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Оглавление§ 7 Entwicklungen der Biokriminologie
Lektüreempfehlung: Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge.
Nützliche Websites: http://www.geneticsandsociety.org/article.php?id=4713.
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Biologische Erklärungen besitzen gemeinsame Funktionen: Sie verbinden biologische mit sozialer Abweichung, markieren schwer überwindbare Grenzen zwischen Normalität und sozialer Abweichung, stehen in einem besonderen Näheverhältnis zur staatlichen Strafverfolgung, reproduzieren und legitimieren deren Praxis der Exklusion von Schwer- und Karrierekriminellen und rechtfertigen die Selektivität der Strafverfolgung durch Abgrenzung der „Unverbesserlichen“ von Gelegenheitstätern.122
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Heute ist nur ein Teil der Erklärungen anlagebezogen; andere Erklärungen stützen sich auf biochemische Einflüsse der Umwelt, die durch die Nahrung, die Luft, durch Unfälle oder Krankheiten die Psyche in kriminogener Weise verändern können sollen.123 Die uns heute skurril anmutende Erkennbarkeit der Verbrecherpersönlichkeit [65] an leicht erkennbaren äußerlichen Merkmalen wird nicht mehr vertreten. Vor allem nicht evidente, nur noch der Fachperson durch aufwendige wissenschaftliche Prozeduren erkennbare, zumeist genetische, Merkmale werden in einen Zusammenhang mit Kriminalität gebracht.
3 Zudem wird der bereits von Lombroso als bloß typisch, jedoch nicht zwingend angenommene Zusammenhang zwischen bestimmten Anlagen und Kriminalität weiter gelockert. Der Anlageneinfluss wird nur noch im Sinne einer biologischen Prädisponiertheit und eines Risikofaktors für antisoziales Verhalten verstanden. Schon Lavater hat diese Einsicht weitsichtig formuliert:
„Keiner muss ein Bösewicht aus Anlage werden, aber alle können’s. Die Übeltat kann nicht stehenden Fußes sich dem Schädel einprägen – sowenig so und so ein Schädel diese oder jene Übeltat begehen muss.“124
4 Biosoziale Theorien rechnen mit einem Zusammenwirken von Anlagen- und Umwelteinflüssen. Durch die moderne Soziobiologie125 inspiriert, wird Umwelteinflüssen eine intermediäre, doch prinzipiell nachrangige Bedeutung zugestanden.126 Anstelle einer kurzschlüssigen Verknüpfung von ungünstiger Anlage und Kriminalität nach dem simplen Muster „Böses gebiert Böses“ wird angenommen, dass die biologische Prädisposition bei gegenläufigen Umwelteinflüssen latent bleiben und kompensiert werden kann. Dem entsprechend ist der Begriff der kriminellen Anlage im Sinne einer anlagebedingten Aggressionsbereitschaft bestimmter Menschentypen zu verstehen, deren Entwicklung je nach Umwelteinfluss auch in nicht kriminellen Bahnen verlaufen kann. Ein Beispiel bilden Zwillingsbrüder, von denen der eine die Karriere eines Gewaltverbrechers, der andere die eines Rausschmeißers in einem Nachtlokal einschlägt. Der biologische Genotyp eines Individuums bestimmt die Grenzen seiner möglichen Phänotypen; deren konkrete Gestalt wird freilich durch Umwelteinflüsse konturiert. Bündig ausgedrückt: Die Anlage disponiert Möglichkeiten, welche die Umwelt ausschöpft.
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Dies bedeutet einen Schritt hin zu einer integrativen Betrachtung der Täterpersönlichkeit (→ § 10 Rn 12 ff.), die mit einem Zusammenwirken von Anlage- und Umwelteinflüssen rechnet. Dem Anliegen der spätmodernen Kontrollgesellschaft entsprechend (→ §§ 21, 22, 24) richtet sich das Interesse weniger auf den Einzelnen und seine Disziplinierung als auf die (möglichst frühe) Prävention.127
I. Zwillings- und Adoptionsforschung
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Wegbereiter biokriminologischer Studien, die auch mit Umwelteinflüssen rechnen, ist die Zwillingsforschung. Sie stellt den Versuch dar, mit Hilfe eines naturgegebenen Experiments den verhaltensbestimmenden Einfluss der (Erb-)Anlage vom Einfluss der Umwelt zu isolieren und die jeweilige Stärke dieser Einflüsse zu prüfen.
