühesten Jugend kannte, dass man doch etwas tun musste und dass es letztendlich doch darum ging, den Menschen da draußen die Augen zu öffnen, hatte sie nicht mehr losgelassen.

Sie hatte Gretas Aufstieg verfolgt, und ihre Bewunderung für die fünf Jahre jüngere Greta war unermesslich. Nicht weil sie alles einfach so hinnahm, ihre Bewunderung richtete sich vor allem an die Bereitschaft, sich aufzumachen und die eigene Komfortzone zu verlassen. Ein Jahr war es nun her, dass Sibylle ihr Studium auf Eis gelegt hatte und sich ausschließlich um die Organisation der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland kümmerte. Ihr Talent zu reden hatte sie von ihrem Vater, einem Soziologieprofessor, äußerlich war sie ihrer Mutter, einer Kinderärztin, ähnlich. Dass offenbar viele Menschen sie gern anschauten, war bei ihrer Mission nicht nötig, aber ganz sicher auch nicht schädlich.

Sie hatte selbst gestaunt, wie schnell sie zur Galionsfigur der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung geworden war.

Unten auf der Uferstraße sah sie eine kleine Gruppe Enten über den Weg watscheln. Ein Radfahrer hielt an und ließ die Gruppe passieren. Er sah zu ihr nach oben. Lachend zuckte er mit den Schultern. Die Entenmutter schnatterte ungeduldig.

Sibylle griff nach dem Band, das vor ihr auf der Fensterbank lag, und machte sich einen Pferdeschwanz. Hellblau leuchtete die Schleife in ihren dunklen langen Haaren.

***

Die Pressekonferenz war kurz und schmerzlos und hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen. Längst war landesweit über eine Eilmeldung verbreitet worden, dass sich in Konstanz an der Universität in den frühen Morgenstunden eine Geiselnahme ereignet habe. Den Kommissaren Marc Busch und Paul Sito sowie dem Polizeipräsidenten Simon Jäger blieb nur die Bestätigung des Tatbestandes. Sie versicherten, dass alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet würden, um die Geiseln nicht zu gefährden, dass ab sofort aber aus eben diesem Grund eine polizeiinterne Nachrichtensperre verhängt werde, da man nicht wisse, wie die Geiselnehmer mit der Außenwelt in Kontakt stünden. Man bitte die Presse, sich zurückzuhalten, auch wenn die Geiselnahme quasi live im Internet mitzuverfolgen sei.

»Denken Sie an Gladbeck«, mahnte Jäger, und Sito konnte Augenrollen im Publikum sehen. Sätze wie »Das waren andere Zeiten« und »Heute wäre das alles ganz anders« und »Überhaupt ist dieser Fall hier ohnehin schon öffentlich« standen den Anwesenden ins Gesicht geschrieben.

Derzeit sei leider nach wie vor unklar, wie viele sich an der Universität verschanzt hatten. Dafür habe die Polizei eine Hotline eingerichtet, hier könnten besorgte Menschen anrufen, wenn sie Angehörige unter den Geiseln vermuteten. Diese Bekanntgabe könne die Presse selbstverständlich immer wieder teilen. Bedauerlicherweise bestehe zum jetzigen Zeitpunkt noch völlige Unklarheit über die Forderungen. Man versprach, spätestens um zwölf Uhr eine weitere Meldung herauszugeben. Die Demonstration sowie der Klimaschutzgipfel seien nicht gefährdet, sondern schon seit Langem minutiös geplant und absolut sicher.

Noch während Jäger sprach, piepste Sitos Smartphone. Unter dem Tisch warf Sito einen flüchtigen Blick darauf, dachte, es könnte von Miriam sein, die irgendwo in Gaienhofen am Seeufer saß und womöglich noch keine Ahnung hatte, was hier bei ihnen los war. Ein schönes Foto von ihr, ein lieber Gruß, das hätte ihm auf jeden Fall Mut gemacht. Aber es war eine Nachricht von Enzig. Sito zuckte zusammen. Auf den ersten Blick konnte er nur ein Buchstabenchaos erkennen, aber sofort gab er Busch und Jäger ein Zeichen, dass sie dringend an dieser Stelle abbrechen müssten.

»Ein Notfall«, erklärte Jäger und verließ eilends den Raum, Busch und Sito folgten im Laufschritt. Um neun Uhr einundfünfzig saßen sie an Sitos Schreibtisch und studierten Enzigs Nachricht.

»Wir wissen also, dass der Kollege sein Dienst-Smartphone behalten hat. Das ist schon mal gut«, stellte Jäger fest und beugte sich über Sito.

Busch fuhr mit dem Finger die Zeilen nach. »Was könnte das heißen?«

»Ich nehme an, er hatte nicht viel Zeit«, erklärte Sito unnötigerweise und mit einem ernsten Blick auf Busch.

