Читать книгу Kriminologie - Tobias Singelnstein - Страница 15
Оглавление§ 8 Psychologische und psychiatrische Persönlichkeitskonzepte
Lektüreempfehlung: Lösel, Friedrich (1993): Täterpersönlichkeit. In: Kaiser, Günther u. a. (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 3. Aufl., Heidelberg, 529-540.
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Der Begriff „Persönlichkeit“ bezeichnet die individuellen psychischen Eigenschaften eines Menschen, welche in veränderten Lebenssituationen relativ stabil bleiben und das Verhalten beeinflussen. Speziell persistente, also dauerhaft gleichförmig [76] praktizierte Verhaltensgepflogenheiten eignen sich für eine persönlichkeitsbezogene Deutung. Obwohl die Persönlichkeit eines jeden Individuums singulär ist, bestehen Vergleichsmöglichkeiten, insofern Individuen Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, die auch bei anderen anzutreffen sind.157 Persönlichkeitskonzepte sind offen für unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Einflüsse zum Erwerb einer bestimmt gearteten Persönlichkeit führen: Biologische, insbesondere ererbte Eigenschaften kommen ebenso in Betracht wie Einflüsse der sozialen Umgebung, deren Verinnerlichung man sich mit Hilfe des sozialen Lernens (→ § 10 Rn 6 ff.) vorstellt. Insofern bilden persönlichkeitsbezogene Verhaltenserklärungen ein Bindeglied, das sich zur Verklammerung biologischer und sozialer Annahmen eignet.
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Während die Psychologie sich vor allem für die generell erwartbaren Dimensionen der „normalen“ Persönlichkeit interessiert, konzentriert sich die Psychiatrie auf die Pathologie der „gestörten“ Persönlichkeit. Beide Zugangswege sind für die Suche nach Zusammenhängen zwischen einer bestimmt gearteten Persönlichkeit und kriminellem Verhalten von Interesse. Die Schwierigkeit, Kriminalität als ein Produkt gesellschaftlicher Aushandlung persönlichkeitsbezogen zu erklären, wird dadurch zu umgehen versucht, dass die kriminologische Persönlichkeitsforschung zumeist nicht nach Merkmalen krimineller, sondern „antisozialer“ Persönlichkeiten sucht. Freilich ist das nicht dasselbe, und auch Dis- oder Antisozialität sind normative, an einer Normalvorstellung ausgerichtete Begriffe (→ § 8 Rn 16 ff.).
I. Psychologische Perspektiven
Lektüreempfehlung: Hollin, Clive R. (2012): Criminological Psychology. In: Maguire, Mike; Morgan, Rod; Reiner, Robert (Hrsg.): The Oxford Handbook of Criminology. 5. Aufl., Oxford, 81-112; Rafter-Hahn, Nicole (1997): Psychopathy and the Evolution of Criminological Knowledge. Theoretical Criminology 1, 235-260.
Nützliche Websites: http://www.e-criminalpsychology.com.
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In der allgemeinen Persönlichkeitsforschung wurden neben individualdiagnostischen Methoden zunehmend quantitative Verfahren entwickelt, mit denen Persönlichkeitseigenschaften standardisiert erhoben und statistisch geprüft werden. Diese Verfahren ermöglichen induktiv erstellte Persönlichkeitsinventare, welche die Verteilung der verschiedenen Dimensionen der Persönlichkeit der untersuchten Probanden in Skalen abbilden. Die Inventare werden sodann in Frageform Versuchspersonen vorgelegt, deren Antwortverhalten eine quantitativ-skalenmäßige Zuordnung der Person zu einem bestimmten Persönlichkeitsprofil oder mehreren [77] solcher Profile erlaubt. Von der Anwendung dieser Verfahren auf verschiedene Gruppen strafrechtlich Erfasster und Vergleichsgruppen nicht strafrechtlich auffällig gewordener Personen verspricht man sich Aufschluss über persönlichkeitsbezogene Eigenarten Straffälliger.
4 So verglich das Ehepaar Sheldon und Eleanor Glueck 1950 in den USA je 500 delinquente und nicht delinquente Jugendliche und kam zum Ergebnis, die „delinquente Persönlichkeit“ sei eher extrovertiert, impulsiv und unnachsichtig, weniger selbstkontrolliert, weniger um Konventionen bekümmert und um Misserfolg besorgt.158 Ähnliche Befunde ergeben sich aus dem multivariaten Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) und dem Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI).159 Im MMPI erwies sich die Skala für „psychopathische Devianz“ zur Bestimmung persönlichkeitsbezogener Unterschiede straffällig Auffälliger und Unauffälliger als statistisch am ausgeprägtesten. Freilich enthielt diese Skala Fragen nach Problemen mit dem Gesetz, kindlichem Stehlen, Freude an der Schule und häuslicher Geborgenheit und spiegelte damit eher unterschiedliche Lebensumstände als eine gesteigerte „Psychopathie“ der straffällig Auffälligen.160 Zumeist wird das Ergebnis von Persönlichkeitsvergleichen straffällig Auffälliger und Unauffälliger dahin zusammengefasst, dass solche Tests keine theoretische Bedeutung zum Verständnis der Ursachen kriminellen Verhaltens besitzen.161
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Ergänzend zu Persönlichkeitsinventaren wurde das Konzept der psychopathischen oder soziopathischen Persönlichkeit zur Beschreibung der Charaktereigenschaften von Straftätern entwickelt, die scheinbar grundlos besonders grausame Verbrechen verübt hatten. In einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Maske der geistigen Gesundheit“162 beschrieb Cleckley (1903 bis 1984) 1964 den Psychopathen als einen „moralischen Idioten“, der frei von Psychosen, doch unfähig zu Mitgefühl ist, chronisch lügt, überdurchschnittlich intelligent und egozentrisch veranlagt ist. Indikatoren für Psychopathie zeigten sich schon in frühen Lebensabschnitten in Form von Bettnässen, Schlafwandeln, Grausamkeit zu Tieren, Brandlegen und Vandalismus. In ihrer Impulsivität und ungezügelten Aggression, ihrer reinen Ichbezogenheit und Unfähigkeit zu moralischem Urteilen gerieten diese Personen früher oder später zwangsläufig mit dem Strafgesetz in Konflikt.