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Die Zwillingsforschung macht sich den Umstand zunutze, dass eineiige Zwillinge das gleiche Erbgut aufweisen, zweieiige Zwillinge dagegen – wie Geschwister im Übrigen – erbverschieden sind. Durch Verhaltensvergleiche von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen und sonstigen Geschwistern soll der Anlageneinfluss bei relativ konstant gehaltenen Umweltbedingungen erhoben werden. Eine gehäufte Verhaltensübereinstimmung bei erbgleichen Personen wird als Beleg für die Bedeutung der Anlagen gewertet.
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Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich dahin zusammenfassen, dass zwar ein gewisser empirischer Zusammenhang zwischen vererbten Eigenschaften und Kriminalität zu bestehen scheint, dieser Zusammenhang freilich eher schwach ausgeprägt ist und desto schwächer ausfällt, je aktueller die Studien und je größer die untersuchten Fallzahlen sind sowie je anspruchsvoller das methodische Design der Untersuchung ist.128
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Der Beweis, dass kriminelles Verhalten durch die Anlage disponiert wird, lässt sich mit Zwillingsstudien nicht führen. Eineiige Zwillinge verhalten sich womöglich häufiger übereinstimmend, weil sie mehr aneinanderhängen, mehr Zeit miteinander verbringen, öfter Freunde und Hobbys teilen als andere Geschwister. Sie werden vielleicht eher gemeinsam straffällig, weil sie häufiger sonstige gemeinsame Lebensgewohnheiten aufweisen. Vielleicht werden sie auch nur häufiger gemeinsam erwischt, weil sie als „doppelte Lottchen“ eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder bei Ermittlungen, die sich gegen einen eineiigen Zwilling richten, der [67]Verdacht einer Beteiligung seines Zwillings näherliegt als bei sonstigen Geschwistern. Dafür spricht eine weitere Studie, die Straftaten nicht nach amtlichen Registern, sondern nach anonymem Selbstberichten erhob, aus denen sich keine erhöhte kriminelle Verhaltensübereinstimmung bei eineiigen Zwillingen ergab.129
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Bei der Adoptionsforschung werden Anlage- und Umwelteinfluss durch Vergleich der Kriminalitätsbelastung von Adoptivkindern mit derjenigen ihrer leiblichen Eltern einerseits und ihrer Adoptiveltern andererseits erhoben. Die Verhaltenskonkordanz bei biologischer Verwandtschaft wird als Indiz für genetische Disposition zur Kriminalität, die Konkordanz in der Adoptivbeziehung als Hinweis auf sozialen Einfluss gewertet.
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Auch Adoptionsstudien fallen nicht eindeutig zugunsten vererbter Einflüsse aus. So erbrachte eine breitere und verfeinerte Replikationsstudie deutlich schwächere Indizien für biologische Einflüsse als die ursprüngliche Studie.130 In einer neueren Metaanalyse wurde für den Einfluss von Erbfaktoren lediglich eine mittlere Effektstärke von 0.11 nachgewiesen.131 Demnach gilt auch bei Adoptionsstudien: Je aktueller, je statistisch aussagekräftiger und je methodisch ausgefeilter die Untersuchung, desto stärker nivellieren sich angenommene vererbte Effekte.
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Wo die Ergebnisse der Adoptionsforschung genetische Effekte zu belegen scheinen, sind die Befunde auch anders verstehbar. Eltern, die ihre Kinder zur Adoption weggeben, sind häufig psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt, die mit Kriminalität einhergehen. Bei den Kindern kann das Adoptionsverhältnis eine erhöhte kriminelle Gefährdung bewirken. Die oft als Trauma erlebte Adoption erschwert die soziale Eingliederung. Adoptionen geht nicht selten ein für die kindliche Entwicklung schädlicher Heimaufenthalt voraus.
