Читать книгу Schlachtbank Düppel: 18. April 1864. - Tom Buk-Swienty - Страница 20
9. An der Front
ОглавлениеDer Konstabler Nr. 68 der 4. Landwehrkompanie Johan Peter Larssen kniete bei einem übel zugerichteten Kameraden. Wenige Augenblicke zuvor war eine Brandgranate in der Schanze 6 eingeschlagen, die laut Larssen »die Luft mit einem hässlichen Schwefeldampf erfüllte, der geradezu erstickend war. Nichts war zu sehen in dem dichten Rauch; ich hatte einen so heftigen Schlag auf mein rechtes Schienbein bekommen, dass meine Freude groß war, als ich spürte, dass ich mein Bein ausstrecken konnte.«
Sein Nebenmann war nicht so gut davongekommen. Er jammerte: »Ich brenne, ich brenne.« Und dann fragte er Johan Peter Larssen: »Bin ich an beiden Beinen schwer verletzt?«
Larssen schrieb: »Sein rechtes Bein war direkt unter dem Knie abgerissen und lag unter ihm (er lag auf dem Rücken), es hing nur noch an einem halben Zoll dicken Hautfetzen. Sein linkes Knie war ganz weg, die Knochen lagen frei, ohne dass es blutete; vom Knie an aufwärts bis nah an die Hüfte war das Fleisch zerfetzt, und in dieser großen offenen Wunde stand seine Hose in Flammen. Ich versuchte, das Feuer zu löschen, indem ich meine Hände auf das klaffende Fleisch legte, aber nein, es gelang mir nicht. Durch mein wiederholtes Rufen nach Wasser kam schließlich ein barmherziger Mensch mit Wasser und ich konnte das Feuer löschen … Jetzt untersuchte ich ihn näher, der linke Oberarm des Menschen war gebrochen, der Mund stand voller Blut, und auch überall im Gesicht hatte er Blutspritzer.«
Der Soldat, der das Wasser gebracht hatte, verschwand wieder, überhaupt schien es so zu sein, als würden sich alle von dem malträtierten Soldaten abwenden. Vergeblich rief Larssen nach Hilfe durch die Sanitäter. Was sollte er machen? Er schaute auf den Verwundeten, der ihn anflehte zu bleiben. »Um Gottes willen, um der Barmherzigkeit Christi willen, verlass mich nicht.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich werde es vermutlich niemals vergessen«, schrieb Larssen.
»Was ist das doch für eine merkwürdige Macht, die bisweilen im Auge des Menschen liegt? Dieser Blick, den er mir zuwarf, und der schuld daran war, dass ich sofort nach Sanitätssoldaten suchte, machte einen tieferen Eindruck auf mich als der Anblick seines erbärmlichen Zustands und seiner flehenden Worte; er verfolgte mich lange – noch in diesen Stunden steht er lebhaft vor mir, ja, in diesem Blick spiegelten sich deutlicher, als Worte es wiedergeben können, all seine Leiden, all seine Furcht und all seine Hoffnung. Er hatte das linke Bein angewinkelt, ein paar Mal musste ich es zurechtlegen, aber das verursachte nur noch größere Schmerzen. Bei jedem Schuss, der kam, während er dort lag, schauderte er vor Angst, er zitterte und drückte meine linke Hand, die er mit seiner rechten hielt, noch fester …«
Die Hilfe blieb aus. Trotz der Versicherungen des Oberarztes Rørbye gegenüber van de Velde, dass es genügend Krankenpersonal bei der dänischen Truppe gäbe. Während ringsum Granaten einschlugen, hatte Larssen alle möglichen Gründe, darüber zu spekulieren, warum in aller Welt er sich freiwillig zu diesem Krieg gemeldet hatte. So hatte er es sich jedenfalls nicht vorgestellt. Er hatte eine wogende Schlacht vor sich gesehen: rasches Vorrücken, lebhaftes Artilleriefeuer. Ruhm, Mut, Ehre. Aber das hier? Dieses Elend?
Abb. 18: Johan Peter Larssen, Konstabler, 42 Jahre alt.