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Das Konzept des Psychopathen birgt empirisch dürftig abgesicherte Verallgemeinerungen. Es enthält ein erfahrungswissenschaftlich nicht vertretbares deklassierendes Werturteil über die damit bezeichnete Person.163 Seit 1968 ist es deshalb in der [78]American Psychiatric Association üblich geworden, den Begriff der psychopathischen Persönlichkeit durch den der „antisozialen“ bzw. „dissozialen“ Persönlichkeit zu ersetzen und für deren Charakterisierung präzisere Merkmale zu verwenden (→ § 8 Rn 16 ff.).
7 In der Psychologie und neuerdings in der Kriminologie (→ § 9 Rn 26 ff.) wird Kriminalität mitunter als eine Anpassung an psychische Stresssituationen verstanden. 164 Kriminelles Verhalten ist dem zu Folge von triebhaften Empfindungen – wie dem aus dem Schuldgefühl resultierenden unbewussten Verlangen nach Bestrafung – geleitet, die dem Bedürfnis nach Unauffälligkeit und Konformität entgegengerichtet sind. Daraus entsteht ein innerer Konflikt, der mitunter nicht ausgehalten und durch kriminelle Betätigung entladen wird. Kriminelles Verhalten dient danach der Bewältigung psychischer Zwänge, die andernfalls als übermächtig empfunden würden. Es verschafft der gestressten Psyche im Augenblick der Tat ein gutes Gefühl der Autonomie und Überlegenheit über andere.165 Gerade für Personen, die durch soziale Benachteiligung und Unterdrückung belastet sind, ist die kriminelle Betätigung eine Form der Selbstbestätigung und mitunter gar eine Überlebenshilfe.
„During the planning and execution of a criminal act, the offender is a free man. The value of this brief taste of freedom cannot be overestimated. Many of the criminal’s apparently unreasonable actions are efforts to find a moment of autonomy.“166
8 Diese Deutung gewinnt eine neue Dimension, wenn die zu Kriminalität disponierende psychische Beschaffenheit nicht in der negativen Belastung durch Stress, sondern in den positiven Erlebnisinhalten gesehen wird, welche die Verübung von Straftaten vermittelt. Die Möglichkeit, für einmal in die Rolle des Bösen zu schlüpfen und sie genussvoll – gleichsam den Zigarillos kauenden Halunken spielend! – auszuleben; der adrenalinsprühende Nervenkitzel beim unbemerkten Griff in die fremde Ladenkasse; das Auskosten der Überlegenheit beim angsterfüllten Angesicht des Opfers; kurzum: die Lust an der Amoralität ist Balsam für die Seele.
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Solche Vorstellungen fallen aus dem Rahmen konventioneller Kriminalitätsverständnisse. Die Annahme, dass Kriminalität Genuss verschaffe und wegen dieses Genusses verübt werde, hat so gar nichts von der moralinsauren Ernsthaftigkeit, die Kriminalitätstheorien ansonsten anhaftet. Insofern die Lust am Bösen letztlich der normalen Natur des Menschen entspricht, ist sie nicht eigentlich verwunderlich. Für die herkömmliche ätiologisch-quantitative Theorienbildung ist diese Perspektive schwer zugänglich, was der Grund dafür sein mag, warum die Wissenschaft dieses [79]Thema bislang nur vereinzelt behandelt: In der sogleich zu erörternden psychoanalytischen Perspektive und neuerdings in der ökonomischen Kriminalitätstheorie, die annimmt, Individuen täten auf Grund autonomer Wahlentscheidungen das, was ihnen am meisten Vergnügen bereite (→ § 12 Rn 13, 23 f.).
II. Die psychoanalytische Perspektive
10 Die Psychoanalyse sucht die Ursachen von Delinquenz – wie allgemein von sozialem Fehlverhalten und psychischen Störungen – in der frühkindlichen Entwicklung.167 Nach Sigmund Freud (1856-1939) werden im Verlauf der Persönlichkeitsreifung dem ursprünglichen triebhaften Es das realitätsbezogene Ich und das die Moral repräsentierende Über-Ich gegenübergestellt.
