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Kapitel 1
Оглавление»Machst du jetzt etwa einen auf Domina?«
»Du sahst gerade so aus, als würdest du darauf stehen …«
Rebeccas Fuß ruhte auf der Brust ihres Freundes, während ihr der warme Wasserdampf ins Gesicht schlug. Paul lag auf dem Rücken lang gestreckt in der Badewanne, lächelte süffisant und schaute an ihrem nackten, schlanken Körper hinauf. Ein letztes Mal kreuzten sich ihre Blicke, bevor Rebecca ihren Fuß anhob und aus der Badewanne stieg.
»Morgen werde ich wieder die Schüler dominieren«, sagte sie. Pauls Grinsen verzog sich zu einer spöttischen Grimasse. »Warum lachst du so boshaft?«, entfuhr es ihr.
»Mal sehen, wer wen dominieren wird«, amüsierte er sich.
»Idiot!«
Rebecca griff mit einer blitzartigen Bewegung zu ihrem flauschigen weißen Handtuch und trocknete sich ab.
»Ach komm schon, Beccy, war doch nicht so gemeint.« Was für ein unbesonnener Satz! Sie drehte sich demonstrativ weg. Reichte es nicht, dass sie selbst an sich zweifelte?
Vom Spiegel aus beobachtete sie, wie Pauls Blick von ihrem Oberkörper nach unten zu ihrem Po wanderte. Dann tauchte er, auf dem Rücken liegend, seinen Kopf in das warme Badewasser, um sich die Haare zu waschen.
Rebecca drehte sich um und warf einen letzten Blick in die Wanne, wobei ihr die langen braunen Haare gegen die Wange klatschten und eine feuchte Strähne dort kleben blieb.
Pauls untersetzter Oberkörper wippte bei jeder Bewegung, die er unter Wasser an seinem Kopf vollzog, leicht auf und ab. Vor sieben Jahren sah er noch besser aus. Ihre Liebe zu ihm auch.
Ihre trockenen Füße trugen Rebecca ins gegenüber vom Bad gelegene Schlafzimmer, wo sie sich ein frisch duftendes Nachthemd überwarf. Nichts konnte die Angst überdecken, der sie sich unweigerlich stellen musste, wenn sie morgen wieder die Schule betrat. Mal sehen, wer wen dominieren wird. Pauls lose daher gesprochenen Worte waren gar nicht so abwegig; machten sie Rebecca doch auf das Problem aufmerksam, wer die wirkliche Autorität im Klassenraum besaß. Sein unüberlegter Satz traf einen wunden Punkt in ihr, den sie am liebsten ausradiert hätte.
Im Vergleich zu den letzten zwei erholsamen Winterferienwochen löste der kleinste Gedanke an den Unterricht morgen und an den in den kommenden fünf Wochen bis zu den Osterferien Gruselgefühle in Rebecca aus. Sie sah schon jetzt die nervtötenden Siebtklässler, ihre unberechenbaren Achter und die langweiligen Oberstufenschüler aus Klasse 11 vor sich.
Rebecca verließ das Schlafzimmer und sank auf das Sofa in der Wohnstube nieder. »Oh man …«, flüsterte sie, als sie den Fernseher einschaltete, kein passendes Abendprogramm fand und wahllos durch die Fernsehkanäle zappte. Den Ellenbogen legte sie auf der Lehne ab und stützte den Kopf schwer lastend in die Handfläche.
Nach zweimaligem Durchschalten blieb sie bei einer Reisesendung hängen. Die Moderatorin schlenderte an einem fernen Ort über weißen Sand. Rebecca verzog neidisch den Mund, als sie die Frau betrachtete, die weit weg von jeglichem Alltagsstress aller Sorgen frei am Strand entlang spazierte. Im Hintergrund rauschte das Meer vor der Küste. Es musste später Nachmittag sein, denn das warme Licht umfing die blonden Strähnen ihres Haares und ließ es in der Sonne wie goldenes Stroh aufblitzen.