II. Genetische Annahmen
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In den 1960er Jahren haben Chromosomenstudien Aufmerksamkeit erregt. Spektakuläre Kriminalfälle, deren Ursache unerfindlich schien, fanden in der Chromosomenanomalie des überführten Täters eine scheinbar befriedigende Erklärung. Die irrtümliche Meldung etwa, dass der achtfache Frauenmörder Richard Speck aus Chicago ein überzähliges Y-Chromosom (XYY-Syndrom) aufgewiesen habe, fand breite Resonanz in der Öffentlichkeit und wurde als Entdeckung des „Mörderchromosoms“ gefeiert.
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Neuere Untersuchungen lassen diese Annahmen zweifelhaft erscheinen.132 So ist die Anzahl der XYY-Männer unter Strafgefangenen nicht signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung.133 Überhaupt scheint ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung zu stehen.134 Amerikanische Studien deuten im Gegenteil trotz gewisser psychischer Auffälligkeiten auf eine verminderte Aggressionsneigung von XYY-Männern hin.135 Eine auslesefreie Untersuchung sämtlicher (31.436) in Kopenhagen in den Jahren 1944 bis 1947 geborener Männer untermauert dies.136 Auch die Überzähligkeit von X-Chromosomen bei Männern (sog. Klinefelter-Syndrom) dürfte entgegen früherer Mutmaßungen in keinem Zusammenhang zur Kriminalität stehen. Die Feststellung erhöhter Häufigkeit dieses Syndroms unter Straffälligen erreicht keine signifikanten Werte; zudem bleibt die Kriminalität von Klinefelter-Männern typischerweise im Lebenslängsschnitt episodenhaft.137
15 In der neuseeländischen Stadt Dunedin wurden alle 1972 und 1973 in demselben Spital geborenen Personen (N = 1037) während 30 Jahren von einem Forscherteam um das Ehepaar Terrie Moffitt und Avshalom Caspi im Hinblick auf während der Kindheit erlittene Misshandlungen und späterem gewalttätigem Verhalten beobachtet. Dabei ergab sich, dass zwar Opfer von Misshandlungen im Kindesalter später zu etwa 50 % eher zu gewalttätigem Verhalten neigen als nicht misshandelte Kinder, diese Beziehung jedoch für die meisten misshandelten Kinder nicht zutrifft. Die Forscher vermuten einen Einfluss eines nur bei Männern vorhandenen Gens, das für die Bildung des Enzyms Monoaminoxidase A (MAOA) verantwortlich ist. Dieses Gen sorgt dafür, dass Aggressivität fördernde Neurotransmitter im Gehirn wie Norepinephrin (NE), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) deaktiviert werden. Als Knaben misshandelte Männer, bei denen diese hemmende Funktion unzureichend ist (low-activity-Allel), benahmen sich später zu mehr als 80 % antisozial und zu mehr als 30 % gewalttätig. Angenommen wird, dass die genetischen Dispositionen erst durch Misshandlung in der Kindheit „angeschaltet“ würden.138 In den Forschungsberichten werden die Art der erlittenen Misshandlungen und der verübten Gewalt nicht spezifiziert. Einflüsse des Lebensabschnittes zwischen kindlicher Misshandlung und späterer Gewaltausübung bleiben ausgeblendet. So wird aufgrund der festgestellten statistischen Beziehung der Eindruck eines fast zwingenden Zusammenhanges von erlittener und verübter Gewalt bei entsprechender genetischer Ausstattung erzeugt.
[69]III. Hirnforschung
Lektüreempfehlung: Heinemann, Torsten (2014): Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risikoanalysen. KrimJ 46, 184-199; Kunz, Karl-Ludwig (2010): Lebenswissenschaft und Biorenaissance in der Kriminologie. In: Böllinger, Lorenz. u. a. (Hrsg.): Gefährliche Menschenbilder. Biowissenschaften, Gesellschaft und Kriminalität. Baden-Baden, 124-137; Maier, Wolfgang; Helmchen, Hanfried; Sass, Henning (2005): Hirnforschung und Menschenbild im 21. Jahrhundert. Der Nervenarzt 76, 543-545; Reemtsma, Jan Philipp (2006): Das Scheinproblem „Willensfreiheit“. Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte. Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 60, 193-206; Singer, Wolf (2003): Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt a. M.; Strasser, Peter (2013): Brains and Would-be Brains. Outlines of Neurocriminology. KrimJ 45, 58-68.
