Читать книгу Rebeccas Schüler - Tira Beige - Страница 12


Ka­pi­tel 6

Оглавление

Die letz­ten zwei Tage bis zu den Os­ter­fe­ri­en fühl­ten sich wie Mo­na­te an. Re­bec­ca fehl­te jeg­li­che Kraft, um über­haupt die Ber­ge von Ma­te­ri­a­li­en in ih­rem Ar­beits­zim­mer ab­zu­a­r­bei­ten. »Oh Gott«, ent­fuhr es ihr un­wei­ger­lich, als sie die zwei gro­ßen Sta­pel an Blät­tern neben ih­rem PC ent­deck­te und sich Schuld­ge­füh­le über die nicht ab­ge­hef­te­ten Zet­tel in ihr hoch­a­r­bei­te­ten.

Re­bec­ca schlurf­te nie­der­ge­drückt zum Dreh­stuhl und setz­te sich ge­nervt an den Schreib­tisch. Wo soll­te sie nur an­fan­gen, wenn sich die gan­zen Ak­ten ver­teilt auf zwei Sta­peln ne­ben dem PC türm­ten? Aber sie muss­te ir­gend­wie be­gin­nen, denn in den Fe­ri­en, wenn sie mit Paul im Os­ter­ur­laub war, konn­te sie nichts ma­chen.

Am meis­ten är­ger­te sie, dass in stres­si­gen Zei­ten der gan­ze Schreib­tisch vol­ler Un­ter­la­gen lag und sie un­ge­hal­ten über das Cha­os mi­nu­ten­lang nach wich­ti­gen Ma­te­ri­a­li­en für die Un­ter­richts­vor­be­rei­tung such­te.

Noch schlim­mer war al­ler­dings, wenn sie das Ge­such­te zu­fäl­lig beim Ab­hef­ten wie­der­fand und fest­stell­te, sich zu­sätz­li­che Ar­beit ge­macht zu ha­ben. Das äu­ße­re Durch­ein­an­der auf dem Schreib­tisch spie­gel­te ihre in­ne­re Un­ord­nung wi­der. An­ge­fan­gen bei den nicht auf­find­ba­ren Ar­beits­blät­tern, hin zu dem nicht en­den wol­len­den Är­ger in ih­rer Klas­se, wei­ter über ihre nicht zu de­fi­nie­ren­den Ge­füh­le zu Paul und zu Elou­an.

Re­bec­ca hat­te nicht an­satz­wei­se Lust dar­auf, ver­nünf­ti­ge Stun­den für die Schü­ler vor­zu­be­rei­ten, ge­schwei­ge denn das Cha­os auf ih­rem Schreib­tisch zu be­sei­ti­gen. Da­her ließ sie die wir­ren Pa­pier­ber­ge lie­gen und be­rei­te­te nur spo­ra­disch den Un­ter­richt vor, wäh­rend Paul auf dem Sofa saß und Mu­sik hör­te, die laut aus sei­nem Lap­top drang.

Er hat­te sich vor dem Ur­laub ei­ni­ge Tage frei­ge­nom­men. »War­um räumst du nicht mal im Wohn­zim­mer auf?«, rief ihm Re­bec­ca vom Ar­beits­zim­mer aus zu. Kei­ne Re­ak­ti­on.

Mit dem Ab­schluss der Un­ter­richts­vor­be­rei­tung war auch der Nach­mit­tag ge­lau­fen. Müh­sam er­hob sie sich von ih­rem Platz und ging ins Wohn­zim­mer, wo Paul im­mer noch auf dem Sofa saß, im In­ter­net surf­te und ne­ben­bei Mu­sik hör­te.

»War­um räumst du nicht mal ein we­nig auf, wenn du jetzt Zeit hast?«, frag­te sie er­neut. Paul schau­te sie nur an, sag­te aber nichts, was bei Re­bec­ca einen tie­fen Seuf­zer aus­lös­te.

O Gott, das Ar­beits­blatt! Nicht die­ses Ar­beits­blatt für die Acht­kläss­ler! Mit Schre­cken wur­de Re­bec­ca klar, dass sie das Wich­tigs­te, was sie für die heu­ti­ge Kunst­stun­de in ih­rer Klas­se brauch­te, zu Hau­se ver­ges­sen hat­te. Um­dre­hen war kei­ne Op­ti­on, denn es wa­ren nur noch etwa fünf Ki­lo­me­ter bis zur Schu­le zu über­brü­cken.

Jetzt räch­te sich, dass sie sich ges­tern un­zu­rei­chend über die Vor­be­rei­tung ge­setzt und heu­te Mor­gen nicht noch ein­mal ihre Schul­ta­sche kon­trol­liert hat­te, wie sie es sonst im­mer tat. Aber sie war zu spät dran. Auch das pas­sier­te so gut wie nie.