Bei Johan Peter Larssen handelte es sich um eine der kurioseren Erscheinungen im dänischen Heer. Unter anderem war er mit zweiundvierzig Jahren der älteste gemeine Soldat der Armee. Dazu kam seine Bekleidung. Er hatte keine vollständige Uniform, sondern trug eine ganz alltägliche Jacke. Immerhin besaß er eine Uniformhose und einen Militärmantel nebst Artilleriekonstabler-Käppi. Larssen war ein großer, hagerer Mann mit einem langen, dunklen Vollbart.
Der 17. April war sein achter Tag als Soldat des dänischen Heeres, und die Art, wie er in der Armee aufgenommen wurde, war eher unorthodox. Larssen war ehemaliger Leutnant der Marine und während des dreijährigen Krieges Kommandant eines Kanonenbootes gewesen. Nach dem Krieg wurde er Kapitän des Feuerschiffs »Læsø Rende«, und während 1863 die dunklen Wolken im dänisch-deutschen Grenzland aufzogen, ging er seiner einsamen Arbeit auf der »Læsø Rende« nach. Am 2. Februar 1864 kam ein Schoner vorbei, und von den Seeleuten an Bord hörte er vom Ausbruch des Krieges. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er auch vom dänischen Sieg bei Missunde.
Larssen war trotz seines ruhigen Berufs ein unruhiger Geist. Er konnte nicht einfach passiv auf seinem Feuerschiff ausharren. Wie würde es dem dänischen Heer ergehen? Er dachte an den Krieg, und zehn lange Tage vergingen, bevor das Postboot aus Sæby kam und Neuigkeiten brachte: Das Danewerk war geräumt worden.
Larssen war besorgt, schrieb sofort ans Marineministerium und teilte in dem Brief mit, er wäre bereit, wieder in den Militärdienst zu treten. Er war überzeugt, dass man sein Angebot mit Kusshand annehmen würde. Aber nein. Das Ministerium gab zur Antwort, sie würden es lieber sehen, wenn der Feuerschiffer »in diesen unruhigen Zeiten sein Schiff nicht verließe, welches das Ministerium bei ihm in guten Händen wisse«.
Doch Larsson ließ sich mit einer Absage nicht abspeisen. Er verfügte über Erfahrungen, die der dänischen Armee durchaus nützlich sein konnten. Im letzten Krieg hatte er Kanonen bedient; er hatte sich Schusswechsel mit dem Feind geliefert, und er hatte es bis zum Befehlshaber über drei Batterien, bestückt mit Schiffskanonen, bei Fredericia gebracht.
Selbstverständlich würde er nützlich sein können. Larssen schrieb seinem Bruder, Leutnant Otto Kaalund Larssen, der bei den Pionieren in Düppel lag, und einem seiner Freunde, dem Hauptmann der Artillerie Gerhard Hagerup, ob nicht »ein Mann, durchaus nicht unerfahren im Exerzieren mit Kanonen, zum Dienst an den Düppeler Schanzen angenommen werden könnte?«
Er unterließ es mitzuteilen, dass es sich bei diesem Mann um ihn selbst handelte, und als er zur Antwort bekam, der Mann dürfe gern erscheinen, kündigte er seine Stellung auf dem Feuerschiff und reiste nach Düppel. Sein Freund Hauptmann Hagerup war verblüfft und sagte rundheraus: »Was zum Teufel willst du hier? Mensch, du bist doch verrückt!«
Aber Larssen war gekommen, um im Heer zu dienen. Niemand konnte ihn daran hindern. Stur, wie er war, gelang es ihm, beim Befehlshaber der Artillerie vorzusprechen, dem beliebten Major Jonquires (der im Übrigen auch van de Velde freundlich empfangen hatte). Ihm gefiel Larssen so gut, dass er ihm eine schriftliche Empfehlung gab, und kurz darauf wurde Larssen als Konstabler in die 4. Landwehrkompanie aufgenommen. Der Hauptmann dieser Kompanie konnte ihn allerdings nicht in der regulären Form ausstatten. Larssen bekam einen Tornister und einen Säbel, aber keine Uniformjacke. Er würde seine Jacke vom nächsten Artilleristen erhalten, der fiel, bemerkte der Hauptmann trocken. Noch als Larssen mit dem Hauptmann sprach, hieß es, eine Jacke sei frei geworden. Es stellte sich allerdings heraus, dass sie unbrauchbar war – der Soldat, dem sie gehörte, war in Stücke gerissen worden. Larssen müsse auf eine Jacke warten, bis ein Artillerist in den Kopf geschossen wurde, erklärte der Hauptmann.