Erinnerungen an den ersten Urlaub mit ihrem Freund bildeten sich vor Rebeccas innerem Auge ab, verschwanden aber sofort, als sie Paul im Bad rufen hörte: »Beccy? Kannst du mir mal neues Shampoo holen?«
Sie rennt über den Gang. Geräuschlos. Der viele Sand, der in kleinen weichen Dünen aufgeschichtet vor ihr liegt, erschwert das Fortkommen. Weiter hechten. Vorwärts. Aber der feine weiße Strandsand liegt vor den Türen und es bleibt nur ein Springen von Düne zu Düne übrig. Fast hätte sie die Decke des Gebäudes berührt. Noch ein großer Sprung. Das Klassenzimmer der Siebener. Svenja, Steven, Mona und Jonas laufen gegenüber der Tür in einer Nische über ein aufgeschüttetes Eiland. In der Hand halten sie Eisbecher, Cocktails und Sonnenschirme. Wo sie das herhaben, will sie von den Kindern wissen. Aus La Reunion. Von außen fällt gleißendes Licht in das Gebäude, sodass die blonden Haare von Svenja fast weiß erscheinen. Mechanisch, mit herabgesenkten Köpfen laufen sie stur hintereinander im Kreis das Eiland der Nische ab. Noch rechtzeitig den Klassenraum erreicht. Stimmengewirr ertönt.
Sie öffnet die Tür und steht mit beiden Beinen im Wasser. Die Tische sind wüst durcheinander angeordnet. Nackte und halbnackte Schüler drängen sich in dem Raum, planschen in dem auf dem Boden befindlichen Wasser. Robert liegt auf dem Rücken, während Natalie in Siegerpose über ihm steht und ihm den Fuß auf seine Brust drückt.
Da sind auch Martin und Ellen aus der achten Klasse, die eng beieinander stehen und lachen. Ein Junge aus der elften Klasse hält aufreizend eine Siebtklässlerin im Arm. So viel Wasser unter ihren Füßen. Der Schulhof ist das Meer. An die Außenwand des Gebäudes schlagen hohe Wellen an. Paul steht mit einer Badehose bekleidet am Fenster und will nach draußen springen. »Auf La Reunion gibt es Haie, Paul, das weißt du doch. Schwimm’ nicht zu weit raus!« Doch er hört nicht. Ruckartig springt er vom Fensterbrett des Klassenraums in den Ozean hinein.
Piep Piep Piep Piep Piep Piep. 5:00 Uhr morgens. Rebecca richtete sich schlaftrunken im Bett auf, um den gellenden Apparat auf dem Nachttisch auszuschalten.
Ihr blieb nicht viel Zeit, die wirren Eindrücke im Kopf zu sortieren. Gähnend schleppte sie sich ins Badezimmer, wo die kurze Nachtruhe unaufhörlich ihren Tribut forderte. Unter der Dusche stehend überzog sich ihr Körper mit Gänsehaut. Nur mühsam konnte sie die Augen offenhalten, während Ausschnitte aus dem Traum vorbeizogen.
Als Rebecca das Schlafzimmer wieder betrat, schlummerte Paul friedlich vor sich hin, verbarg jedoch sein Gesicht unter der Bettdecke, als er das eingeschaltete Licht bemerkte. Ein Gefühl der Eifersucht durchflutete Rebecca. Neid auf den Partner, der erst in wenigen Stunden aufstehen musste.
Trotz Schlafdefizit ließ sie keine Hektik zu: Aufstehen, Duschen, Anziehen, eventuell Haare waschen, föhnen, essen, Toilette, Zähne putzen, die mitzunehmenden Schulmaterialien kontrollieren, Tasche einräumen, zum Auto gehen. Das war angesichts der Gewohnheit in weniger als einer Stunde möglich. Außer heute Morgen.
Um nicht zu sehr die Augen zukneifen zu müssen, dimmte Rebecca die Deckenbeleuchtung in der Küche. Schummrig vollzog sie die routinierten Schritte, um halbwegs Normalität nach den zwei Wochen Ferien herzustellen.
6:05 Uhr. Die über zwanzig Kilometer Fahrt zwischen Zuhause und der Arbeitsstelle wurden heute, am ersten Schultag nach den Winterferien, zu einer gedankenverlorenen Angelegenheit. Gelbe und weiße Lichter kamen auf der anderen Straßenseite entgegen. Sie blieben anonym und farblos, die Fahrer hatten kein Gesicht. Helle Lichter fuhren in Ketten vorbei und wurden im Rückspiegel zu roten, kleiner werdenden Punkten. Manchmal überholte ein gelbes Licht und wurde zu zwei roten Punkten vor dem Auto. Bisweilen fuhr eine ganze Kette roter Lichter vor ihr her.
