Читать книгу Der Narrenturm - Tomàs de Torres - Страница 5
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»Alison schloss die Augen, als sie sah, wie ihr neuer Herr mit der Bullenpeitsche ausholte. Als das Ende des geflochtenen Lederriemens in ihren Körper schnitt, wenige Zentimeter unterhalb ihrer bloßen Brust, schrie sie ihren Schmerz in den bis an den Rand des Berstens aufgeblasenen Knebel. Während sich ihre Hände um die Ketten krallten, die sie unbarmherzig mit der steinernen Mauer verbanden, fühlte sie, wie sie trotz des Schmerzes ein Glücksgefühl durchströmte.
Alisons Suche hatte ein
Ende.«
Miguel Hermano, seit genau zwei Wochen 47 Jahre alt, mit kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und einem ebensolchen Vollbart, lehnte sich zurück und schob die Tastatur des Computers bis an den Fuß des Flachbildschirms zurück. Er nahm die Brille ab und rieb sich die schmerzenden Augen. Seit dem frühen Morgen hatte er geschrieben, lediglich unterbrochen durch eine kurze Mittagspause. Wenn die Arbeit an einem Roman sich ihrem Ende zuneigte, wenn das Finale, in dem sich alle Knoten auflösten, bereits bis ins kleinste Detail feststand, vermied er jegliche Ablenkung, bis er das schöne Wort mit den vier Buchstaben niedergeschrieben hatte.
Miguel setzte die Brille – er war seit seiner Kindheit stark kurzsichtig – wieder auf und holte ein kleinformatiges Schulheft aus der obersten Schreibtischschublade. Er war in gewisser Beziehung ein altmodischer Mensch, und obwohl es keine Alternative zu dem Schreiben mit dem Computer gab, pflegte er seine bibliographischen Daten auf Papier festzuhalten. Das Schulheft öffnete sich wie aus eigenem Willen an der richtigen Stelle, und Miguel trug mit einem roten Kugelschreiber das heutige Datum neben demjenigen ein, an dem er den Roman begonnen hatte. Der Eintrag in dem Heft sagte ihm auch, dass »Alisons Suche« sein zwölfter SM-Roman war. Dann zog er die Tastatur wieder zu sich heran und setzte noch drei Zeilen unter das »Ende«:
»Torquemada«
Torelló
28. März bis 10. Juni 2006
Der Stand der Sonne, die durch das Westfenster in das kleine Türmchen lugte, in dessen Obergeschoss sich Miguels Büro befand, sagte ihm, dass es bereits auf 18 Uhr zugehen musste. Es gab keine Uhren in seinem Arbeitszimmer, die ihn ablenken konnten – sogar die Zeitanzeige am rechten unteren Bildschirmrand hatte er ausgeschaltet.
Miguel stand auf und reckte sich. Sein Blick fiel durch das Nordfenster auf den Wald, der sich etwa 100 Meter jenseits der engen und ungeteerten Straße befand, die sich in einiger Entfernung an seinem Haus vorbeiwand. Das Haus selbst, ein 200-Quadratmeter-Einfamilienhaus, befand sich weit abgelegen vom nächsten Nachbarn vier Kilometer von der kleinen Stadt Torelló im Hinterland der Costa Brava. Er hatte es vor knapp zehn Jahren gekauft, noch vor seiner Heirat mit María. Zu Beginn war die Umgewöhnung für jemanden, der in der Großstadt geboren und aufgewachsen war, ziemlich hart gewesen, doch heute konnte er sich kaum mehr vorstellen, anders zu wohnen.
Er nahm einen CD-Rohling von dem Regal, das sich links an den Schreibtisch anschloss, und legte ihn auf die Tastatur. Er durfte nicht vergessen, eine Sicherung des in den letzten Tagen Geschriebenen anzufertigen. Doch zunächst …
Er hastete die enge Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter. Das Türmchen, das nur etwa drei Meter durchmaß, war wohl nachträglich an die Nordwestecke des Hauses angeflanscht worden. Die Treppe mündete direkt ins Wohnzimmer, dem damit gewissermaßen eine Ecke fehlte. Dafür jedoch hatte man, direkt unter Miguels kleinem Büro, einen zusätzlichen Raum gewonnen, der größtenteils durch einen runden Tisch ausgefüllt wurde, den sechs hohe Stühle umstanden.