Nützliche Websites: http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/852357&_z=798884.
16 Die neuronale Hirnforschung gilt als eines der zukunftsträchtigsten und spektakulärsten Forschungsgebiete. Dabei zeigt sich, dass das Gehirn ein höchst komplexes biologisches System ist, in dem bestimmte Hirnregionen – besonders solche des limbischen Systems – arbeitsteilig spezifische Aufgaben der Verhaltenssteuerung wahrnehmen. Das untere, über den Augen liegende Stirnhirn, der präfrontale Cortex, funktioniert als Kontrollinstanz, welche die in limbischen Hirnbereichen entstehenden Gefühle und Impulse im Zaum hält. Beobachtungen an erwachsenen Patienten mit frontalen Hirnverletzungen durch Schädel-Hirn-Traumata belegen, dass sich diese Verletzungen häufig in erhöhter Reizbarkeit niederschlagen. Nach retrospektiven Untersuchungen an Gewalttätern soll der präfrontale Cortex bei aggressiven Erwachsenen deutliche Auffälligkeiten aufweisen, welche entweder durch Verletzungen hervorgerufen oder angeboren und genetisch bedingt seien. Gewalttätiges Verhalten hänge ferner mit männlichem Geschlecht, Alter und persönlichen Gewalterfahrungen in der Kindheit zusammen. Zusätzlich wird eine Abhängigkeit der Gewalt von einem hohen Testosteron- und niedrigen Serotoninspiegel angenommen. Hirnanomalien sollen vor allem dann zu Gewalt führen, wenn sie von Kindheit an bestehen und psychosoziale Risikofaktoren wie massive Störungen der frühen Mutter-Kind-Beziehung, inkonsequente Erziehung, Misshandlung und Missbrauch im Kindesalter hinzukommen.139
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Über diese Fälle beobachtbarer Auffälligkeiten und Defekte des präfrontalen Cortex hinaus zeigt die Hirnforschung, dass geistig-psychische Zustände nicht jenseits der physikalisch-physiologischen Materie des Gehirns angesiedelt sind, sondern sich innerhalb dieser Materie vollziehen. Damit ist die auf René Descartes (1596-1650) zurückgehende Annahme einer substantiellen Verschiedenheit von menschlichem Körper und Geist widerlegt. Bewusstseinszustände, Gedanken und Gefühle werden [70] durch körperliche Gehirnprozesse verursacht; das Mentale ist vom Gehirnsystem biologisch produziert.
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Schaubild 2.2: Hirn mit präfrontalem Cortex (hier dunkel)
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Als eines der bekanntesten Belege dafür gilt das Libet-Experiment140, welches nach der Interpretation seines Erfinders zeigt, dass die Gehirnaktivität, welche zu einer Handbewegung führte, vor dem Moment einsetzte, in welchem sich die Person zu der Bewegung entschloss. Aufgrund solcher experimentell erlangter Befunde bezweifeln zahlreiche Hirnforscher die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit: Was man als vermeintlich autonome Willensentscheidung wahrnehme, sei tatsächlich das Ergebnis sich unwillentlich vollziehender Gehirnaktivitäten. Damit werden angeblich auch der strafrechtliche Schuldvorwurf und die Legitimität der staatlichen Strafe infrage gestellt: Da der Entschluss zum Rechtsbruch neuronal gesteuert werde, könne das strafbare Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Anstatt Strafen seien demnach nur rein präventive, also auf die Sicherung oder Besserung des Täters abzielende, Maßnahmen der sozialen Verteidigung zulässig.141