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Das normale, noch von ungebändigten Trieben geleitete Kind ist für Freud ein „polymorph-perverses“ und „universell kriminelles“ Wesen, das in den ersten Lebensjahren unter dem Einfluss der sich allmählich bildenden Ich und Über-Ich lernt, Triebbedürfnisse zu kontrollieren. Die wichtigste Triebquelle ist der Sexualtrieb, die Libido. Die Libido des Kleinkindes entwickelt sich in Phasen (orale, anale, phallische). Falls die frühkindliche Befriedigung und Weiterentwicklung der Triebe behindert wird, soll es später zu irreversiblen Entwicklungsstörungen wie mangelndem Selbstwertgefühl, Beziehungsschwäche und Bindungsarmut kommen. Die moralische Instanz des Über-Ich könne durch Versagen der für Identifikationsprozesse entscheidenden Vaterfigur unzureichend ausgebildet werden. Umgekehrt könne ein strenges Über-Ich Triebansprüche des Es ins Unterbewusste verdrängen. Die Unfähigkeit des Kindes, sich rechtzeitig von Vater und Mutter zu lösen, bewirke speziell bei Personen mit ausgeprägtem Über-Ich den Oedipuskomplex und damit unbewusste Schuldgefühle. All dies könne zu bestimmten Straftaten führen. So könnten Verbrechen aus Schuldgefühl begangen werden, ausgelöst durch das unbewusste Verlangen nach Bestrafung, um dadurch das Schuldgefühl zu erleichtern.
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Psychoanalytische Erklärungen sind freilich nicht zwingend täter- oder überhaupt kriminalitätsbezogen. Sie beanspruchen auch Erklärungskraft für die Geständnisbereitschaft, die Aggressionsneigung von Strafverfolgern168, das Strafverlangen der Gesellschaft und generell für die Funktion des Strafrechts169.
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Theodor Reik (1888-1969) legt in seiner erstmals 1925 erschienenen Abhandlung über Geständniszwang und Strafbedürfnis170 dar, dass nicht die Bestrafung, sondern das Entdecktwerden Angst erzeuge, und somit die Strafangst in Geständnisangst umgesetzt werde. Dem Bemühen, das Verbrechen zu vertuschen, sei jedoch der Zwang, das Geheimnis zu lüften und sich so von einer psychischen Belastung zu befreien, entgegengesetzt. Durch das Geständnis vollziehe sich eine verbale Wiederholung der Tat, welche die Angst überwinde und aufgestaute Schuldgefühle befreie. Die Unfähigkeit zu einer „Geständnisarbeit“ erkläre viele Selbstmorde. Ein unbewusster Geständniszwang bewirke, dass Straftäter trotz minuziöser Planung oft eine grobe Nachlässigkeit begingen, die ihre Entdeckung ermögliche.
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Mehr noch befasst sich die Psychoanalyse mit der tiefenpsychologischen Funktionsbestimmung des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft. Das Strafrecht wird als Mittel legaler Aggressionsabfuhr verstanden. In einer berühmt gewordenen Sequenz formuliert Freud:
„Wenn einer es zustande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muss sich in allen Gesellschaftsgenossen das gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten, muss der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen.“171
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Die Rechtstreuen finden in der Bestrafung des Rechtsbrechers eine Ersatzbefriedigung für ihren eigenen Triebverzicht, mit der sie ihr eigenes unbewusstes Schuldgefühl auf den Kriminellen als Sündenbock projizieren.
„Der Sühnedrang ist also eine Schutzreaktion des Ichs gegen die eigenen Triebe im Dienste ihrer Verdrängung, um das seelische Gleichgewicht zwischen verdrängenden und verdrängten Kräften aufrechtzuerhalten. Das Verlangen nach Bestrafung des Täters ist gleichzeitig eine Demonstration nach innen, um die Triebe einzuschüchtern: ‚Was wir dem Täter verbieten, darauf müsst auch ihr verzichten‘. Je grösser nun der Druck der verdrängten Tendenzen ist, umso mehr benötigt das Ich die Sühne als abschreckendes Beispiel gegenüber der Urwelt der eigenen verdrängten Triebe.“172
Damit bestehen Verbindungen von der Psychoanalyse zur kritischen Kriminologie (→ § 13 Rn 21 f.) und zu generalpräventiven Straftheorien (→ § 20 Rn 6 ff.).173
[81]III. Psychiatrische Perspektiven
Lektüreempfehlung: Dilling, Horst; Mombour, Werner; Schmidt, Martin H. (Hrsg.) (2015): Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 10. Aufl., Bern; Nedopil, Norbert (2006): Prognosen in der Forensischen Psychiatrie. Ein Handbuch für die Praxis. Lengerich/Berlin; Schneider, Hendrik (2006): Die Kriminalprognose bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung. An den Grenzen der klinischen Kriminologie. StV 26, 99-104.
Nützliche Websites: http://dsm.psychiatryonline.org/doi/book/10.1176/appi.books.9780890425596 (zu DSM-5); https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/; http://www.who.int/classifications/icd/en/index.html (zu ICD-10).
16 Auch in der Kriminalpsychiatrie werden neben den traditionellen „klinischen“ individualdiagnostischen Methoden, die assoziativ Fachwissen auf den Einzelfall anwenden, zunehmend standardisierte quantitative und statistisch geprüfte Verfahren eingesetzt. Deutlicher als in der Kriminalpsychologie richtet sich das Augenmerk auf Ausprägungen einer „gestörten“ Persönlichkeit zur Erklärung vor allem von repetierender Gewalt- und Sexualkriminalität und sonstiger „klassischer“ Rückfallkriminalität männlicher Täter. Die Annahme einer mit Kriminalität in Zusammenhang stehenden psychiatrisch diagnostizierbaren Persönlichkeitsstörung reiht sich in den breiten Strom jener Vorstellungen, die Kriminalität aus einem Manko erklären (→ § 14 Rn 7 ff.).
