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[14]§ 2 Der Forschungsgegenstand und seine Erschließung: Kriminalität erklären oder verstehen?

Lektüreempfehlung: Reckwitz, Andreas (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. 2. Aufl., Weilerswist, 13-26.

I. Der Forschungsgegenstand

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Nach konventionellem Verständnis lässt sich der Gegenstand kriminologischer Forschung als Trias darstellen und umfasst

■ die gesellschaftlich, vor allem rechtlich, als „kriminell“ gedeuteten Verhaltensweisen;

■ die Personen, die sich dergestalt verhalten oder denen solches Verhalten zugeschrieben wird;

■ die gewählten Reaktionsweisen auf dieses Verhalten, ihren Zusammenhang mit Verunsicherungsgefühlen und Punitivitätserwartungen und die gesellschaftliche Sinnbestimmung von Reaktionen auf Kriminalität.

Um es prägnant auszudrücken: Die Kriminologie ist

„a study of lawmaking, lawbreaking, and reactions to lawbreaking.“33

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Diese drei Teile des kriminologischen Forschungsgegenstandes geben eine sehr grobe Übersicht über relevante Themenbereiche. Einzelne Richtungen der Kriminologie konzentrieren sich in der Regel auf bestimmte Themenbereiche und betrachten diese unter einem bestimmten Blickwinkel (→ §§ 4-13). Die Themenbereiche untergliedern sich in verschiedene Forschungsfelder. So bezieht sich der Zuschreibungsbereich auf die Erfassung der Kriminalität als zählbares Merkmal sozialer Einheiten (→ §§ 15-18) wie auf die Wirkungen strafrechtlicher Sanktionen (→ § 20). Mitunter verlangt ein Thema eine bereichsübergreifende Betrachtung wie bei der Kriminalprävention und -prognose, wo die Möglichkeit der Beeinflussung individuellen Verhaltens (auch) mit Mitteln strafrechtlicher Sanktionen und begleitender Therapie von Interesse ist. Die kriminologischen Themenfelder sind um neue Bereiche erweiterbar. So hat sich, analog zur traditionell täterbezogenen Ursachenforschung strafbaren Verhaltens (→ §§ 6-13), eine gleichermaßen ätiologisch ausgerichtete, also an Ursachen interessierte, „Viktimologie“ genannte Opferforschung [15] entwickelt (→ § 18 Rn 19 ff.). Schließlich haben die kriminologischen Themenfelder Außenbezüge etwa zur Kriminalistik (→ § 1 Rn 3) und zur Kriminalpolitik (→ § 24 Rn 44 ff.).

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Mit einer solchen Definition des Forschungsgegenstandes ist aber weniger gewonnen, als auf den ersten Blick scheinen mag. Denn wie jede verallgemeinernde sprachliche Kategorie benennt „Kriminalität“ keine Sachverhalte, sondern deutet sie. Die Kategorie stellt Gemeinsamkeiten her, welche keine Gemeinsamkeiten der Sachverhalte sind, sondern Verwandtschaftsbeziehungen beim Begreifen der Sachverhalte. „Kriminalität“ schreibt die Attribution „kriminell“ im Wege des strafrechtlichen Vorwurfs zu. Freilich bezeichnet die Zuschreibung dabei nicht, wie gemeinhin angenommen, direkt und unvermittelt ein von ihr unabhängig und vorgängig existentes Verhalten an sich. Vielmehr deutet die Zuschreibung selbst das Verhalten als kriminell, gibt ihm einen hinweisend bewertenden Eindruck und bettet es darin ein. Erst das sinngebende Begreifen macht das Verhalten zum kriminellen Verhalten. Die Charakteristik des kriminellen Verhaltens liegt in seiner Charakterisierung als solches.