Es war noch immer finster, als Rebecca wie fast jeden Morgen als eine der Ersten auf dem Parkplatz der Schule eintraf. Das nächste routinierte Morgenprogramm wurde durchgezogen: Kopieren, Lochen, E-Mails checken und Klassenbuch kontrollieren. Kopien für die Siebtklässler waren anzufertigen.
Während sie gähnend vor dem Kopierer auf dessen Einsatzbereitschaft wartete, betrat Harald das Lehrerzimmer und begrüßte sie mit einem lang gezogenen »Guten Morgen. Bist ja wieder zeitig heute da.« Erneutes Gähnen.
»Morgen, Harald. Na, hattest du ein paar schöne Ferien?« Das übliche Bla Bla, wenn man sich zwei Wochen nicht gesehen hatte.
Harald gehörte zu Rebeccas engerem Freundeskreis im Kollegium, unterrichtete genau wie sie Deutsch. Seine schlohweißen Haare glänzten in der morgendlichen Beleuchtung des Lehrerzimmers.
»Angela und ich waren zu Hause. Ich habe ein paar Arbeiten kontrolliert und mich erholt. Nichts Aufregendes.«
Im Gegensatz zu ihm war Gelassenheit für Rebecca zum Fremdwort geworden. Was auf Arbeit passierte, musste mit nach Hause genommen und ausladend erörtert werden, selbst wenn es nichts mehr zu ändern gab. Wenn sie im gleichen Tempo wie bisher weiterarbeitete, würde ein Herzinfarkt unausweichlich sein. Dass sie noch über dreißig Jahre arbeiten gehen musste, erzeugte einen Widerwillen in ihr, der ihr Angst bereitete.
»Hast du einen anstrengenden Tag vor dir? Wirkst genervt«, stellte Harald fest.
»Hm«, brummte Rebecca vor sich hin. »Freue mich auf das Mittagessen.«
Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben und ein gekünsteltes Grinsen blieb zurück. Der Blick musste gequält aussehen, denn Harald sagte: »Das wird schon« und klopfte ihr ermutigend auf die Schulter.
Wenn es bloß mit ein paar motivierenden Worten getan wäre! Davon wurde ihre seit Jahren bestehende Unfähigkeit, Kinder vernünftig zu verstehen, nicht behoben. Heute waren es »bloß« die Siebtklässler, bei denen Rebecca gleich Deutsch unterrichten würde. Mehr noch graute ihr vor ihrer eigenen unberechenbaren achten Klasse.
Wenn sie an den langweiligen Grundkurs in Deutsch dachte, besserte sich ihre Laune ebenfalls nicht. Dabei sollte er das Herzstück ihres Unterrichtsalltags werden: Als sie vor den Sommerferien erfahren hatte, dass sie zum ersten Mal in ihrer Berufslaufbahn einen Kurs bekommen würde, kannte die Freude darüber keine Grenzen: Endlich ruhiger Unterricht, motivierte Schüler, anregende Diskussionen über literarische Texte.
Doch dann das: schleppender Unterricht, fehlende Mitarbeit. Man konnte nicht behaupten, dass die zwölf Schüler störten, im Gegenteil. Sie bearbeiteten, was man ihnen auftrug. Sie lasen, wenn sie lesen sollten, sie schrieben, wenn sie schreiben sollten. Aber sie redeten nicht.
So in Gedanken versunken, hätte Rebecca beinah einen neuen Zettel übersehen, der am Schwarzen Brett des Lehrerzimmers aushing. Der Oberstufenberater hatte ihn vermutlich kurz vor den Ferien ausgehängt und am oberen rechten Rand mit einem roten Stift eine Art Blitz darauf gemalt. Unter dem in Großbuchstaben geschriebenen Namen ELOUAN KLAGE erkannte sie seinen Stundenplan.
»Ist das ein neuer Schüler?« Harald rückte seine Brille auf der Nase zurecht und betrachtete eingehend das Geschriebene.
»Nein, ich kenne …«, redete er langsam vor sich hin. »Elouan war schon einmal vor einigen Jahren bei uns. Ich kann dir beim Essen mehr über ihn erzählen, wenn du magst.«
Der neue Schüler würde die elfte Klasse besuchen und dienstags und donnerstags bei ihr im Grundkurs Deutsch haben.