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Mit Hinweisen auf Zusammenhänge zwischen Aggressionsneigungen und pathologischen Auffälligkeiten der Struktur bzw. der Aktivitäten des präfrontalen Cortex behauptet die neuronale Hirnforschung eine biologische – und damit moralisch [71] standpunktfreie – Bestimmbarkeit des Bösen in der Anlage. Von humanistischen Ansprüchen befreit, wird das Individuum in einem naturwissenschaftlichen Rigorismus ohne Wahlfreiheit konzipiert.142 Insofern führt der Fortschritt der Biowissenschaften zu einer Rückkehr zu kriminologischen Positionen, die seit Lombroso in dieser Ungeschminktheit nicht mehr eingenommen wurden: Es scheint dem zu Folge „gefährliche“ Menschen zu geben, die sich naturwissenschaftlich nachweisbar in ihrer individuellen biologischen Ausstattung von Ungefährlichen und Gesetzestreuen unterscheiden.143
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Mit der Anzweiflung der Willensfreiheit beansprucht die neuronale Hirnforschung, das über Jahrhunderte in der Philosophie des Geistes umstrittene Verhältnis von menschlichem Körper und Geist geklärt zu haben. Die neuronale Hirnforschung präsentiert sich damit wie die Evolutionstheorie von Charles Darwin als universelle Leitwissenschaft, die grundlegende bislang umstrittene Fragen der menschlichen Existenz beantwortet.144 Wie zu Zeiten Darwins wird das Zusammenspiel von Körper und Geist naturwissenschaftlich monistisch gedeutet und auf Körperfunktionen zurückgeführt: In Verwerfung des Cartesianischen Dualismus wird das Geistige als mit den Aktivitäten der Physis des Gehirns identisch begriffen.
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Die Zusammenhänge von neuronalen Hirnaktivitäten und menschlichem Verhalten sind vielfach und sorgfältig belegt. Es erscheint auch plausibel, dass menschliches Verhalten durch die biologische Befindlichkeit des jeweiligen Individuums beeinflusst werden kann, speziell, wenn diese Befindlichkeit ungewöhnlich oder gar pathologisch auffällig ist. Entscheidend ist, was solche Zusammenhänge bedeuten: Folgt daraus wirklich, dass menschliches Verhalten durch Gehirnprozesse kausalgesetzlich determiniert wird? Dass sich menschliche Subjektivität auf neurobiologische Prozesse reduzieren lässt?
23 Dies wird häufig mit großer Vereinfachung und in reißerischer Sprache behauptet. „Tatort Gehirn“145, „Die Gene des Bösen“146, „Das Verbrechergehirn“147 und ähnlich lauten durchaus seriös gemeinte Schlagzeilen und Buchtitel. Der dem zu Grunde liegende Reduktionismus, wonach alle Manifestationen unseres Geistes ausschließlich eine Konsequenz der Aktivität physiologischer Prozesse im Gehirn seien, beruht auf einer unzutreffenden Überinterpretation empirischer Befunde. In eigentümlicher Verdrehung wird dabei das Gehirn zum Subjekt erklärt, das den [72]Menschen als ausführendes Werkzeug benutzt, die neuronalen Prozesse zur Quelle von Gedanken. Nur durch diese Redeweise wird der Eindruck eines die Eigenheit des Mentalen verdrängenden biologischen Determinismus erweckt.148 Was die Hirnforschung als neuronale Prozesse benennt, sind im Alltagsverständnis schlicht unsere Gedanken, und die vermeintliche Subjektstellung des Gehirns schrumpft in diesem Verständnis zu der Annahme, dass wir davon zumeist unbewusst und unwillentlich Gebrauch machen. Die Annahme, dass „das“ (nicht etwa unser!) Gehirn unser Verhalten steuert149, lässt sich schwerlich dahin erweitern, dass das Gehirn seine neuronalen Prozesse selbst neuronal steuert. Also muss der eigentlich bekämpfte Freiheitsgedanke wieder erweckt und nun dem Gehirn zugeschrieben werden, das als autonomes Subjekt nicht anders kann als „seine Freiheit“150 wahrzunehmen.