4 Kriminalitätsdefinitionen der Kriminaljustiz und der Gesellschaft sind stets Ergebnisse eines Bestimmungsvorganges, welcher unter konkreten historischen und sozialen Bedingungen abläuft. Damit erstreckt sich das kriminologische Erkenntnisinteresse auf die Umstände solcher Bestimmungen, ihre geschichtlichen und gesellschaftlichen Differenzen, ihre Selektivität und die damit verfolgten Interessen. Der kriminologisch relevante Themenbereich umfasst deshalb nicht nur als kriminell gedeutete Handlungen und ihre Verursachung, sondern gleichermaßen die Bedingungen der strafrechtlichen und gesellschaftlichen Bestimmung als Kriminalität. Es geht zentral um die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität (→ § 13 Rn 7 ff.). Ein gesellschaftlich produzierter Gegenstand kann nur unter Mitberücksichtigung seiner sozialen Produzenten und Produktionsbedingungen angemessen erfasst werden. Die Kriminalität ist, ihrer ursprünglichen lateinischen Bedeutung entsprechend, notwendig im Zusammenhang mit ihrer Kontrolle zu betrachten. Das Forschungsinteresse richtet sich damit auf die Regeln der gesellschaftlichen Vergabe des Etiketts Kriminalität. Da die „Taufe“ eines Verhaltens als Kriminalität durch Kontrollvorgänge geschaffen wird, erscheint für manche Kriminologen zweifelhaft, ob daneben überhaupt noch Erklärungsbedarf für die Beschaffenheit der so getauften Verhaltenspraxis besteht.

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Den Schwierigkeiten einer angemessenen Bestimmung des Forschungsgegenstandes ist die Kriminologie nicht allein ausgesetzt. Die Probleme spiegeln vielmehr den Zustand einer fortgeschrittenen Sozialwissenschaft wider, welche sich ihres reflexiven Charakters bewusst wird. Dieser besteht darin, dass diese Disziplinen die Gesellschaft und mit ihr die Sozialwissenschaft selbst als Teil der Gesellschaft zum [16]Thema haben. Die angesprochenen Probleme rühren daher, dass die in naiver Annäherung gewählte Frage nach Aufgabe und Gegenstand der Kriminologie nur eindeutig zu beantworten wäre, wenn man mit dem Erklärungsmodell annehmen könnte, der Gegenstand sei der Disziplin als eine Faktizität von Sachverhalten vorgegeben, und die Aufgabe bestünde darin, diese Faktizität zu bestimmen und zu beschreiben. Inwieweit diese Annahme zutrifft, ist umstritten und hat notwendigerweise Konsequenzen für die methodische Herangehensweise an die kriminologische Forschung.

II. Das Modell des Erklärens

6 Kriminologie ist, wie andere Sozialwissenschaften, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwurzelt und entfaltet sich in der Moderne, die in der Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Zenit erreicht. Prägend für die Epoche wie das Fach ist das Vertrauen auf die Macht der Vernunft, mit der sich die Natur beherrschen, das soziale Leben kontrollierend gestalten und die Geschichte zum Vorteil der Menschheit verändern lässt. Der Fortschrittsoptimismus wird vor allem durch die beeindruckenden Entwicklungen in den Naturwissenschaften und ihre technologische Umsetzung genährt. Fortan gelten die „exakten“ Naturwissenschaften als vorbildhaft für die Erkenntnis des Sozialen. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt Auguste Comte (1798-1857) die Idee, die Regeln der Naturbeobachtung auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge zu übertragen. Das damit begründete einheitswissenschaftliche Modell des Erkennens nennt Comte „positivistische Philosophie“34. Er will damit die wissenschaftliche Wahrnehmung des Sozialen auf die Beobachtung von Gegebenheiten begrenzen und damit Glaubensüberzeugungen, Wertungen und überhaupt Subjektivität aus der Wissenschaft verbannen.

7 Der Positivismus geht davon aus, der Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis sei unabhängig vom methodischen Zugang und der subjektiven Einstellung des Erkennenden als etwas naiv und unbestreitbar Gegebenes positiv vorhanden und könne deshalb wie ein Faktum unbeteiligt, also streng wertneutral und „objektiv“ erkannt werden. Diese Annahme bestimmt die Entwicklung der Kriminologie und prägt ihren erklärenden empirischen Zweig bis heute. Demzufolge wird kriminelles Verhalten als objektive Gegebenheit verstanden, das in seinem tatsächlichen Vorkommen wahrgenommen, gezählt und auf soziale, psychologische und biologische Einflüsse zurückgeführt werden kann. Die Suche nach allgemeingültigen ursächlichen [17]Erklärungen für Kriminalität folgt dem kriminalpolitischen Anliegen, Kriminalität kontrollieren zu können, und stellt damit die Wissenschaft in den Verwendungszusammenhang der kriminalpolitischen Praxis.