Mittlerweile erreichte die Lautstärke im Lehrerzimmer ein für Rebeccas Ohren ungekanntes Höchstmaß, das ihre in den Ferien so hart erkämpfte Stille beendete. Immer mehr Kollegen strömten hinein und tauschten sich über ihre Ferienwochen aus. Was für eine oberflächliche Kommunikation! Das laute Getratsche erzeugte einen Tsunami in ihrem Kopf und sie beschloss, sich auf den Weg zum Klassenzimmer der 7a zu machen.
Schon beim Öffnen der Tür rollte ihr eine Wolke aus abgestandener, muffiger Luft entgegen. Trotz winterlicher Kälte öffnete Rebecca die seit zwei Wochen geschlossenen Fenster, stellte ihre Tasche auf den Boden ab und setzte sich auf den Lehrerstuhl. In zehn Minuten würden die ersten Schüler kommen. Eine erquickliche Ruhe vor dem Sturm legte sich über den Raum. Ihr Blick schweifte nach draußen, wo es angefangen hatte zu schneien. Langsam glitten die Flocken vom Himmel in den großen Schulhof herab. Einige Unterrichtsräume, die sie von ihrem aus überblicken konnte, waren ebenfalls beleuchtet: Kollegen, die einen Tafelanschrieb vornahmen, auf die Schüler wartende Lehrer.
Rebecca stand auf und begab sich an die Heizung. Die wohlige Wärme, die entströmte, arbeitete sich ihren Rücken hoch. Ein letztes Mal Ruhe, gleich war es vorbei damit, denn auf dem Gang hörte sie die ersten Stimmen und Schuhgetrappel. Die Stimmen kamen näher. Anspannung. Mit einem Ruck flog die Tür auf. Marcus, ein ruhiger Schüler, betrat als Erster den Raum. Ein Nicken in Richtung Heizung. Nach ihm erschienen drei weitere Jungen, die Rebecca mit einem teilnahmslosen »Morgen, Frau Peters!« begrüßten und sich dann zu ihren Plätzen begaben, um ihre Unterrichtsmaterialien auszupacken.
Zwei pubertierende Mädchen, lachend und aufreizend gestylt, johlten ein freches »Guten Moooorgen!« in den Klassenraum hinein. Natürlich! Damit jeder mitbekam, dass die zwei Diven da waren. Eins der Mädchen, Natalie, gackerte besonders laut, um die Aufmerksamkeit der männlichen Mitschüler auf sich zu ziehen. Mit Erfolg. Nachdem die Dreizehnjährige ihre Jacke an die Garderobe des Klassenraums gehängt hatte, richtete sie ihr knappes rosa Shirt zurecht, das für die Jahreszeit deutlich zu dünn war. Ihr Po wurde durch eine blaue, sehr eng sitzende Röhrenjeans passend zur Geltung gebracht. Ganz schön gewagt für eine Teenagerin ihres Alters. Rebecca sinnierte darüber nach, ob sie als Mutter ihre Tochter so aus dem Haus gehen lassen würde.
Natalies lange, hellbraune Haare fielen ihr in Locken geschmeidig über die Schultern. Wie beabsichtigt richteten sich die Blicke der pubertierenden Jungen auf das Mädchen.
Mit dem Auffüllen des Klassenraums maximierte sich die Lautstärke. Noch drei Minuten bis zum Stundenbeginn. Rebecca trottete am Lehrertisch auf und ab. Ein letztes Mal sortierte sie ihre Unterlagen, überprüfte, ob genug Kreide bereitlag, legte ihr Lehrbuch griffbereit hin, schaute auf die Armbanduhr, glich sie mit der Wanduhr ab. Dann ertönte das Klingelzeichen. Ein kräftiges Ziehen an der Tür signalisierte: Jetzt kann es losgehen! Doch die Schüler verharrten an ihren Plätzen und tauschten sich über die Ferien aus.
»Es hat geklingelt!«, brüllte Rebecca. Den Erwartungen gemäß reagierte bloß ein Teil der Jugendlichen auf ihre Worte. »Es hat geklingelt, Herrschaften!« Ihre lauter gewordene Stimme zwang einige unaufmerksame Schüler dazu, sich von ihren Plätzen zu erheben.
»Wir haben viel Zeit. Wir können auch länger machen.« Sie könnte sich sofort ohrfeigen für diese zwei unbedacht ausgesprochenen Sätze, die die Unruhe beheben sollten. Die Siebtklässler belächelten müde den Versuch. Sie wussten, dass die Androhung selten durchgezogen wurde.
Rebecca musste erkennen, dass die Ferienidylle schon nach den ersten Minuten dem harten Schulalltag gewichen war.