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In ähnlicher Weise wie bei der Hypostasierung des Gehirns als steuerndes Subjekt wird bei der Antwort auf die klassische kriminalitätstheoretische Frage nach den Ursachen des Verbrechens die in genetischen und neurobiologischen Strukturen und Funktionen ausgedrückte menschliche Natur zur Produktionsstätte des gewalttätigen kriminellen Verhaltens stilisiert.151 Der Kriminelle mag durch seine veranlagten Triebe gesteuert sein – aber was sind seine Triebe anderes als er selbst?
IV. Gemeinsame Probleme und Defizite
Lektüreempfehlung: Strasser, Peter (2005): Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. 2. Aufl., Frankfurt a. M., 127-154, 229-245.
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Die Biokriminologie beschränkt ihr Augenmerk auf Kriminalität, die mit Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung zu tun hat. Sie wählt den zu untersuchenden Personenkreis zumeist aus der Gefängnispopulation oder aus biologisch auffälligen Menschen, die aggressiv wurden. Die Untersuchungseinheiten sind klein, die Untersuchungen meist retrospektiv, Vergleichsgruppen werden kaum herangezogen.
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Jeder Entwicklungsschub der Humanbiologie scheint die alte Frage nach dem „geborenen Verbrecher“ aufs Neue zu beleben. Nicht wissenschaftliche Indizien, sondern die schauerliche Faszination der Vorstellung, dass es Menschen mit „bösen“ Genen oder Hirnen gibt, ist die Antriebsquelle der Biokriminologie. Offenbar assoziiert der Alltagsverstand unbegründete Gewaltausbrüche, die durch Erziehung und [73]Behandlung nicht gezügelt werden konnten, hartnäckig mit einer abartigen biologischen Veranlagung. Die Biokriminologie „bedient“ dieses Vorurteil mit ihrem aktuellen wissenschaftlichen Repertoire und erhält dafür im Gegenzug eine ansonsten in der Kriminologie kaum erzielbare Öffentlichkeitswirkung.
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Im Gegensatz zur beeindruckenden technologischen Entwicklung der Biowissenschaften ist der Diskurs um ihre kriminologischen Erträge bemerkenswert zurückgeblieben, ja fast auf der Position Lombrosos erstarrt. Auch die neuen biowissenschaftlichen Deutungen der Kriminalität leiden darunter,
■ die Menschheit nach einer binären Logik in Kategorien von Gute und Schlechte, Normkonforme und Abweichler zu scheiden,
■ einen Determinismus zu behaupten, der den Menschen und seine Handlungen als Objekt biologischer Steuerung versteht,
■ einen Diskurs zu führen, der Indizien für biologische Einflüsse dazu verwendet, Abweichung zu pathologisieren und dadurch die soziale Verteidigung naturwissenschaftlich zu legitimieren,
■ das Böse im Innern bestimmter Menschen zu lokalisieren, sie in dieser scheinbar unabänderlichen Eigenschaft zu definieren und eine lebenslange Persistenz der Neigung zu asozialem Verhalten zu unterstellen,
■ den mangelnden Erfolg therapeutischer Interventionen dem Individuum zuschreibend als Unbehandelbarkeit zu deuten,
■ auf Behandlungsangebote, welche Autonomie und Würde des Einzelnen respektierten, zu verzichten, um stattdessen einem Programm zur Unterdrückung von Charaktermängeln zu folgen,
■ im Übrigen auf Maßnahmen der Neutralisierung von menschlichen Risikoträgern zu setzen, die vom medikamentösen Ruhigstellen über die Sicherungsverwahrung bis zu dereinstigen eugenischen Neuzüchtungen der humanen Biomasse im „Menschenpark“152 reichen.
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Der geläufigste Einwand gegen biologische Verbrechenserklärungen beanstandet die allzu kurzschlüssige Verbindung zwischen biologischen Eigenschaften und kriminellem Verhalten, bei welcher der vermittelnde Einfluss des sozialen Umfeldes außer Betracht bleibt. Zwar werden Befunde der Biokriminologie nicht durch Belege für zusätzlich bestehende soziale Einflussfaktoren der Kriminalitätsentstehung entkräftet, da biologische Einflüsse durchaus neben und hinter sozialen Einflüssen bestehen mögen (→ § 7 Rn 3 ff.). Indessen gewinnt die Kriminalität immer erst [74] durch das Bindemittel Umwelt eine erfahrbare und wissenschaftlich zugängliche Form.