1. Klassifikationssysteme
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Die Bemühungen um empirisch geprüfte Instrumente zur Bestimmung psychischer Störungen führten zur Entwicklung von zwei international verbreiteten und aufeinander abgestimmten Klassifikationssystemen: Der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10)174 und dem von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung verfassten Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5)175.
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Diese Klassifikationssysteme gehen auf bevölkerungsstatistische Erhebungen zurück, anhand derer Glossare mit Beschreibungen psychischer Störungen und diagnostischer Kriterien erstellt wurden. Unter Berücksichtigung der Anwendungserfahrung bei der Diagnosestellung wurden die Kriterien schrittweise validiert und revidiert. Wegen der ICD-10 zu Grunde liegenden interkulturellen Perspektive sind die diagnostischen Kriterien dort allgemeiner und weniger kategorisch als in [82]DSM-5 formuliert. Insbesondere klammert ICD-10 – anders als das nordamerikanische DSM-5 – bei der Definition des Störungsbildes Beeinträchtigungen in sozialen und beruflichen Funktionsbereichen aus. In Deutschland und in der Schweiz ist ICD-10 für die offizielle Dokumentation verpflichtend vorgeschrieben. Daneben wird – insbesondere im Bereich der Forschung – auch das DSM-5 häufig angewendet.
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Persönlichkeitsstörungen werden in diesen Klassifikationssystemen als tief verwurzelte, lang anhaltende Verhaltensmuster bestimmt, die sich in starren Reaktionen auf persönliche und soziale Lebenslagen zeigen176. Beispielhaft sei zitiert:
ICD-10 F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Diese Persönlichkeitsstörung fällt durch eine große Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen auf und ist charakterisiert durch:
1. Kaltes Unbeteiligtsein und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer.
2. Grobe und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen.
3. Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen.
4. Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten.
5. Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung.
6. Ausgeprägte Neigung, andere zu beschuldigen oder einleuchtende Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch welches die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
Andauernde Reizbarkeit kann ein zusätzliches Merkmal sein. Eine Störung des Sozialverhaltens in der Kindheit und Jugend stützt die Diagnose, muss aber nicht vorgelegen haben.
[83]DSM-5 Diagnostische Kriterien für 301.7: Antisoziale Persönlichkeitsstörung
A. Ein tief greifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund für eine Festnahme darstellen.
2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert.
3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen.
4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert.
5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit oder der Sicherheit anderer.
6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.
7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat.
B. Die Person ist mindestens 18 Jahre alt.
C. Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar.
D. Das antisoziale Verhalten tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer bipolaren Störung auf.
DSM-5 Diagnostische Kriterien für Störung des Sozialverhaltens
A. Es liegt ein repetitives und anhaltendes Verhaltensmuster vor, durch das die grundlegenden Rechte anderer oder wichtige altersentsprechende gesellschaftliche Normen oder Regeln verletzt werden. Dies manifestiert[84] sich im Auftreten von mindestens drei der folgenden 15 Kriterien aus einer der nachfolgenden Kategorien während der letzten zwölf Monate, wobei mindestens ein Kriterium in den letzten sechs Monaten aufgetreten sein muss:
Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren
1. Schikaniert, bedroht oder schüchtert andere häufig ein.
2. Beginnt häufig Schlägereien.
3. Hat Waffen benutzt, die anderen schweren körperlichen Schaden zufügen können (z. B. Schlagstock, Ziegelstein, zerbrochene Flasche, Messer, Schusswaffe).
4. War körperlich grausam zu Menschen.
5. Quälte Tiere.
6. Hat in Konfrontation mit dem Opfer gestohlen (z. B. Überfall, Taschendiebstahl, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall).
7. Hat jemanden zu sexuellen Handlungen gezwungen.
Zerstörung von Eigentum
8. Hat vorsätzlich Brandstiftung begangen mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen.
9. Hat vorsätzlich fremdes Eigentum zerstört (jedoch nicht durch Brandstiftung).
Betrug oder Diebstahl
10. Ist in eine fremde Wohnung, ein fremdes Gebäude oder Auto eingebrochen.
11. Lügt häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (d. h. er „legt andere herein“).
12. Hat Gegenstände von erheblichem Wert ohne direkten Kontakt mit dem Opfer gestohlen (z. B. Ladendiebstahl, jedoch ohne Einbruch, sowie Fälschungen).
Schwere Regelverstöße
13. Bleibt schon vor dem Alter von 13 Jahren trotz elterlicher Verbote häufig über Nacht weg.
14. Ist mindestens zweimal über Nacht von zu Hause weggelaufen, während er/sie noch bei den Eltern oder bei einer anderen Bezugsperson wohnte oder kam einmal erst nach einem längeren Zeitraum zurück.
15. Schwänzt schon vor dem Alter von 13 Jahren häufig die Schule.
[85]B. Die Verhaltensstörung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.
C. Bei Personen, die 18 Jahre oder älter sind, sind nicht die Kriterien einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung erfüllt.
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Die Kategorien der „anti-“ bzw. „dissozialen“ oder „im Sozialverhalten“ gestörten Persönlichkeiten ergeben sich nicht aus einer induktiven Beobachtung mit psychiatrischem Sachverstand. Da diese Persönlichkeitskategorien jenseits eines rein medizinisch bestimmbaren Krankheitsbildes durch Merkmale der sozial nicht tolerierten Abweichung von dem Spektrum der „normalen“ Persönlichkeit gekennzeichnet sind, bedarf ihre Bestimmung der Angabe, welches Spektrum von Persönlichkeitseigenschaften als erwünscht und normal gilt. Persönlichkeitsstörungen können nur definiert und identifiziert werden, indem ein in der betreffenden Persönlichkeit nicht vorhandener, externer Normalitätsmaßstab auf sie angewandt wird. Die Normalität beruht auf einer konventionellen Festlegung, die nicht objektiv oder universell sein kann. Der Normalitätsmaßstab entspricht dem, was die maßgeblichen Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft als normal empfinden. Ist anhand eines Normalitätsmaßstabes eine Störung definiert, so lassen sich anschließend die Symptome dieser Störung bei bestimmten Individuen beobachten und beschreiben. Hier – und erst hier! – ist psychiatrischer Sachverstand verlangt.