8 Als Kind der Aufklärung und Schwester der Moderne ist die Kriminologie ursprünglich auf ein Erklären von kriminellem Verhalten angelegt. In dem für Naturwie Sozialwissenschaften gültigen, also einheitswissenschaftlichen, Modell des Erklärens wird ein wahrgenommenes Geschehen aus seiner kausalen statistischen Abhängigkeit von einem anderen wahrgenommenen Geschehen bestimmt. Dabei geht es darum, eine Beobachtung hypothetisch mit anderen Beobachtungen („Randbedingungen“) zusammenzubringen (zu „korrelieren“) und zu prüfen, ob dieser unterstellte Zusammenhang einer allgemeinen statistischen Gesetzmäßigkeit folgt. Ein Geschehen („Explanandum“) gilt danach als erklärt, wenn es sich unter bestimmten Randbedingungen aus einer solchen Gesetzmäßigkeit („Explanans“) herleiten lässt. Die Erklärung erfolgt durch statistische Auswertung der Zusammenhänge innerhalb der Quantität von getroffenen Beobachtungen, folgt also einer quantitativen Methode. Das Ergebnis der Erklärung ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage. So können Gewalttaten von Jugendlichen mit frühkindlichen Misshandlungen der Täter in Zusammenhang gebracht und geprüft werden, ob zwischen jugendlicher Gewaltdelinquenz und dem Erleiden von Gewalt im Kindesalter ein allgemeiner statistischer Zusammenhang besteht. Solches Vorgehen nennt man „empirisch“, „erfahrungswissenschaftlich“ oder, mit einem Modewort ausgedrückt, evidence-based 35.

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Beim Erklären werden Geschehnisse zueinander in Bezug gesetzt, die als dinghaft gegeben und wie Naturobjekte als sinnlich wahrnehmbar verstanden werden. Das wahrgenommene Objekt prägt sich angeblich auf der Wachstafel unserer Wahrnehmung ein wie es ist und kann deshalb von jedem unter den gleichen Voraussetzungen in gleicher Weise, also objektiv, erkannt werden.

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In der Gegenwart sind sowohl die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wie die forschungspraktischen Konsequenzen dieses positivistischen Zuschnitts der Kriminologie fragwürdig geworden. Vom Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften in den 1960er Jahren36 beeinflusst, entwickelte sich in der Kriminologie seit Mitte der 1970er Jahre eine Debatte darüber, ob Kriminalität nach positivistischem Muster zu erklären oder aber in einer nichtpositivistischen Weise zu verstehen sei.

[18]III. Das Verstehensmodell

11 Die beschriebene Grundannahme der objektiven Spiegelung des äußerlich Gegebenen in der inneren Wahrnehmung ist bei kulturell und gesellschaftlich geprägten „Dingen“ wie Kriminalität fragwürdig: Die Kultur- und Sozialwelt ist dem Forscher nicht rein äußerlich vorgegeben. Wer diese Welt erforscht, ist selbst Teil des Ensembles, auf das sich die Forschung bezieht. Wegen dieser Selbstbezüglichkeit der wissenschaftlichen Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität ist der „Mythos des Gegebenen“37, der dem Erklärungsmodell zu Grunde liegt, anzuzweifeln. Sozialwissenschaftliche und damit auch kriminologische Forschung ist selbst Teil der sozialen Praxis, die erforscht wird. Das wissenschaftliche Beobachten gesellschaftlich-kulturellen Geschehens ist zwangsläufig standpunktgebunden und perspektivenbezogen. Der rigide Purismus eines voraussetzungsfreien „reinen“ Erkennens ist hier Illusion.

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Nach dem Verstehensmodell folgt die sozialwissenschaftliche Erkenntnis deshalb anderen Regeln als das naturwissenschaftliche Erklären. Gesellschaftliche Realphänomene sind keine der Beobachtung unmittelbar zugänglichen Objekte. Die soziale Welt ist von Menschen intentional mit Sinn verbunden. In diskursiven Praktiken wird dieser Sinn durch andere soziale Akteure interpretiert, mit anderen Deutungen konfrontiert und möglicherweise neu ausgehandelt. Das Geflecht dieser Bedeutung stiftenden Praktiken schafft ein Verständnis der sozialen Wirklichkeit und macht diese Wirklichkeit für uns verfügbar. Alle sozialen Akteure, welche die betreffende Sprache beherrschen, sind befähigt, Bedeutungen von Dingen zu verstehen, indem sie diese mit ihren eigenen Assoziationen versehen und so sich davon „ihr“ Bild machen.