Am Abend des 8. April hatte Larssen zum ersten Mal Dienst auf der Schanze 6. Er befand sich auf der Anhöhe von Düppel, in einer Landschaft, in der die Granatexplosionen, wie er schrieb, »bald nah, bald fern« waren. Die Schanze, zu der er eingeteilt war, verblüffte ihn. Er hatte die Schanzen im Sommer davor gesehen, und da »sahen sie so schmuck aus, dass man am liebsten – wie es über gewisse holländische Städte heißt – die Stiefel aus- und Pantoffeln angezogen hätte, um die Straßen nicht zu beschmutzen«.
Am 8. April hatte die Schanze nichts Schmuckes mehr an sich. »Jetzt waren diese schönen Wälle und Gänge so von explodierenden Granaten zerstört und mit Sandsäcken geflickt, dass man sie nicht mehr erkennen konnte … auch der Eingang zu den Schanzen sah nicht erfreulich aus. Die Brustwehr und die Traversen waren so zerschossen, dass die Kanonen sich zwischen den abgeschossenen Schanzendeckungen und Sandsäcken nicht mehr bewegen ließen.«
Die ersten Tage versuchte Larssen eine gewisse Kaltblütigkeit zu zeigen und Optimismus um sich herum zu verbreiten. Er organisierte eine Arbeitsgruppe, die ihm half, die zerschossenen Kanonen wieder aufzustellen und an ihren Platz zu bugsieren – nur um dann zuzusehen, wie sie weitere Volltreffer erhielten.
Am frühen Morgen des 11. April wurden sie plötzlich auf den Schanzen von Gewehrkugeln beschossen; man hörte das Gebrüll der Preußen in den Parallelen, und die Dänen waren überzeugt, nun ginge es los. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Eifer waren Larssen und seine Artilleristen zu den Kanonen gelaufen, die noch zum Einsatz gebracht werden konnten, um den Feind zu empfangen … aber – falscher Alarm.
Am 12. April war der Granatbeschuss der Schanze »so stark, dass der Boden vor Explosionen bebte, die Sandsäcke, Tornister, Ladewerkzeug und Gott weiß, was sonst nicht noch alles, nach allen Seiten verstreuten«, schrieb Larssen.
Eine Reihe von Soldaten wurde an diesem Tag getötet oder verwundet, und einer auch am Kopf getroffen, sodass der Soldat »wie wahnsinnig durch die Schanze rannte«. Die Stimmung war miserabel und Larssen hörte, wie seine Kameraden sagten, »sie seien eindeutig hier, um geschlachtet zu werden«. Im Laufe des 12. April verlor auch Larssen seinen Optimismus, denn bei all der Mutlosigkeit um ihn herum »verliere ich in der Tat das Vertrauen, dass die Stellungen bei Düppel recht viele Tage zu halten sind«.
In den nächsten Tagen fielen einige seiner Kameraden – und aus dem zweiundvierzigjährigen Mann voller Kampfgeist war bereits am 17. April ein abgehärteter, aber desillusionierter Veteran geworden, der bei einem verstümmelten Mann saß und darauf wartete, dass endlich ein paar Sanitäter kamen und sich des Schwerverwundeten annahmen. Der Verletzte drückte seine Hand. Larssen brüllte mit der ganzen Kraft seiner Lungen: »Gibt es denn niemanden, der Hilfe holen will?« Schließlich besorgte ein schwedischer Freiwilliger eine Trage, »sodass der schlimmste Moment meines Lebens überstanden war«, notierte Larssen später.
Überall in den dänischen Stellungen spielten sich an diesem Tag ähnliche Szenen ab. Am 17. April wurden 4222 Granaten auf die Schanzen abgefeuert, die Verluste in den dänischen Reihen waren weder sonderlich hoch oder gering. Sie waren durchschnittlich: 77 Tote und Verletzte.