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Auch ausgeprägte statistische Zusammenhänge belegen mitunter nicht wirklich biologische Einflüsse. So ist in den USA die registrierte Kriminalität der afroamerikanischen Bevölkerung, und erst recht deren Inhaftierungsrate, um ein Mehrfaches höher als es eigentlich ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend zu erwarten wäre. Die Erklärung dessen mit einem durchschnittlich deutlich niedrigeren Intelligenzquotienten von Afroamerikanern im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt153 hat eine heftige Kritik entfacht154. Diese anrüchig simple Annahme dürfte nur durch das Zusammenspiel zweier Umstände Beachtung gefunden haben: Zum einen haben naheliegende soziale Deutungen, wonach die afroamerikanische Bevölkerung in Ausbildung, Einkommen, Wohnqualität und Ansehen benachteiligt ist und zudem einem überwiegend weißen Strafverfolgungsapparat mit entsprechenden strukturellen Problemen (Stichwort racial profiling) begegnet, an Überzeugungskraft verloren, weil die Bereitschaft zu breit angelegten – und entsprechend kostspieligen! – Programmen der affirmativen Stützung geschwunden ist. Zum anderen hat die geringe Beeinflussbarkeit dieses Befundes durch einen überproportional auf Afroamerikaner gerichteten abschreckungsorientierten Strafvollzug die Vorstellung genährt, dass die Verhaltensstabilität biologische Ursachen haben müsse. Bei geschwundener Bereitschaft zur sozialpolitischen Beförderung von Chancengleichheit drängt sich die biologische Erklärung geradezu auf, wenn Abschreckung durch Strafvollzug als unrealistisch eingeschätzt wird.
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Vollends triftig wird die Kritik an der Biokriminologie, wenn sie die gesellschaftliche Prägung der Kriminalität nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhaltensursache, sondern auf die Gesellschaft als Aushandlungsinstanz der Inhalte von Kriminalität bezieht. Kriminalität und Gewalt lassen sich nicht biologisch bestimmen, weil diese Begriffe erst mit Blick auf gesellschaftliche Reaktionen definierbar sind, sich in gesellschaftlichen Aushandlungen des Normalen und des Normabweichenden herausbilden und dem Wandel sozialer Anschauungen des Gewünschten und Geächteten unterliegen (→ § 13 Rn 8 ff.).
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Die Kriminalität auf biologische Zusammenhänge zu reduzieren bedeutet, das Phänomen des Rechtsbruchs aus seinem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext zu lösen. Kriminalität ist nicht ohne ihren von einem gesellschaftlich bestimmten Normalitätsmaßstab abweichenden Charakter definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Insofern handelt es sich bei kriminellen Rechtsbrüchen nicht um objekthaft und nichtkommunizierend vorhandene Gegebenheiten [75](→ § 2 Rn 11 ff.), deren Charakteristika durch Zusammenhänge mit natürlich „sinnlos“ vorhandenen biologischen Befundtatsachen bestimmbar wären. Die biokriminologische Sicht entbehrt der gebotenen Gegenstandsadäquanz ihres methodischen Erklärungsrahmens für ein gesellschaftlich überformtes und nur mit Blick auf seine gesellschaftliche Problemwahrnehmung erkennbares Phänomen.155
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Humanbiologische Befunde sind nicht bloß zur Erklärung kriminellen Verhaltens unzureichend, sondern – abgesehen von der Konditionierung durch pathologische Defekte – zur Erklärung menschlichen Verhaltens überhaupt unzulänglich. Der Versuch, menschliches Verhalten durch Belege seiner kausalen Abhängigkeit von Körperfunktionen erklären zu wollen, übersieht das Bewusstsein als Instanz, in der man sich selbst als Akteur erlebt und Handlungsintentionen bildet. Zwar hat das Mentale keine eigene physische Existenz neben der Materie des Gehirns. Dennoch ist das Bewusstsein, im Rahmen des subjektiv Beherrschbaren als Akteur autonom auf die Umwelt gestaltend einzuwirken, eine menschliche Grunderfahrung, die sich nicht mit Hinweisen auf die neurobiologische Bildung des Bewusstseins leugnen lässt. Geist und Bewusstsein sind zwar als Produkte körperlicher Funktionen durch Gehirnprozesse bewirkt, können jedoch nicht auf diese reduziert werden. Menschliches Handeln ist von der biologisch nicht fassbaren Erste-Person-Wahrnehmung vom Bewusstsein getragen, subjektiv sinnhaft zu agieren. Willensfreiheit ist daher, obwohl wir endliche und externen Einflüssen ausgesetzte Wesen sind, immerhin beschränkt möglich: Was von uns nicht beherrschbar ist, geschieht ohne unseren Willen. Im Übrigen aber handeln wir in unserer subjektiven Lebenswahrnehmung und im Rahmen einer Kultur, die uns Eigenverantwortung zuweist, frei.156