Am liebs­ten wäre Re­bec­ca auf der Stel­le um­ge­dreht und hät­te sich krank­ge­mel­det aus Angst, in ih­rer ei­ge­nen Klas­se zu ver­sa­gen.

Nicht zum ers­ten Mal hat­te sie den Ein­druck, ab­so­lut nicht in die Schu­le zu ge­hö­ren. Zwar floss je­den Mo­nat ein ge­re­gel­ter Lohn auf ih­rem Kon­to ein, aber sie hat­te we­der das Ge­fühl, dass sie auch nur an­nä­hernd das ver­dien­te, was ihr zu­stand, noch dass sie in dem Be­ruf der Leh­re­rin je­mals glü­ck­lich wer­den konn­te.

Sym­pa­thie und Em­pa­thie für die Be­lan­ge von Her­an­wach­sen­den zu emp­fin­den – das schaff­te sie auch nach Jah­ren noch nicht. Vor al­lem Kin­der und Ju­gend­li­che in der Pu­ber­tät er­kann­ten mit ih­ren fei­nen An­ten­nen so­fort, ob man ih­nen ge­wo­gen war und merk­ten auch gleich, wenn man Apa­thie ge­gen sie heg­te.

Re­bec­ca frag­te sich, ob die­ser Job sie je­mals glü­ck­lich ma­chen wür­de, ob­wohl er ihr Si­cher­heit, ge­re­gel­te Ar­beits­zei­ten, Fe­ri­en und gu­ten Lohn bot.

Und nun auch noch das ver­damm­te Ar­beits­blatt, das zu Hau­se auf dem Schreib­tisch lag. Doch statt um­zu­dre­hen oder Paul zu be­nach­rich­ti­gen, fuhr sie wie un­ter Dro­gen starr wei­ter, auf den Ver­kehr um sie her­um flu­chend. Flu­chend auf sich selbst …

Die Ein­fahrt zur Schu­le war pas­siert. Me­cha­nisch roll­te sie auf den lee­ren Park­platz, nahm ihre an­ge­stamm­te Park­lü­cke in Be­schlag und trat in die kal­te, bei­ßen­de März­luft hin­aus. Der Wind zerr­te hart an der Ja­cke und er­zeug­te Gän­se­haut. »Ich wer­de die Stun­de ir­gend­wie hin­ter mich brin­gen«, mur­mel­te Re­bec­ca ge­reizt vor sich hin, wäh­rend die Ab­sät­ze ih­rer Schu­he wie Pis­to­len­ku­geln auf dem Kopf­stein­pflas­ter auf­tra­fen und wie je­den Mor­gen an der Wand des Schul­ge­bäu­des wi­der­hall­ten.

Die Siebt­kläss­ler, die sie in der ers­ten Stun­de er­war­te­ten, stell­te sie mit ei­ner grö­ße­ren, fast die ge­sam­te Stun­de ein­neh­men­den Part­ner­a­r­beit ru­hig. Wenn der Kunst­un­ter­richt an­nä­hernd so glimpf­lich ab­ge­lau­fen wäre …

Doch schon, als sie sich den Kunst­räu­men nä­her­te, hör­te sie den Lärm auf dem Flur, der für ihre Oh­ren zur Be­las­tungs­pro­be wur­de. Andy und Mar­tin strit­ten sich laut­stark, wa­r­fen sich üble Be­lei­di­gun­gen an den Kopf, vul­gä­re Aus­drü­cke fie­len. Eine Mas­se an Schü­lern stand da­ne­ben und schau­te dem Trei­ben be­lus­tigt zu. Nie­mand griff ein, um die Streithäh­ne zu be­ru­hi­gen.

Als Re­bec­ca ihre Klas­se er­reich­te, nahm kein Schü­ler No­tiz von ihr. Sie wur­de we­der be­grüßt noch dar­um ge­be­ten, die Aus­ein­an­der­set­zung zu schlich­ten. Die Ju­gend­li­chen wa­ren sich wohl der Er­folg­lo­sig­keit schon vor­her be­wusst.

Statt­des­sen ging Re­bec­ca in der brei­ten Mas­se ih­rer Schü­ler un­ter. Als sie die Tür zum Kuns­t­raum auf­schloss, wa­ren Mar­tin und Andy die ein­zi­gen Schü­ler, die nicht nach drin­nen gin­gen, son­dern auf dem Gang ver­weil­ten.

Mitt­ler­wei­le hat­te die Stun­de be­gon­nen, aber die Jun­gen stan­den noch im­mer vor der Tür und wa­r­fen sich Sät­ze in der Ju­gend­spra­che an den Kopf. »Al­ter, was willst’e von mir?«, schrie Andy.