Nach anstrengenden fünf Minuten erfolgte endlich die Begrüßung, auch wenn sich einzelne Schüler weiterhin umdrehten oder miteinander sprachen. »Guten Morgen!«, ertönte ihre strenge Lehrerstimme. Unmotiviert murmelte die Klasse ihre Begrüßung entgegen.
Eine Abbildung zum Thema Zeichensetzung sollte die Aufmerksamkeit der Pubertierenden auf den neuen Unterrichtsinhalt lenken. »Svenja, beschreibe bitte die Karikatur!«, forderte Rebecca am Overheadprojektor stehend die Schülerin auf, die so kurz nach Stundenbeginn wieder mit Natalie im Gespräch versunken war. Vermutlich bequatschten die beiden, wie lange Natalie in den Ferien Netflix geschaut oder mit wem Svenja wilde Nachrichten auf WhatsApp ausgetauscht hatte.
»Was?«, fragte die Jugendliche geistesabwesend. Einige Mitschüler stöhnten und erklärten ihr die Aufgabe. »Na ja, ich sehe einen Jungen, der nicht weiß, ob er ein Komma setzen soll.«
Rebecca stieß einen schweren Seufzer aus. »Karikaturen habt ihr doch im Geschichtsunterricht …« Lautstärke brandete auf. Heikles Thema. Sie selbst hatte schon Probleme genug, Disziplin in diese Schulklasse zu bringen. Der Geschichtslehrer war noch übler dran.
Einige Schüler lachten oder winkten ab. »Bei Herrn Gläser lernen wir nichts, Frau Peters«, rief Basti aus der hinteren Bankreihe nach vorn. »Der kann nicht erklären«, ergänzte ein weiterer Schüler ganz vorn.
Weitere Siebtklässler schalteten sich in die Diskussion ein. Plötzlich ging es nicht mehr um die Karikatur, sondern nur noch um den Lehrer, der von den Schülern heruntergeputzt wurde. Die Situation drohte Rebecca zu entgleiten. Wie so oft.
»Okay! Okay! Ruhe jetzt! Ist ja gut!«, rief sie verzweifelt in die grölende Menge hinein.
Als es leiser wurde, erklärte sie die Methode und nahm eine stille Schülerin dran, die das Bild souverän beschrieb. Drei Minuten sollte die Einstiegsphase dauern – verstrichen waren zehn.
Selbst danach drang Rebecca nicht zu den Jugendlichen durch, die ihren Unmut lautstark kundtaten: »Wozu müssen wir das denn schon wieder behandeln?«
Einfach unbeirrt weitermachen und die Diskussionen unterbinden, so wie es im Referendariat gelehrt wurde. Aber das war leichter gesagt als getan.
Kurzerhand ignorierte Rebecca die Störer, ermahnte zur Ruhe und zog das Tempo an. »Leute, ihr macht die meisten Fehler im Bereich der Kommasetzung. Ihr braucht dringend eine Wiederholung! Außerdem müsst ihr Kommas setzen können, wenn ihr Bewerbungen schreibt oder Briefe. Versteht doch, dass …«
Bis auf wenige Ausnahmen hörte ihr niemand der dreiundzwanzig Schüler zu. Einige Jugendliche schauten gelangweilt an die Tafel und bekamen zumindest einen Teil der Übungen und Erklärungen mit. Andere redeten mit dem Banknachbarn oder malten auf ihren Unterlagen herum.
Endlich – das Klingelzeichen nach einer Dreiviertelstunde Schwerstarbeit. Die Schüler verließen quasselnd den Raum, während Rebecca wie erschossen in ihren Stuhl zurücksank und angesichts der anstehenden zwei Freistunden aufatmete. Ruhe.
Ein kurzer Griff zu den Schulmaterialien, die einsortiert werden mussten. Dann machte sie sich auf den Weg Richtung Lehrerzimmer. Die schwere Tasche zog ihre Schultern nach unten und ließ sie den Blick starr auf den nackten, grauen Boden richten.
Im Lehrerzimmer angekommen, fand sie einen Notizzettel der Sekretärin in ihrem Fach vor: »Frau Kresser wünscht Rückruf wegen Martin«. Die Festnetznummer hatte Frau Schneider mit Rot darunter geschrieben.
Rebecca stöhnte. Martin war der problematischste Schüler in ihrer Klasse: Seine Leistungen waren miserabel. Bisher reichten sie jedes Schuljahr, um nicht sitzenzubleiben. Aber nun schien die Situation ausweglos.