122 Hofinger 2013, 10.
123 Vgl. etwa Murderous Times, http://www.autismwebsite.com/crimetimes/98c/w98cp1.htm: „The real cause of such senseless violence is almost certainly the malfunctioning brains of the offenders. And what causes these troubled brains to malfunction? The culprits include prenatal exposure to alcohol, tobacco, or drugs; perinatal birth trauma; seizures; brain tumors; neurotoxins; food and/or chemical sensitivities; nutritionally deficient diets; head injuries; and pollutants in our air, water, and soil. Additionally, many of America’s killer children suffer from genetically caused or influenced brain dysfunction.“
124 Lavater 1775-1779, 14.
125 Barash 1980; Wilson 1975.
126 Deutlich etwa bei Zerbin-Ruedin 1984, 14: „Was die Anlagenseite betrifft, so wird nicht das erscheinungsbildliche Merkmal (Kriminalität) vererbt, sondern kodierte Information. Dies gibt Anweisung für den Aufbau und die Regulierung von Proteinen, Enzymen, Hormonen, Neurotransmittern, die dann ihrerseits zu einem erhöhten Risiko für kriminelles Verhalten führen können“; vgl. auch Zerbin-Ruedin 1985, 15 ff., 25 ff.
127 Hofinger 2013, 20.
128 Christiansen 1977b; Christiansen 1977a; Mednick/Volavka 1980.
129 Rowe, zitiert nach Zerbin-Ruedin 1984, 3.
130 Vgl. Mednick/Gabrielli/Hutchings 1984 im Gegensatz zu Hutchings/Mednick 1977.
131 Walters 1992.
132 Zang 1984.
133 Shah/Roth 1974, 137.
134 Kaiser 1983, 56.
135 Edelhoch 1980, 54 ff.; Rennie 1978, 223 ff.
136 Witkin u. a. 1976; Mednick/Volavka 1980, 93.
137 Sorensen/Nielsen 1984.
138 Moffitt u. a. 2001; Caspi u. a. 2002.
139 Lück/Strüber/Roth 2005, 11 ff., 121 ff.; Markowitsch/Siefer 2007, 170.
140 Benjamin Libet bat Probanden, in einem beliebigen Moment das Handgelenk zu bewegen, während sie eine Art Uhrzeiger verfolgten, und zeichnete dabei deren Gehirnaktivitäten auf.
141 Markowitsch/Siefer 2007, 132; Roth 2003, 544.
142 Strasser 2013, 58.
143 Heinemann 2014; s. auch Maier/Helmchen/Sass 2005.
144 „Manifest der Hirnforschung im 21. Jahrhundert“, Gehirn und Geist 6/2004; 3/2005; Roth/Grün 2009.
145 Markowitsch/Siefer 2007.
146 http://www.tagesspiegel.de/meinung/gewaltverbrechen-die-gene-des-boesen/4310446.html.
148 Dazu lehrreich Reemtsma 2006.
149 Roth 2003.
150 Roth/Grün 2009.
151 Neubacher 2014, 85 f.
152 Sloterdijk 1999.
153 Murray/Herrnstein 1994.
154 Gebhardt/Heinz/Knöbl 1996.
155 Kunz 2008, 72 ff.
156 Ausführlich dazu Searle 2006.