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Die alltagsnahe Evidenz der Wahrnehmung eines Verhaltens als Diebstahl bedeutet nicht, dass das Verhalten als Diebstahl gegeben und beobachtbar sei. Die Wahrnehmung ist vielmehr das Ergebnis einer komplexen Deutung des Verhaltens. Dabei werden juristische Deliktsvoraussetzungen wie „Diebstahlsvorsatz“ in Alltagsvorstellungen übersetzt, die wahrgenommene Handlung in ihrer nur aufgrund von Indizien deutbaren Intention – Vorsatz sieht man nicht – in ihrem Sinn bestimmt und dieser Sinn daraufhin bewertet, ob er den laienhaft verstandenen Anforderungen an einen Diebstahl entspricht. Ludwig Wittgenstein (1989-1951) bemerkt dazu in seiner philosophischen Grammatik:

„Als hätten die Wörter nicht auch ganz andere Funktionen als die Benennung von Tischen, Stühlen u. dergl. – Hier ist die Wurzel des [19] schlechten Ausdrucks: die Tatsache sei ein Komplex von Gegenständen.“38

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Im deutenden Ausdruck wird das Verhalten nicht exakt abgebildet wie die Blume auf dem Foto, sondern eher wie in einer akzentuierenden Skizze überzeichnend nachempfunden. Menschliches Handeln wird stets in solcher durch Bedeutung gerahmten Form wahrgenommen und ist nur so anderen vermittelbar. Wer die Handlungsbedeutung verstehen will, muss sich mit dieser Sinnsetzung auseinandersetzen, sie teilen oder ihr eine andere entgegensetzen. Daraus ergibt sich

„[…] der Leitgedanke einer symbolischen, sinnhaften Konstitution der sozialen Welt und des menschlichen Handelns“, demzufolge „die Sozialwelt und ihre Handlungsformen durch kollektive Sinnsysteme konstituiert werden.“39

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Jede Wahrnehmung der sozialen „Dinge“ beruht auf einem von ihnen gewonnenen persönlichen Eindruck, der das Wahrgenommene wertend nach Belangvollem und Unbedeutendem strukturiert und den Dingen Sinn beimisst. Da die Wahrnehmung sozialer „Dinge“ stets mit subjektiver Sinngebung verbunden ist, kommt auch die Wissenschaft nicht ohne sie aus. Insofern die soziale Welt sich durch diskursive Praktiken bildet und erschließt, muss auch der Forschende diese Praktiken rekonstruieren und dabei auf dieselben Fertigkeiten zurückgreifen, welche diejenigen ausüben, deren Verhalten er zu analysieren versucht. Die Sozialwissenschaft ist deshalb bei der Re-Interpretation ihres durch Vor-Interpretationen sozialer Akteure gebildeten Themas in den Prozess gesellschaftlicher Bedeutungs- und Identitätsstiftung eingebunden und wirkt mit ihren wissenschaftlichen Interpretationen auf den gesellschaftlichen common sense zurück.

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Dies ist bei der Kriminologie nicht anders. Als Werk und Spiegel der Gesellschaft existiert Kriminalität nicht als objekthaft, nichtkommunizierend und natürlich „sinnlos“ vorhandene Gegebenheit. Kriminalität ist ein „negatives Gut“40, das gesellschaftlich ausgehandelt und mit ausgrenzender Distanz, Stigmatisierung und Beschneidung von Ressourcen assoziiert wird. Das Erkennen von Kriminalität verlangt deshalb, diese Aushandlungen und Assoziationen unter Einbringung des eigenen Vorverständnisses interpretierend nachzuvollziehen.41

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Die verstehende Perspektive macht deutlich, dass der Mensch und seine Handlungen nicht bloß passives Produkt externer gesellschaftlicher Kräfte sind, auch wenn die Gesellschaft ihn und sein Verhalten prägt. Die „Prägung“ ist eine durchaus [20] wechselseitige, dialektische. Denn soziales Handeln wirkt auf eine symbolisch vermittelte gesellschaftliche Umwelt verändernd ein, die ihrerseits individuelle Reaktionen stimuliert, wobei durch reflexive Verarbeitung von Umwelteinflüssen ein neues Identitätsverständnis geformt wird. Indem das Subjekt als sich entwickelnde Identität die gesellschaftliche Erfahrung, die es macht, strukturiert, schafft es sich gleichsam seine eigene gesellschaftliche Erfahrung. Darum muss menschliches Handeln auf der Basis des Selbstverständnisses der Akteure und der Bedeutung, die sie ihrem Handeln beilegen, nach einem „interpretativen“ Paradigma erschlossen werden. Anders als bei einem Naturgeschehen, das sich durch Bestimmung von Ursachen erklären lässt, geht es hier um das Verstehen menschlichen Handelns.