Neben den unterdurchschnittlich schlechten Leistungen hatte Martin massive Probleme damit, sich an Regeln und Absprachen zu halten. Er kommentierte permanent die Entscheidungen der Lehrkraft, störte, mischte den Unterricht und seine Mitschüler auf oder sorgte in den Pausen für lautstarke Auseinandersetzungen mit seinen Klassenkameraden. An ein ruhiges Arbeiten mit ihm im Unterricht war nicht zu denken. Rebecca wünschte sich, dass er die Schule am Schuljahresende verließ und sie ihn nie mehr wiedersehen musste.
Es schneite immer noch leicht, als sie sich auf den Weg ins Sekretariat begab. An den Fenstern des Schulgebäudes perlten die Tropfen ab. Das trostlose Wetter und die trist auf der Straße fahrenden Autos, die wie graue Mäuse über den Asphalt huschten, spiegelten ihre eigene desolate Gefühlslage wider.
Rebecca klopfte an die Tür zum Sekretariat an und trat ein. »Frau Schneider, Sie haben mir einen Zettel ins Fach gelegt. Ich möchte den Anruf gleich erledigen.« Die Sekretärin nickte und wies ihr den Platz gegenüber ihres Schreibtisches zu. Nach der Übergabe des Telefons wählte Rebecca die Nummer. Es klingelte, aber niemand hob ab. »Komisch. Eigentlich müsste sie zu Hause sein. Ich warte kurz und versuche es dann noch mal.«
Sie fiel in den Stuhl zurück, dessen weiche Lehne sich an ihren Rücken anschmiegte. Für einen kurzen Moment der Ruhe stützte sie den Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte eine Hand an die Wange.
Die Sekretärin hatte sich inzwischen dem Computer zugewandt und begann damit, etwas einzutippen. Die Zeit strich dahin und Rebecca richtete ihren Blick abermals aus dem Fenster hinaus, wo sie noch immer das grau-graue Winterwetter vorfand.
Sie zuckte zusammen, als ein lautes Öffnen der Tür hinter ihr ertönte. Schulleiter Tannenberger trat mit einem Mann, einer Frau und einem Jugendlichen heraus. »Also, wenn etwas sein sollte, Sie können sich jederzeit bei mir melden, wir finden einen Termin«, sagte der Direktor in freundlichem Tonfall und gab den Dreien förmlich die Hand. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Rebecca erblickte.
Sie schaute zu den drei aus dem Büro heraustretenden Personen, die sich am Tresen des Sekretariats befanden und im Begriff waren, den Raum zu verlassen.
Nur flüchtig streifte Rebecca der Blick des etwa zwanzigjährigen Mannes. Er griff in seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare und sah zu Boden, wirkte angespannt.
In dem kurzen Moment, in dem sie sein ebenmäßiges Gesicht wahrnahm, durchfuhr sie eine ungeahnte Sehnsucht, dieses näher zu ergründen. Auch sein Body wirkte wenig jungenhaft. Unter dem schwarzen Pullover zeichnete sich ein gut trainierter Körper ab. Als die Familie das Sekretariat verließ, erwischte sich Rebecca dabei, dem jungen Mann auf den Hintern zu starren, der sich unter der eng anliegenden Hose abzeichnete.
»Frau Peters, wollen Sie zu mir?«, fragte der Schulleiter, der noch immer im Türrahmen stand. Rebecca drehte sich ruckartig zu ihm herum.
»Wie bitte?«
Er lachte auf. »Ich dachte, Sie wollen zu mir, weil Sie hier warten.«
»Nein, ich muss jemanden anrufen«, erwiderte sie knapp.
»Ach so.« Tannenberger verschwand, die Tür hinter sich zuschlagend, in seinem Büro.
»Sagen Sie, Frau Schneider: Kennen Sie die Familie, die eben beim Schulleiter war? Ich habe die Leute noch nie vorher gesehen.« Die Sekretärin schaute im Terminkalender des Direktors nach.
»Familie Klage«, meinte sie, ohne vom Kalender aufzublicken. »Ihr Sohn Elouan wird ab morgen hier zur Schule gehen.«
Rebecca musste bei der Vorstellung, ihrem zukünftigen Schüler ungeniert auf den Po gestarrt zu haben, schmunzeln.