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Die kriminologische Relevanz der verschiedenen Konzepte von sozial nicht tolerierten antisozialen Persönlichkeitsstörungen ergibt sich aus zwei empirisch geprüften Beobachtungen. Zum einen scheinen Individuen mit solchen Persönlichkeitsstörungen in der Population der inhaftierten Verurteilten häufiger vorzukommen als in der Normalbevölkerung. Zum anderen bleibt offenbar die Bereitschaft zur Begehung von Gewalt- und Sexualdelikten in der biografischen Entwicklung einer Person relativ stabil erhalten. Abgesehen von der auf den Alterungsprozess des Organismus zurückzuführenden generellen Aktivitätsabnahme im vorgerückten Lebensalter bleibt die Disposition zur Begehung solcher Delikte offenbar auch nach längerem Zeitablauf bestehen und kann namentlich weder durch Veränderung der Lebensumstände noch durch Sanktionierungserfahrungen entscheidend beeinflusst werden. Nimmt man diese Befunde beim Wort und versteht sie nicht bloß als Artefakte einer auf Persönlichkeitsauffälligkeiten von Kriminellen fokussierten Wahrnehmung, so erbringen sie eindrückliche Belege für die Persönlichkeitsabhängigkeit von Delinquenz – und diskreditieren sowohl den klassischen Standpunkt, dass[86] kriminelles Verhalten eine Konsequenz freier Wahl des Individuums sei, wie die soziologische Sichtweise, die Kriminalität auf gesellschaftliche Einflüsse zurückführt.
2. Diagnose in der Praxis
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Freilich ist die Grundlage für eine Diagnose der antisozialen Persönlichkeit alles andere als gefestigt. Angesichts der Methodenvielfalt werden unterschiedliche Diagnoseschlüssel nebeneinander eingesetzt. Von den konkurrierenden Methoden der Diagnosestellung werden neuerdings bevorzugt jene verwandt, deren Kategorien möglichst klare Symptombeschreibungen enthalten, die statistisch geprüft sind und die sich auf eine breite, möglichst internationale Akzeptanz unter Forschenden stützen können. Die diagnostischen Kategorien beruhen auf Merkmalskombinationen, deren Vorhandensein bei einem Individuum auf eine psychische Störung schließen lässt. Dabei ist keine eindeutige Identifikation des Individuums möglich. Vielmehr besteht die Diagnose in der analogischen Wiedererkennung genereller Symptombeschreibungen bei einem Individuum, wobei die Symptome nur als Indizien für eine psychische Störung zu verstehen sind und ihre jeweilige graduelle Ausprägung ein Beurteilungsermessen belässt.
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Die Konzepte der antisozialen Persönlichkeitsstörungen sind keine beschreibende, um differenzierende Wahrnehmung bemühte Begriffe, sondern zu Kontrollzwecken dienende zuschreibende Definitionen: Wer die Merkmale erfüllt, bedarf der sorgsamen Überwachung und der Neutralisierung seines Gefährdungspotentials. Das die Erkenntnis überlagernde Kontrollbedürfnis ist stets im Spiel, wenn es um die Beobachtung psychischer Auffälligkeit geht.
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Der Stabilität der Persönlichkeitsprägung entsprechend bleibt der Hang zu „antisozialem“ Verhalten vom Wandel der Lebensumstände unberührt im Lebensverlauf erhalten, bis infolge des Alterns des Organismus ein Abbau der Triebkräfte einsetzt. Dem gemäß ist die Diagnose der antisozialen Persönlichkeitsstörung bei verurteilten Straftätern gleichbedeutend mit der Annahme des Drohens weiterer schwerer Straftaten, die eine Sicherung der Allgemeinheit durch langandauernde Inhaftierung verlangt. Die Verlässlichkeit dieser Diagnose ist umstritten.177
25 Weil die Folgen der Diagnose einer antisozialen Persönlichkeit für den Betreffenden in außerordentlichen und langandauernden Freiheitsbeschränkungen bestehen, bedarf nicht bloß die Diagnose im Einzelfall einer sorgfältigen kritischen Überprüfung, sondern mehr noch deren konzeptionelle Grundlage einer relativierenden Beurteilung. Auch die vergleichsweise ausgefeilten und erprobten Klassifizierungen [87] von ICD-10 und DSM-5 verwenden eine nicht stets eindeutige Begrifflichkeit der diagnostischen Merkmale. Deren graduell unterschiedliche Ausprägungsstärke und ihre Kumulierbarkeit belassen Interpretationsspielräume, die je nach Vorverständnis der diagnostizierenden Person zu divergierenden Beurteilungen führen können. Besonders bei DSM-5 entstammen die Merkmale dem kulturellen Kontext der Mittelschicht und tragen Situationen sozialer Benachteiligung nicht Rechnung.