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Danach geht es in den Sozialwissenschaften darum, die Bedeutungen und Sinnsetzungen, die Menschen mit ihrem Handeln verbinden, deutend zu rekonstruieren, also gleichsam Bedeutungen von Bedeutungen zu setzen. Diese wissenschaftlichen Bedeutungssetzungen wirken auf den gesellschaftlichen Diskurs über Bedeutungen menschlichen Handelns zurück, geben ihm Anregungen und neue Akzente. In der kreislauf- oder besser spiralförmigen Dynamik dieser Entwicklung reproduziert sich die Gesellschaft stets aufs Neue, stiftet ihre Identität und findet so zu sich selbst.

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Die unvermeidbar zirkuläre Struktur des Verstehens der Bedeutungen menschlichen Handelns wird gemeinhin als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Dieser ist, um im Bilde zu bleiben, jedoch eher eine weiterführende Spirale als ein fruchtlos sich im Kreise drehendes Gebilde. Denn das anfängliche Verständnis, das Vorverständnis des Interpreten, wird an den vorläufig verstandenen gesellschaftlichen Sinnsetzungen geprüft, die Sinnerwartung gegebenenfalls geändert, diese neuerlich mit gesellschaftlichen Deutungen konfrontiert und so weiter. Fern einer nicht erzielbaren strengen Objektivität gelten dabei die Gebote von Sinnadäquanz und diskursiver Begründbarkeit.

„Die Soziologie […] hat es mit einer Welt zu tun, die schon innerhalb von Bedeutungsrahmen durch die gesellschaftlich Handelnden selbst konstituiert ist, und sie reinterpretiert diese innerhalb ihrer eigenen Theoriekonzepte, indem sie normale und Theoriesprache vermittelt […] es gibt ein fortwährendes ‚Abrutschen‘ der in der Soziologie geschaffenen Begriffe in den Sprachschatz derer, deren Verhalten mit ihnen eigentlich analysiert werden sollte […].“42

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Da die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, in den gesellschaftlichen Prozess der Sinnstiftung menschlichen Handelns eingebunden ist, folgt auch sie dem erkenntnisleitenden Prinzip einer „doppelten Hermeneutik“43. Es gilt, sich [21] beim kriminologischen Rückgriff auf das rechtlich und sozial vorinterpretierte Thema Kriminalität die Einbindung der Kriminologie in den nicht zum Ende kommenden Prozess der gesellschaftlichen Re-Interpretation dieses Themas bewusst zu machen. Die wissenschaftlichen Interpretationen dessen haben Rückwirkung auf das gesellschaftliche Verständnis. Dieses Vorgehen lässt sich auch als Reflexivität gesellschaftsbezogenen Erkennens bestimmen, und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen ist die sich über Sinnsetzungen verständigende Gesellschaft reflexiv; zum anderen verdoppelt deren wissenschaftliche Beobachtung diese soziale Reflexivität.

21 In Anlehnung an die dem Erklären komplementäre Erkenntnisform des Verstehens hat sich in der empirischen Sozialwissenschaft neben der objektivierenden quantitativen Forschung ein derzeit noch kleiner Zweig qualitativer Forschung ausgebildet (→ § 5 Rn 3 ff.). Diese unternimmt auf durchaus schmaler quantitativer Basis Sondierungen in die Tiefe. Das Interesse gilt der möglichst authentischen Erfassung der „Sinndeutungen“ des relevanten Geschehens aus der Subjektperspektive der Betroffenen.44 Beobachtungen finden „im Feld“ einer natürlichen Situation statt, wobei der Forscher an den situativen Interaktionen teilnimmt. Befragungen werden in dialogisch geführten und ergebnisoffenen Interviews erstellt, deren Auswertung intensiv erfolgt und nicht auf statistische Kennwerte beschränkt bleibt.45