Dann griff sie zum Telefonhörer und wählte erneut. Ohne Erfolg. Das hieß eine Überstunde mehr für heute Nachmittag.
Nach dem Unterricht in Klasse 10 stand Rebecca gedankenverloren am Fenster und starrte in den Schulhof hinab, in dem sich die Schüler trotz der winterlichen Kälte tummelten. Der Wind hatte aufgefrischt und es schneite kräftiger. Die bunten Gestalten auf dem Hof trotzten der Kälte, warfen sich Schneebälle ins Gesicht und seiften sich gegenseitig ein.
Die große Buche, die Rebecca vom Fenster aus sah, wirkte wie ein tausende Jahre altes Bollwerk inmitten der ständig wechselnden Jahreszeiten und Gesichter, auf die sie Tag für Tag, Jahr ein Jahr aus herabblickte. Sie würde die Zeiten überdauern und in hundert Jahren noch behütend über den Kindern wachen.
Aber Gott, was war das für ein Tag! Das war nur einer von vielen! Wo würde sie in verdammten zehn, zwanzig oder mehr Jahren stehen? Würde sie endlich die Lehrerin sein, die sie sein wollte – respektiert und geachtet? Würden die Korrekturen weniger werden? Würde sie mehr Freizeit haben?
Während sie noch darüber nachdachte, leerte sich der Schulhof zum Ende der Pause. Rebecca griff nach ihrer schwarzen Schultasche, holte die Jacke aus dem Lehrerzimmer und ging in Richtung Mensa. Schreiende, aufgeregte Scharen von Pubertierenden kreuzten ihren Weg.
Harald saß schon am Tisch, als Rebecca eintraf. Er hatte einen Teller Nudeln mit Tomatensoße und Wurststückchen vor sich stehen und kaute langsam auf ihnen herum.
»Und wie war dein erster Tag?«, wollte Harald wissen, als sie sich hinsetzte.
Rebecca atmete tief durch. »Ging. Die Siebener haben erwartungsgemäß gestört. Morgen habe ich die Elfer, da ist es ruhiger«, sagte sie leicht lächelnd und schob sich einen Happen Nudeln in den Mund.
Ihr war bewusst, dass die Oberstufenschüler ihre Ruhe haben wollten und daher nicht störten. »Ach siehst du, da fällt mir ein: Ich habe doch einen neuen Schüler bei mir im Kurs sitzen: Elouan Klage. Er und seine Eltern waren heute beim Schulleiter. Ich war zufällig im Sekretariat und habe sie gesehen. Du sagtest doch, du würdest ihn kennen.«
Der ältere Mann räusperte sich, machte eine kleine Kunstpause. »Elouan Klage war schon einmal bei uns.«
»War er ein Jahr im Ausland und kommt jetzt wieder oder was?«
Wieder ein Räuspern. Er legte die Gabel beiseite, beugte sich leicht nach vorn und sagte dann bestimmt: »Nein, Elouan war vor …«, überlegte er, »drei oder vier Jahren bei uns an der Schule. Ich glaube Mitte der elften Klasse war er plötzlich weg. Von der damaligen Klassenlehrerin erfuhren wir, dass der Junge psychische Probleme hatte und daher in eine Nervenheilanstalt gekommen war. Müsste in den Unterlagen noch alles zu finden sein.«
»Verstehe.« Rebecca überlegte kurz. »Wenn er nach drei Jahren in die Klasse 11 einsteigt, dann ist er ja …«
»Auf alle Fälle volljährig«, grinste Harald. »Mal sehen, wie er sich diesmal anstellt …«
Er nahm seine Gabel wieder in die Hand und aß weiter. »Was meinst du damit?«
»Nun ja, Elouan«, sagte er, »war ein cleveres Kerlchen, aber mit seiner verrückten Art hat er sich keine Freunde gemacht. Trat auf, als wäre er der Schulleiter hier, klebte am Lehrer dran, mischte sich ein, während Erwachsene sprachen.«
Schweigen legte sich über sie. Seine Worte hallten in Rebeccas Kopf nach. Auf sie wirkte er ganz normal.
Mit der Wurststulle in der Hand stand Rebecca am Dienstag vor dem Vertretungsplan des Lehrerzimmers, als Heidi, Elouans Tutorin, den Raum betrat. »Und, hattest du schon Deutsch bei Lou?«
Rebecca, die gerade dabei war, das Gewirr an Zetteln am Schwarzen Brett zu sortieren, erschrak und schaute Heidi ins Gesicht. Wen meinte die Biologiekollegin?