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Vielfach beziehen sich die Merkmalsbeschreibungen auf sozial bewertete Sachverhalte, die als regelwidrig und störend gelten. Dabei besteht die Gefahr eines empirisch gehaltlosen Zirkelschlusses, indem auf die Persönlichkeitsstörung, die sozial auffälliges und schädigendes Verhalten erklären soll, aus einem Verhaltensmuster geschlossen wird, das als sozial störend bewertet wird. Bei einer „antisozialen“ Persönlichkeitsstörung, die zu repetierendem, zumeist gewalttätigem kriminellen Verhalten disponiert, ist die Gefahr tautologischer Argumentation gerade wegen der Plausibilität des Zusammenhanges von Gewalttätigkeit und gestörter Persönlichkeit besonders groß. Wilhelm Busch (1832-1908) parodierend, ist man versucht zu sagen:
„Es findet keine Überraschung statt, so man es schon erwartet hat.“
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Eine zirkuläre Beweisführung bei der Anwendung des Konzepts der antisozialen Persönlichkeitsstörung liegt besonders nahe, wenn die Persönlichkeitsstörung mit der Fähigkeit zur manipulatorischen Täuschung über die Sozialgefährlichkeit in Zusammenhang gebracht wird.178
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Oft ist die Vertretbarkeit universaler und konsistenter Eigenschaften von delinquenten Persönlichkeiten fraglich. Individuelle Dispositionen bestehen gleichermaßen zur Verhaltenskonstanz wie zur Verhaltensflexibilität. Die auf allgemeine Wesenszüge der Persönlichkeit bezogene Kriminalitätserklärung dürfte den komplexen Wechselwirkungen von Person und Situation nicht ausreichend Rechnung tragen. Geht man davon aus, dass Eigenschaften von Personen durch soziale Interaktion gebildet und verfestigt werden, so sind Beschreibungen von Täterpersönlichkeiten das Ergebnis der sozialen Aushandlung von Kriminalität durch rückblickend „stimmige“ Deutung des Kriminalitätsereignisses im Hinblick auf einen Autor mit dazu „passenden“ Eigenschaften. Effekte der Stigmatisierung und der Prisonisierung können zu Veränderungen des Ichbildes im Sinne der Übernahme einer Deviantenrolle führen („sich selbst erfüllende Prophezeiung“, → § 13 Rn 10). Soweit Persönlichkeitsunterschiede zwischen sozial Unauffälligen und später Verurteilten bereits vor der offiziellen Registrierung von Kriminalität vorgefunden wurden, lassen sich [88] diese mit vorgängigen Interaktionen erklären, in denen soziale Auffälligkeiten bestimmt werden, die ihrerseits die spätere offizielle Registrierung, den Verlauf der Strafverfolgung und die Sanktionierung beeinflussen.179
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Wer in der Strafrechtspflege tätig ist, wird unschwer bei der typischen Klientel der wiederholt rückfälligen Sexual- und Gewaltstraftäter die beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale wiederfinden. Die Übereinstimmung persönlichkeitstheoretischer Befunde mit forensischer Alltagserfahrung bedeutet jedoch keine Bestätigung auf Plausibilitätsniveau. Die Berufserfahrung der Strafrichter und Staatsanwälte bezieht sich nicht auf einen Menschenschlag, der zu Straftaten disponiert ist, sondern auf Personen, die gewöhnlich wiederholt und wegen bestimmter gravierender Delikte vor Gericht stehen. Über die Vielzahl der Personen, die unerkannt Straftaten verüben, weiß die Justiz nichts. Auch ist der Blick vom Richterstuhl höchst selektiv. Der angeklagte Wirtschaftskriminelle erscheint als ein „Mann ohne Eigenschaften“, bei dem die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Persönlichkeit und Delikt fernliegt. Man erinnert sich nur derer, die regelmäßig vor Gericht erscheinen, mehr noch: deren Rückkehr auf die Bank des Angeklagten absehbar ist. Für die Annahme, dass „es so kommen musste“, bietet sich die Erklärung einer durch die Persönlichkeit des Angeklagten disponierten Verhaltenskonstanz zwanglos an. Diese Annahme ist bequem, weil sie von desozialisierenden Einflüssen vorangegangener Sanktionierungen absieht und damit die Strafjustiz von Verantwortung entlastet. Doch sind bequeme Antworten nicht immer überzeugend.