»María!«
Miguel durchquerte das 40 Quadratmeter messende Wohnzimmer, das beinahe die komplette Westhälfte des Grundrisses in Anspruch nahm, und betrat durch die in der entgegengesetzten Ecke liegende Tür – eine von zweien, die andere führte auf den Flur – die Kombination aus Küche und Esszimmer.
»María!«
Diesmal klang seine Stimme bereits ungeduldiger. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeweils nach Abschluss eines Romans in Pepes Restaurant in Torelló zu Abend zu speisen, und wie er seine Frau kannte, würden zwei Stunden für sie kaum Zeit genug sein, sich fertig zu machen. Noch dazu an einem Samstagabend.
Er passierte die andere Küchentür und stand nun auf dem breiten Flur.
»María!«
Keine Antwort.
War sie vielleicht kurz weggefahren, um etwas einzukaufen? Miguel öffnete die schwere Haustür, in die in Brusthöhe eine Scheibe aus vielfach geschliffenem Glas eingelassen war. Er ging die drei Stufen hinab, die ihn auf den gepflasterten Vorplatz führten, und betrat die Doppelgarage durch die Seitentür.
Sowohl Marías roter BMW als auch sein nur drei Monate alter, stahlblauer Audi standen unberührt da, Seite an Seite.
Wo, zum Teufel, steckte María? Machte sie vielleicht einen Spaziergang? Wenig wahrscheinlich, um diese Uhrzeit …
Er verließ die Garage wieder und wandte sich in Richtung des Gartentors, das der Haustür gegenüberlag. Er hatte es noch nicht erreicht, als er bereits das Heck von Cristinas silbergrauem Mercedes erkannte, der in der Einfahrt parkte. Unwillkürlich lachte er auf. Er war so in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er die Ankunft von Marías »Wochenendsklavin« überhaupt nicht bemerkt hatte. Nun war auch klar, wo seine Frau steckte und warum sie ihn nicht gehört hatte!
Sekunden später befand er sich im Keller des Hauses. Treffer! Neben der Treppe lagen, säuberlich zusammengefaltet auf einem alten Stuhl, Cristinas Kleider, darunter ein Paar weißer Schuhe, Größe 37, mit hohen Absätzen. Zwei Schritte brachten Miguel zu der schweren Eisentür, die in das »Spielzimmer« führte. Er öffnete sie, und das Erste, was er im spärlichen Licht der kleinen, mit Milchglasscheiben versehenen Kellerfenster sah, war Cristina – splitternackt an allen vieren von der Decke hängend. Der Stahl des Keuschheitspiercings, das ihre sauber ausrasierte Schamgegend versperrte, blitzte Miguel an. Cristinas Kopf war zum größten Teil von einer schweren, ledernen Knebelmaske bedeckt, deren Augenklappen jedoch offen standen.
Die junge Frau – mit ihren 32 Jahren immerhin anderthalb Jahrzehnte jünger als Miguel und immer noch zehn Jahre jünger als María – blickte ihn flehend an. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch der in die Maske eingearbeitete Ballknebel erstickte ihre Worte.
»María?«
Doch außer der hängenden Frau befand sich niemand in dem großen Raum. Immerhin war nun klar, dass María nicht weit sein konnte, denn es war nicht ihre Art, eine geknebelte Sklavin längere Zeit allein zu lassen.
Miguel zuckte mit den Schultern und verließ das »Spielzimmer« wieder, ohne sich um Cristinas Versuche, sich ihm mitzuteilen, zu kümmern. María hasste kaum etwas so sehr, wie wenn jemand in die Bestrafung ihrer Sklavin eingriff, und das bezog sich auch und besonders auf ihren Ehemann. Wenn er jetzt Cristina von dem Knebel befreite, würde María, so viel war klar, für den Rest des Abends ungenießbar sein. Und wie stets nach dem Abschluss eines Romans war er viel zu gut gelaunt, um sich leichtfertig den Abend zu verderben.
Bevor Miguel in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, hastete er noch in den ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer mit dem angrenzenden Bad befand, doch auch hier konnte er seine Frau nicht finden.
Wahrscheinlich hatte sie doch einen Spaziergang gemacht – entgegen aller Gewohnheit. Frauen, das hatte er schon vor vielen Jahren gelernt, waren kaum vorausberechenbar.
Zurück im Büro, brannte er zunächst, wie alle paar Tage, sein Arbeitsverzeichnis mit allen bisher geschriebenen Romanen auf CD, bevor er den heute verfassten Abschluss des Romans einer ersten Korrektur unterzog. Anschließend druckte er das komplette Manuskript für die Endkorrektur aus und legte den Papierstapel auf das Fensterbrett.