»Du sollst auf­hö­ren, bei El­len so schei­ße über mich zu la­bern, Al­ter! Checks doch end­lich, dass die nicht auf dich steht!«, gab Mar­tin über­le­gen zu­rück.

»Boah, du bist ein Idi­ot!«, ent­fuhr es Andy.

Re­bec­ca woll­te ein­mal Stär­ke be­wei­sen und rief ih­nen vom Kuns­t­raum aus zu: »Andy, Mar­tin. Die Stun­de hat be­gon­nen. Kommt rein!« Wie zu er­war­ten war, re­a­gier­te kei­ner der bei­den auf ihre Wor­te.

»Die Alte will doch von dir ge­nau­so we­nig was. Die ist doch mit dem Ty­pen aus der 10c zu­sam­men. Bist du blind, Al­ter? Die ge­hen doch schon seit An­fang Ja­nu­ar mit­ein­an­der.«

Andy war hoch­rot im Ge­sicht und auch Mar­tin sah aus, als wäre er je­den Au­gen­blick auf sei­nen Kon­tra­hen­ten los­ge­gan­gen. Eine Prü­ge­lei bahn­te sich an.

Re­bec­ca sah den Klas­sen­spre­cher mit ei­nem Mäd­chen am vor­de­ren Tisch ste­hen. Sie wink­te ihn zu sich und bat ihn, die Jun­gen ins Zim­mer zu ho­len. Nach we­ni­gen Wor­ten be­ga­ben sich Mar­tin und Andy in den Raum, wür­dig­ten sich aber kei­nes Bli­ckes mehr. Re­bec­ca nutz­te die Auf­merk­sam­keit, die die Mit­schü­ler den bei­den Jungs wid­me­ten, um aus­zu­pa­cken.

Da je­der der Acht­kläss­ler dar­auf war­te­te, wer als Ers­ter los­pol­tern wür­de, war es re­la­tiv ru­hig und Re­bec­ca konn­te zü­gig zur Be­grü­ßung der Klas­se schrei­ten. »Gu­ten Mor­gen.«

»Mor­gen«, mur­mel­ten ihr ei­ni­ge Schü­ler ge­lang­weilt ent­ge­gen.

»Ihr habt euch in den letz­ten Stun­den mit den Ta­ges­zei­ten in der Kunst aus­ein­an­der­ge­setzt, in­dem ihr selbst das The­ma künst­le­risch be­a­r­bei­tet habt. Heu­te ist un­se­re letz­te Stun­de vor Os­tern. Das heißt, dass wir das Pro­jekt ab­schlie­ßen wer­den. Ihr wer­det dazu eine neue Zei­chen­me­tho­de ken­nen­ler­nen.«

Re­bec­ca über­leg­te, ob sie ih­ren Feh­ler zu­ge­ben soll­te oder nicht, be­schloss aber, die Wahr­heit zu sa­gen: »Lei­der habe ich das Me­tho­den­blatt zu Hau­se ver­ges­sen. Wir müs­sen im­pro­vi­sie­ren. Das dürf­te aber kein Pro­blem dar­stel­len.«

Jule gei­fer­te: »Frau Pe­ters, bei uns tra­gen Sie sich feh­len­de Ma­te­ri­a­li­en so­fort ein. Wo ist die Spal­te im Klas­sen­buch, in der wir Ihre feh­len­den Un­ter­richts­mit­tel ein­tra­gen kön­nen?« Re­bec­cas Kie­fer mahl­te, wäh­rend die Klas­se johl­te.

El­len trat nach. »In wel­ches Heft dür­fen wir ein­tra­gen, wenn Sie mal was nicht rich­tig ma­chen? Bei uns wird ja al­les gleich brüh­warm den El­tern er­zählt.«

Es wur­de im­mer lau­ter. »Ge­nau!«, er­ho­ben sich be­ja­hen­de Stim­men. Die Si­tua­ti­on glitt Re­bec­ca aus den Hän­den und es­ka­lier­te in dem Mo­ment, als sie dar­über nach­dach­te, was zu tun war. Hilf­los schau­te sie in die Mas­se und es schien kei­nen Schü­ler mehr zu ge­ben, der sich für sie in die Bre­sche schla­gen woll­te.

Jetzt räch­te sich, wie acht­los sie mit Schü­lern um­ging. Wie sehr sie den Be­ruf als blo­ßen Job, den es zu er­le­di­gen galt, an­sah. Ihre Ge­dan­ken ha­l­fen Re­bec­ca in dem Mo­ment nicht wei­ter und ihr »Pst« oder »Sch« brach­te kei­ne Bes­se­rung, weil es zu laut war, als dass sie noch Ge­hör fand. »Ruhe!«, schrie sie laut und hilf­los durch den Raum. Ver­geb­lich.