30 Die Verhaltenskontinuität von angeklagten Straftätern ist nicht befremdlich. Wir alle sind in Routinen befangen, haben ein Bedürfnis nach Stabilität unserer Lebensweise und Schwierigkeiten, die einmal erworbene soziale Rolle abzustreifen. Da der „Rückfall“ im sozialen Verhalten typisch ist, ist seine persönlichkeitsbezogene Erklärungsbedürftigkeit nur und gerade im Bereich devianten Sozialverhaltens schwer einzusehen. Dies gilt umso mehr, als die Rückfallkriminalität nicht ausschließlich durch eine kriminelle Verhaltenskonstanz des Individuums bedingt ist. Der Rückfall wird für die Strafjustiz erst wahrnehmbar durch das Zusammenspiel zwischen Kontinuität des beurteilten rechtswidrigen Verhaltens und Kontinuität der institutionellen Reaktion auf die Rechtsverletzung. Der Beharrlichkeit des Rechtsbrechers folgt eine beharrliche Reaktion, die förmlich die Rückfälligkeit feststellt und diskreditiert. Mit rückfallbeeinflussenden Faktoren ist demnach nicht nur auf der individuellen Verhaltensebene des Straffälligen, sondern auch auf der Ebene des Kontrollverhaltens zu rechnen. Schon von Liszt veranlasst das Studium der Reichskriminalstatistik zu der Aussage:
„Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er [89] wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen.“ […] Denn unter den Ursachen des Rückfalls „nehmen die Fehler unseres Strafgesetzbuchs, unserer Strafrechtspflege, unseres Strafvollzugs weitaus die erste Stelle ein.“180
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Für eine Prognosestellung werden neuerdings empirisch validierte Kriterienlisten als Leitfaden eingesetzt. Dabei wird die prognostische Einzelfallbeurteilung anhand von Kriterienlisten vorgenommen, welche relevante Risikofaktoren benennen und gewichten.181 Solche Listen dienen zum einen als Arbeitsinstrument für die fachpsychiatrische Individualbeurteilung, zum anderen ermöglichen sie Laien, erstellte Prognosegutachten auf ihre Plausibilität zu überprüfen.182 In der Schweiz ist bei der Prüfung einer Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug und der Gemeingefährlichkeit vor Gewährung von Vollzugslockerungen eine Kommission aus Vertretern der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörden sowie der Psychiatrie anzuhören (Art. 62d Abs. 2, 75a Abs. 1, 2 StGB [CH]), welche eine solche Kriterienliste verwendet und mit ihrem Vorschlag die von der Behörde zu treffende Entscheidung oft faktisch vorwegnimmt.183 Die in den Kriterienlisten aufgeführten Risikofaktoren beruhen stets auf retrospektiven Studien über die persönlichen und sozialen Zusammenhänge mit schwerer Rückfallkriminalität. Prospektiv wurden Prognosekriterien bislang noch nicht auf ihre Validität überprüft.184
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Zu den bekanntesten neueren Kriterienlisten zählt der in Kanada zur Prognose von Gewaltdelikten bei psychisch auffälligen oder persönlichkeitsgestörten Personen entwickelte HCR-20185. Mit diesem Prognoseinstrument werden 20 Kriterien geprüft, die sich auf die Vorgeschichte (Historical), das gegenwärtige Störungsbild (Clinical) sowie auf die künftig zu erwartenden äußeren Umstände (Risk) beziehen. In Deutschland wurde der HCR-20 von Norbert Nedopil (*1947) in eine erweiterte Liste von Risikovariablen (ILRV) integriert.186 Daneben ist der ebenfalls aus Kanada stammende SVR-20 zur Vorhersage sexueller Gewalttaten187 gebräuchlich.188 HCR-20 wie SVR-20 verwenden Kriterien des PCL-R (Psychopathy Checklist Revised), einem Instrument zur Ermittlung des klinischen Störungsbildes „psychopathy“, das sich nur unzulänglich ins Deutsche übersetzen lässt.
[90]Integrierte Liste von Risikovariablen nach Nedopil
A. Ausgangsdelikt
1. Statistische Rückfallwahrscheinlichkeit.
2. Bedeutung situativer Faktoren für das Delikt.
3. Einfluss einer vorübergehenden Krankheit.
4. Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung.
5. Erkennbarkeit motivationaler Zusammenhänge.
B. Anamnestische Daten (Vorgeschichte)
1. Frühere Gewaltanwendung.
2. Alter bei erster Gewalttat.
3. Stabilität von Partnerbeziehungen.
4. Stabilität in Arbeitsverhältnissen.
5. Alkohol- / Drogenmissbrauch.
6. Psychische Störung.
7. Frühe Anpassungsstörungen.
8. Persönlichkeitsstörung.
9. Frühere Verstöße gegen Bewährungsauflagen.
C. Postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung (klinische Variablen)
1. Krankheitseinsicht und Therapiemotivation.
2. Selbstkritischer Umgang mit bisheriger Delinquenz.
3. Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten.