»Ts«, machte Busch und verdrehte die Augen, »das ist mir auch klar. Ich wollte nur sagen, dass ich es nicht lesen kann.«

»Das finden wir raus«, erklärte Jäger. »Hoffentlich kann Enzig sein Smartphone eine Weile behalten.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Sito. Er machte sich Notizen und tauschte die Buchstaben, die in der Reihe standen, sinnvoll aus und um. »Hier: Es sind sechs Geiselnehmer, und hier, das heißt sicher bewaffnet. Unklar … Was soll das heißen?«

»Anführer«, rief Jäger, der die Buchstabenkombinationen im Kopf durchgespielt hatte. Er kannte das Problem, wenn er seiner Tochter WhatsApp-Nachrichten schrieb, da kamen oft wilde Sachen heraus.

»Stimmt«, sagte Busch. »›Unklar, wer der Anführer ist‹, schreibt Enzig.« Busch richtete sich auf. »Wir haben also sechs bewaffnete Männer im Audimax und laut Sekretärin rund fünfzig Menschen. Das sind schlechte Voraussetzungen für einen Sturm.«

»Absolut«, ereiferte sich der Polizeipräsident, »aber so weit sind wir auch noch lange nicht.«

»Ich hab nur laut gedacht«, sagte Busch. »Wir müssen alles durchspielen.«

»Ich weiß.« Jäger schnaufte schwer, dann nickte er. »Sie haben vollkommen recht. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Wir werden auf jeden Fall auch einen Plan ausarbeiten. Für einen Sturm, meine ich. Hatten Sie schon Kontakt mit dem SEK? Wer ist denn der Einsatzleiter heute?«

Sito nickte. »Georg Moller. Ich hab mit ihm telefoniert, er hat bereits alles, was er braucht – Baupläne, Infos von Zimmermann aus dem Netz. Sie arbeiten bereits an den möglichen Szenarien. Aber wir haben jetzt einen Mann inside, das könnte uns einen Vorsprung verschaffen.«

Jäger stemmte die Hände in die Hüften. »Er riskiert sein Leben.«

»Ich weiß«, sagte Sito. Er hoffte, dass dieser Mann inside cool genug war für diese Aufgabe. Er wusste, dass Enzig klar sein würde, worauf es ankam, aber er wusste eben auch, dass Enzig nicht der nervenstärkste Kollege war, eigentlich besaß er überhaupt keine Nerven. Am besten war er, wenn er allein an seinem Schreibtisch denken und arbeiten konnte, dann war er wirklich überragend, aber so? Sito rieb sich das Kinn. Er spürte einen unangenehmen Druck in der Magengegend.

»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?« Busch legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Sito sah nach oben und hob die linke Augenbraue. »Roman ist nicht gerade –«, begann er.

»Hören Sie, haben wir irgendeine Möglichkeit, mit einer Drohne in die Universität zu gelangen? Irgendein Zugang für eine Kamera?«, fragte Jäger. »Ich will wissen, was da vor sich geht. Und für den Fall, dass wir stürmen –«

Sito drehte sich in seinem Schreibtischstuhl um und sah zu Jäger auf. »Sie sprechen jetzt doch schon vom Ernstfall?«

Jäger nickte. »Sie wissen, dass das hier keine normale Geiselnahme ist. Die werden nicht gleich ein wenig Geld und ein Fluchtauto fordern.« Er kramte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch und schnäuzte. »Und ich will nur gute Vorarbeit geleistet haben, wenn das SEK hier eintrifft. Lang wird es nicht mehr dauern, oder?«

Sito sah zur Uhr und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben vollkommen recht. Es geht sicher nicht um Geld.« Er stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee. »Ich hab mit Moller schon gesprochen wegen der Drohne. Die Möglichkeit besteht natürlich, aber noch nicht jetzt. Der Einsatzleiter vom SEK hat eindeutig davon abgeraten, vor der ersten Forderung hier aktiv zu werden. Wir müssen erst wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

»Ja, verstehe.« Jägers Atem klang rasselnd.

Ein Klingelton verkündete eine weitere Nachricht. Sie sahen alle gleichzeitig auf das Smartphone von Sito, das mitten auf dem Tisch lag. »Roman Enzig«, stand da. Sito ballte kurz die Fäuste. Er wusste, dass er ab jetzt bei jedem Klingeln seines Handys zusammenzucken würde, immer mit dem Gefühl, Roman sei aufgeflogen. Die neue Nachricht von Enzig war schon klarer verfasst: »Ein Geiselnehmker nent sic Hnas. Mitihn kannman reden. Ein alter Mann ist hier. Merkwürddg. Passt niht dazzzu.«

Sito sah von Jäger zu Busch.

»Das war schnell«, sagte Busch anerkennend.

Still schweigt der See

Подняться наверх