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So kann der gewalttätige Jugendliche nach den Motiven seines Tuns befragt, die Empfindungen der Opfer ermittelt, der prügelnde Vater auf seine „Erziehungspraxis“ und deren mögliche Spätfolgen angesprochen und daraus eine Deutung des Geschehens in seiner interaktiven Vernetzung vorgenommen werden. Auf die wissenschaftliche Deutung reagiert das Untersuchungsfeld wie die Gesellschaft insgesamt und verlangt nach neuerlicher Prüfung der Sinnadäquanz dieser Deutung. Dem Modell des Erklärens sind solche Zugänge zu den Sinngebungen menschlichen Handelns und der Praxis der gesellschaftlichen Verständigung darüber versperrt. Es reduziert in seiner Beobachtung der Gesellschaft deren sinngebende Strukturen auf buchstäblich „sinnlose“ naturhafte Gegebenheiten.46

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Aber nicht nur der Versuch, den Forschungsgegenstand zu beschreiben bereitet Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass sich dieser laufend und unter den Augen des jeweiligen Betrachters verändert. Denn das Begreifen von Bedeutungen ist stets beispielgebunden, also auf Fälle der Anwendung des Wortes bezogen. Eine Erklärung verstehen heißt, die Regeln ihres Gebrauchs nachvollziehen zu können, nicht aber, dieselben Anwendungen vor Augen zu haben.

[22]„Und die Verständigung durch die Sprache ist nicht der Vorgang, dass ich durch ein Gift im Andern die gleichen Schmerzen hervorrufe, wie ich sie habe.“47

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In diesem Sinne prägt auch der Zeitgeist die wissenschaftliche Wahrnehmung und führt dazu, dass das Erkenntnisinteresse sich wandelt und neue Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Stichworte zu den Veränderungen in den letzten dreißig Jahren lauten: Kriminalität wurde von einem sozialschädlichen Verhalten, das nach Reaktionen verlangt, zu einem Risiko, welches vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dem entsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von nach- zu vortatbezogenen Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter durchbrochen wurde. Die Kriminalpolitik hat ihren moralischen Bezug aufgegeben und konzentriert sich auf ein technologisch betriebenes Sicherheitsmanagement. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen grundlegend anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ §§ 21, 22, 24).

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Vor diesem Hintergrund geht das Verstehensmodell bei der Klassifizierung des Forschungsgegenstandes einen anderen Weg. Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt danach dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.

26 Die Bildung besonderer Kriminalitätserscheinungen (→ § 18) kann hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil, wiederum Wittgenstein folgend, die charakteristische Besonderheit einzelner Bestandteile von Kriminalität nicht in diesen, sondern in ihrer deutenden Bestimmung liegt. Darum wäre es irreführend, „besondere Kriminalitätserscheinungen“ als gegebene Phänomene anzusehen, die durch Beobachtung in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden könnten. Die Kriminalität als parzellierte Segmente zu verstehen, suggerierte eine falsche Gegenständlichkeit dieser [23] vermeintlich objektiv vorhandenen Teile. Die Teile existieren nicht an sich, sondern werden durch rubrizierende Deutung gebildet. Allemal beschreiben Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“ nicht Phänomene, sondern sind Redeweisen, welche gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Akzentuierungsbedürfnissen Ausdruck geben. Die Maßgeblichkeit der jeweiligen façon de parler und ihres Deutungsrahmens zeigt sich an den Unterschieden der scheinbar ähnliche Phänomene bezeichnenden Begriffe „Wirtschaftskriminalität“ und „Kriminalität der weißen Kragen“: Der erste Begriff ist kriminaltaktisch und dient zur Koordinierung von Verfolgungsaktivitäten; der zweite Begriff verweist skandalisierend auf Machenschaften in den Führungsetagen der Gesellschaft48.

IV. Schlussfolgerungen

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Vorerst ist festzuhalten, dass beide Standpunkte in der Kriminologie vertreten werden, wobei das Modell des Erklärens vorherrschend ist, welches die Kriminologie als eine empirische Erfahrungswissenschaft bestimmt. Die Dominanz des Erklärens ist in der Kriminologie naheliegend, da ihr Datenmaterial weitgehend über Kriminalstatistiken verfügbar ist und der Staat als größter Auftraggeber der kriminologischen Forschung (→ § 1 Rn 9 ff.) sich bevorzugt für die quantitativ-vergleichende Bestimmung des Kriminalitätsvolumens und der Wirksamkeit staatlicher Interventionen interessiert.