»Du unterrichtest doch Deutsch in meinem Kurs. Hast du Elouan schon kennengelernt?«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Nein, die kommende Stunde erst. Aber sag mal, Heidi, ich habe mich gestern mit Harald unterhalten. Über Elouan.«
Heidi lachte auf. »Bestimmt hat er ihn für verrückt erklärt.« Rebecca nickte.
»Du solltest dir ein eigenes Urteil bilden. Bei einem Kollegen ist er so, beim anderen so.«
»Wie alt ist er?«
»Zwanzig.« Heidi schaute auf die Uhr, die auch Rebecca daran erinnerte, dass der Unterricht bald begann. »Wir reden mal, wenn wir ungestört sind, ja?«
Rebecca schulterte ihre Schultasche und verließ das Lehrerzimmer, das inzwischen zu einem Stall voller wild gewordener Hennen und aufgeblasener Hähne mutiert war. Im Gegensatz dazu herrschte auf dem leeren Gang eine angenehme Stille. Nur die Absätze ihrer Stiefel erzeugten einen harten Takt, der an den Wänden des Gebäudes widerhallte.
Am Kursraum angekommen, packte sie das Deutschbuch und ihre Unterlagen aus. Vorfreude erfüllte sie angesichts des anstehenden Kennenlernens mit dem ihr noch unbekannten, aber höchst interessant erscheinenden Schüler.
Während die letzten Stimmen auf dem Schulhof verschwanden, betraten die ersten Elftklässler den Raum. Einer nach dem anderen ging zu seinem gewohnten Platz, packte die Schulsachen aus und wartete auf das Klingelzeichen. Bis auf Elouan waren alle da.
Die Elftklässler wärmten die Stühle an und starrten gelangweilt vor sich hin oder redeten mit dem Banknachbarn.
»Wir bekommen heute einen neuen Schüler. Hat ihn schon jemand gesehen?«, fragte Rebecca in die lustlose Runde, nachdem der Unterricht begonnen hatte. Alicia, ein cleveres, gut aussehendes Mädchen bejahte die Frage.
»Weiß Elouan, wo er jetzt Unterricht hat?« Die Schülerin zuckte die Schultern.
»Ich sehe mal nach«, sagte Rebecca und öffnete behutsam einen Spalt der Klassenzimmertür. Ihr Blick schweifte nach draußen auf den menschenleeren Gang.
Sie trat aus dem Raum und blicke um sich. Aber so wie sie den Schritt hinaus wagte, stand unerwartet ein schlanker junger Mann vor ihr und lächelte sie freundlich an. Er war Rebecca so nahe, dass sie sein männlich herbes Parfum riechen konnte. Er verströmte eine Aura, die nicht mit Worten zu erklären war. Ob er ihre Schüchternheit spürte? Rebecca fühlte die aufsteigende Wärme in ihrem Inneren. Ihre Wangen mussten glühen!
»Guten Tag«, sagte er freundlich, aber bestimmt. Seine Stimme war jugendlich kräftig. Sie strahlte Männlichkeit und Sanftmut gleichermaßen aus.
»Ich bin Frau Peters.«
»Elouan.«
Wie lyrisch weich er seinen ungewöhnlichen Namen aussprach.
»Nennen Sie mich doch bitte Lou.« Dabei schüttelte er ihre Hand. Der Griff war fest, aber nicht so kernig wie bei alten Männern.
Da war dieses vollkommene Gesicht, in das Rebecca eintauchte.
Der Moment dehnte sich. Der Händedruck war eine Sekunde zu lang, genau wie der Blickkontakt. Seine blauen Augen schienen ihre braunen zu durchbohren und für sich einnehmen zu wollen. Den Kampf hatte sie schon jetzt verloren.
Mit einem Male fielen Rebecca die Schüler im Zimmer ein, die auf die Fortsetzung der Unterrichtsstunde warteten. »Komm rein. Such’ dir einen Platz aus«, sagte sie mit gesenktem, hochrotem Kopf. Die Wärme seiner Berührung durchflutete sie noch immer.
Elouan packte seine Unterrichtsutensilien aus und sah sich nach den Mitschülern um. Einen intensiveren Blick widmete er der hübsch anzusehenden Alicia, die er freundlich anlächelte. Dann begann für Rebecca die erste Unterrichtsstunde mit ihrem neuen Schüler.