4. Pro-/ antisoziale Lebenseinstellung.
5. Emotionale Stabilität.
6. Entwicklung von Coping-(Bewältigungs-)Mechanismen.
7. Widerstand gegen Folgeschäden durch Institutionalisierung.
D. Sozialer Empfangsraum (Risikovariablen)
1. Arbeit.
2. Unterkunft.
3. Soziale Beziehungen mit Kontrollfunktion.
4. Offizielle Kontrollmöglichkeiten.
5. Verfügbarkeit von Opfern.
6. Zugangsmöglichkeiten zu Risiken (destabilisierende Einflüsse).
7. Compliance (Bereitschaft zur Mitarbeit an therapeutischen Maßnahmen).
8. Stressoren (mögliche belastende Anforderungen).
E. PCL-R Wert
[91]33
Die Prognosestellung mit Hilfe von Kriterienlisten ist transparenter als die herkömmliche Individualprognose und erlaubt es den Gerichten, die Sachverständigenbeurteilung zumindest auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Freilich ist auch deren prognostische Verlässlichkeit umstritten.189 Nach Nedopil ist es allein bei therapiebedürftigen Probanden mit spezifischen Defiziten mit Hilfe eines hypothesengeleiteten Therapieprogrammes, dessen Interventionen kontinuierlich überprüft und korrigiert werden, „in Ansätzen“ möglich, Risikoeinschätzungen zu erarbeiten, die „einem gewissen“ wissenschaftlichen Anspruch genügen.190
34
Mitunter führt die Prognose zur Annahme einer „Therapieresistenz“191. Für dieses Verdikt, das dem im 19. Jahrhundert durch von Liszt entworfenen Konzept des unverbesserlichen – und daher dauerhaft unschädlich zu machenden – Rückfallverbrechers (→ § 4 Rn 25 f.; § 21 Rn 12) entspricht, gibt es keine empirische Entsprechung in Befundtatsachen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein begriffliches Konstrukt, das die Gründe für die Undurchführbarkeit einer Therapie ausschließlich in der Person des Probanden verortet und diese mit dem apodiktischen Verdikt der Unverbesserlichkeit belegt, das sich erst recht dazu eignet, „Therapieresistenz“ zu fördern. Mitunter liegt die „Untherapierbarkeit“ schlicht daran, dass geeignete Therapiemöglichkeiten und -einrichtungen fehlen. Das Urteil der „Untherapierbarkeit“ ist jedenfalls nur vorläufig für überschaubare Zeiträume gültig. Zudem weist die begriffliche Konstruktion von „Therapieresistenz“ einen politischen Zuschnitt auf, der den resozialisierenden Behandlungsvollzug desavouiert (→ § 20 Rn 44) und das populistisch vereinfachte Rezept, gefährliche Straftäter einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, stützt.
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Darüber hinaus entspricht die „Therapieresistenz“ dem generellen Schema der von Persönlichkeitstheorien vorausgesagten Verhaltensstabilität. Ebendarum ist hier die Gefahr einer Fehleinschätzung, die bestätigt findet, was der Ansatz von vornherein erwarten ließ, besonders groß.
„Die diagnostischen Kriterien für Persönlichkeitsstörungen, ebenso wie die Prognoseinstrumente für Rückfälligkeit in Delinquenz, betonen die statischen Elemente bei derartigen Störungen und implizieren damit, dass eine Änderung der Prognose durch Therapie oder durch Zeitablauf nicht zu erwarten ist. Bei einem Verharren in diesen Annahmen erscheint eine Therapie von vornherein aussichtslos, weil das diagnostische und prognostische Instrument eine Änderung nicht zulässt bzw. nicht erkennen kann. Trotz dieser Vorannahmen haben persönlichkeitsgestörte Probanden nur eine relativ kurze Aufenthaltsdauer im Maßregelvollzug. Daraus ließe sich ableiten, dass sich die Prognose [92] von der Einweisung in den Maßregelvollzug bis zur Entlassung aus dem Maßregelvollzug in kurzer Zeit erheblich verbessert hat, ein Ergebnis, welches den Vorannahmen widerspricht. Es erscheint wichtig, Prognoseparameter in die Entscheidung über die Entlassung aufzunehmen, die eine Änderung erfassen und eine Verbesserung der Prognose widerspiegeln können.“192
36
Das Erstarken persönlichkeitsbezogener Erklärungen von Kriminalität in den vergangenen 30 Jahren geht mit einer Veränderung des kriminalpolitischen Klimas einher. Vordem herrschte die Auffassung, dass das Individuum durch in seinem sozialen Umfeld erlernte Gewohnheiten geprägt sei (→ § 10). Dieser Vorstellung entsprach eine offizielle Kriminalpolitik, welche die kulturellen Gewohnheiten straffälliger Personen durch eine breite Palette drohender, strafender und sozial stützender Interventionen zu verändern trachtete. Die (zu) großen Erwartungen an die aufwendigen Bemühungen um eine teils erzwingende, teils helfende Verhaltenskorrektur erfüllten sich nicht. Gerade bei sozial gefährlichen Mehrfachtätern, auf die sich die Anstrengungen konzentrierten, wurde der Ertrag der Interventionsbemühungen als enttäuschend empfunden (→ § 20 Rn 44 ff.). Wie so oft, wenn Versuche der externen Verhaltenskorrektur scheitern, oder auch nur hinter zu hohen Erwartungen zurückbleiben, liegt es nahe, die interne Beschaffenheit des Individuums für die kriminelle Verhaltenskonstanz verantwortlich zu machen.
157 Lösel 1993.
158 Glueck/Glueck 1950.
159 Amelang u. a. 2006.
160 Waldo/Dinitz 1967.
161 Bernard/Snipes/Gerould 2016, 99.
162 Cleckley 1988.
163 Rafter-Hahn 1997.
164 Rowe 1996.
165 Hollin 2012.
166 Halleck 1971, 77.
167 Zusammenfassend Herren 1973; Schneider 1983.
168 Alexander/Staub 1974.
169 Ostermeyer 1972.
170 Reik 1974.
171 Freud 1954, 89.
172 Alexander/Staub 1974, 410.
173 Haffke 1976.
174 Dilling/Mombour/Schmidt 2015.
175 Falkai/Wittchen 2015.
176 Dilling/Mombour/Schmidt 2015, 274.
177 Zur Bandbreite der Einschätzungen vgl. nur Hinz 1987, Cornel 1994 sowie die Beiträge in Dölling 1995.
178 So Haas 1996.
179 Lösel 1983, 38; vgl. auch Bernard/Snipes/Gerould 2016, 100.
180 von Liszt 1905, 346.
181 Nedopil 2006.
182 Dittmann 1999.
183 Kritisch Stratenwerth 2002.
184 Nedopil 1995, 83 ff.
185 Deutsche Bearbeitung von Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Jöckel 1998.
186 Nedopil 2006, 122 ff.
187 Deutsche Bearbeitung von Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000.
188 Schneider 2006, 101.
189 Nedopil/Müller 2012, 245 ff.
190 Nedopil 1995, 90.
191 Haas 1996.
192 Nedopil 1997, 79.