»Hey!« Es half nichts. Je­der Schü­ler hat­te auf ein­mal et­was zu sa­gen, so­gar die ru­hi­gen Acht­kläss­ler schie­nen kein Hal­ten mehr zu ken­nen. Am liebs­ten wäre Re­bec­ca aus dem Klas­sen­zim­mer ge­rannt und an­ge­sichts der sie zer­flei­schen­den Klas­se nie­mals wie­der­ge­kom­men.

Wenn jetzt nicht ein Wun­der ein­trat, war sie ge­lie­fert, so­viel stand fest. So­gar der Ver­such, den Klas­sen­spre­cher um Hil­fe zu bit­ten, schei­ter­te, denn un­ter der sich hoch­schrau­ben­den Laut­stär­ke ver­stand nie­mand mehr sein ei­ge­nes Wort.

Auf ein­mal öff­ne­te sich mit ei­nem Hieb die Tür und Jan Kö­nig, ein Kol­le­ge, der un­ter den Leh­rern und Schü­lern als be­son­ders laut­stark ver­schri­en, aber als durch­set­zungs­star­ker Mann auf­zu­tre­ten ge­wohnt war, trat ener­gi­schen Schrit­tes in den Raum hin­ein. »Was ist denn hier los?«, pol­ter­te er auf­ge­regt und laut.

Ne­be­n­an wa­ren die Wer­ken­räu­me, in de­nen der Leh­rer be­vor­zugt Un­ter­richt er­teil­te.

Die Schü­ler er­starr­ten vor Schreck und mach­ten gro­ße Au­gen.

»Es ist Stun­de!«, schrie er. Sein Ge­sicht war ab­so­lut ernst und kon­zen­triert. Die Ju­gend­li­chen kusch­ten über die al­les ein­neh­men­de Er­schei­nung Kö­nigs.

Je­mand be­gann zu tu­scheln. »Was gibt’s denn da schon wie­der zu re­den? Es hat vor zehn Mi­nu­ten zum Un­ter­richt ge­klin­gelt und ihr lärmt hier her­um! Wie heißt du?«, frag­te er den Schü­ler, der sich ein kur­z­es Ge­mur­mel er­laubt hat­te.

»Si­mon«, raun­te ei­ner der Acht­kläss­ler.

»Si­mon. Aha. Wer­de mir den Na­men mer­ken. Wehe, du fällst mir un­an­ge­nehm in der Pau­se auf, Si­mon«, sag­te Kö­nig streng zu dem ei­gent­lich sonst stil­len Ju­gend­li­chen.

»Wo ist ei­gent­lich euer Leh­rer?«, frag­te er su­chend in die Klas­se. »Wenn kein Leh­rer da ist, müsst ihr ins Se­kre­ta­ri­at ge­hen und das mel­den. Das schreibt die Haus­ord­nung vor.«

Erst jetzt nahm der Kol­le­ge die am Lehrer­tisch ste­hen­de, ver­un­si­cher­te Re­bec­ca wahr. »Ah, Frau Pe­ters. Sie sind wohl eben erst ge­kom­men, wie?«, frag­te er sie. Vor Schreck, aber glü­ck­lich vor Er­leich­te­rung, dass er ihr ge­ra­de den Arsch ge­ret­tet hat­te, nick­te sie. »Gut«, gab er nun ge­las­se­ner zu­rück und ließ die Tür kra­chend ins Schloss fal­len.

Die Schü­ler stan­den, wohl noch im­mer ein­ge­schüch­tert von der Er­schei­nung des Kol­le­gen, ge­wis­sen­haft an ih­rem Platz. Die schre­ck­e­r­füll­te At­mo­sphä­re hielt ei­ni­ge Mi­nu­ten an. Das lei­ses­te Quat­schen fiel auf, so­dass Re­bec­ca so­fort re­a­gie­ren konn­te.

Auf ein­mal spiel­te das ver­ges­se­ne Ar­beits­blatt kei­ne Rol­le mehr. Ju­les und El­lens Be­mer­kun­gen wa­ren ver­ges­sen, eben­so der Streit von Andy und Mar­tin. Da­bei hät­te sie sich ge­ra­de mit die­sen Vie­ren noch ein­mal un­ter­hal­ten müs­sen, ver­gaß es aber schlicht­weg. Sie führ­te den Schü­lern die neue Me­tho­de für den Zei­chen­un­ter­richt vor und ließ sie dann den Rest der Stun­de ar­bei­ten, er­leich­tert dar­über, dass ihr Kol­le­ge Kö­nig den Kopf ge­ret­tet hat­te, der so kurz vor den Os­ter­fe­ri­en bei­na­he auf der Guil­lo­ti­ne der Miss­ach­tung ge­lan­det wäre.

Rebeccas Schüler

Подняться наверх