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Allerdings werden wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstands wie gezeigt nur bei einem Vorgehen sichtbar, das dem Verstehensmodell folgt – denn ein maßgeblicher Teil der Auseinandersetzung mit Kriminalität ist die Beschäftigung mit dem interaktiven Prozess ihrer Konstruktion durch den Beobachter. Einer auf kausale Erklärungen bedachten, rein objektiv und vermeintlich von außen wahrnehmenden Perspektive muss diese Ebene verborgen bleiben.

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Die Kriminologie setzt sich also (auch) mit den gesellschaftlichen Sinnsetzungen von Normabweichung und Kriminalität diskursiv auseinander, wobei der kriminologische Diskurs nicht vollständig unabhängig von der gesellschaftlichen Verständigung verläuft, sondern auf diesen zurückwirkt und ihn mittelbar beeinflusst. Schon bevor Kriminologen sich mit Kriminalität befassten, war dies ein Thema des alltäglichen Diskurses. Kriminologen greifen ein Thema auf, welches mit Bedeutungen belastet ist, die die „normalen“ Leute ihm beimessen, und sie müssen diese „normalen“ Bedeutungen – nicht anders als die Laien es tun – reinterpretieren, um den Gegenstand ihrer Analyse zu bestimmen.

[24]30Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen

Kausales ErklärenInterpretatives Verstehen
ModellMonistisch:erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines NaturgeschehensDualistisch:Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werden
Sozialwelt als GegenstandUnabhängig vom Beobachter als mit ihm nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhandenForscher ist mit Sozialwelt reflexiv verbunden: er hat daran Anteil, agiert mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf Forschungsergebnisse
BeobachtungErfolgt einseitig: Beobachter → ObjektVerläuft interaktiv: Beobachter ↔ Objekt
MethodeQuantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiertQualitativ an der Rekonstruktion des Sinns interessiert, den der Handelnde mit seinem Handeln verbindet

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Damit stellt sich die prekäre Frage, was die kriminologische Wahrnehmung zur wissenschaftlichen macht, also vom Laienverständnis unterscheidet. Die Antwort fiele nur leicht, wenn man mit dem Erklärungsmodell davon ausgehen könnte, dass die kriminologische Beobachtung in der streng objektiven wissenschaftlichen Wahrnehmung und Erklärung von Faktizität bestünde. Jedoch gibt es zur Beobachtung der Sozialwelt nicht den einen externen objektiven Standpunkt, sondern nur Standpunkte in ihr, die den Beobachtenden einbeziehen, die seine Wahrnehmung perspektivisch und seine Feststellungen bestreitbar machen.

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Darum kann die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, nicht mit der unbezweifelbaren Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten. Dennoch unterscheiden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität von unbelehrten und ungelehrigen Debatten am Stammtisch. Was die Wissenschaft auszeichnet, ist das reflexive Bewusstsein ihrer Perspektivengebundenheit, ihr Bemühen um Unbefangenheit und die diskursive Begründung ihrer Annahmen. Dies soll im folgenden Abschnitt deutlicher werden.

33 Sutherland/Cressey 1978, 21.

34 Comte 1975.

35 Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf eine Praxis, die ohne Bezug auf Theorien sich auf wissenschaftlich erwiesene „Fakten“ stützen will, wird inzwischen aber auch für die empirische Wissenschaft selbst verwandt, die scheinbar theorieindifferent nach reinen „Fakten“ sucht.

36 Habermas 1967.

37 Sellars 1997, 117, sect. 63: „The myth of the given”.

38 Wittgenstein 1973, 8.

39 Reckwitz 2012, 15, 32.

40 Sack 1968, 469.

41 Ferell/Hayward/Young 2015, 1 ff.

42 Giddens 1984, 199.

43 Giddens 1984, 199.

44 Ferell/Hayward/Young 2015, 209 ff.

45 Diekmann 2010, 443 ff., 461 ff., 510 ff.; Flick 2012; Mayring 2016.

46 Sack 2003, 87.

47 Wittgenstein 1973, 107.

48 Kunz 2001.

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