Die Schatten wurden länger.
Miguel überlegte, ob er sicherheitshalber Pepe anrufen und einen Tisch reservieren solle, beschloss dann jedoch zu warten, bis er mit María gesprochen hatte. Mittlerweile musste sie wieder zurück sein.
Im Wohnzimmer öffnete er zunächst eine der beiden Türen, die auf die große Terrasse hinausführten, und tat auch einige Schritte in den durch hohe Hecken begrenzten Garten.
Niemand da.
Die Küche: leer. Das Gästebad und der angrenzende Hauswirtschaftsraum ebenso.
Also zurück in den Keller.
Diesmal schaltete Miguel das Licht im »Spielzimmer« ein. Cristinas Position war unverändert. Ihre Augen hafteten auf den seinen, und unter dem Knebel drangen dumpfe Laute hervor.
María war nicht hier.
Er trat zu Cristina hin. Ein Speichelfaden hing unter dem Knebel hervor; die Flüssigkeit hatte eine kleine Pfütze auf dem Parkettboden gebildet. Noch zögerte er, der Sklavin die Maske abzunehmen, doch dann gab er sich einen Ruck. Es war klar, dass sie ihm etwas sagen wollte, und in Anbetracht der Tatsache, dass María noch immer nirgends aufzutreiben war, konnte es wichtig sein. Er öffnete den Schnallenverschluss auf der Rückseite ihres Kopfes und entfernte dann die Maske. Cristinas langes, schwarzes Haar fiel herab. Sie schluckte schwer und leckte sich die Lippen. Sie machte einen erschöpften Eindruck.
»Wasser!«, flüsterte sie.
Miguel ging in den kleinen, durch Plexiglaswände abgegrenzten Duschraum in einer Ecke des langgestreckten »Spielzimmers« und füllte dort ein kleines Schälchen. Während Cristina, nach wie vor an Händen und Füßen hängend, gierig trank, musterte er ihren nackten Körper. Mit 1,65 Metern besaß sie eine für eine Spanierin durchschnittliche Größe. Ihre Brüste waren wohlgeformt, aber etwas zu klein. Helle Stellen an den Ober- und Unterseiten ihrer Warzenhöfe zeugten von häufiger Anwendung von Klammern. Möglicherweise, dachte Miguel, hing Cristinas Vorliebe für Brusttorturen mit der unterdurchschnittlichen Größe ihrer Brüste zusammen. Knapp unterhalb des Ansatzes ihrer linken Brust befand sich eine dünne, etwa anderthalb Zentimeter lange Narbe, wie von einem Messerstich. Miguel wusste, dass sie auf der linken Pobacke eine ähnliche Narbe besaß. Woher die Narben stammten, war ihm nicht bekannt; Cristina hatte sie bereits gehabt, als sie María und ihm zum ersten Mal begegnet war. Miguel war kein übermäßig neugieriger Mensch, und so hatte er die Sklavin nicht danach gefragt; möglicherweise wusste es María.
Miguels Blickte glitten weiter, über den flachen, hellen Bauch hinunter zu dem, was sich zwischen den weit gespreizten Beinen befand. Auch das stählerne Keuschheitspiercing hatte sie schon »mitgebracht«; sie hatten das Schloss gewaltsam öffnen und durch ein neues ersetzen müssen, dessen Schlüssel María wohlverwahrte. Das Piercing war einfach, aber effektiv: Es bestand aus jeweils vier in die äußeren Schamlippen eingelassenen Stahlringen mit einer Stärke von drei Millimetern. Von oben durch diese acht Ringe war ein T-förmiges Stahlstück geführt worden, an dessen unterem Ende sich ein kleines Loch befand, und in diesem Loch steckte der Bügel eines handelsüblichen Vorhängeschlosses, so dass der Stahlstift nicht mehr entfernt werden konnte, ohne das Schloss zu öffnen. Damit konnte an dieser Stelle, so lange das Piercing verschlossen war, nichts in Cristinas Körper eindringen, das dicker als ein Bleistift war. María war, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, begeistert von dem Piercing gewesen, wenn es sie später auch zunehmend störte, dass es ihrer »Wochenendsklavin« nicht die Möglichkeit nahm, sich selbst zu befriedigen.
Cristina hustete, und etwas von dem Wasser tropfte auf den Boden. Miguel stellte die Schüssel ab.
»Wo ist María?«, fragte er.
Cristina schüttelte den Kopf. »Weiß nicht«, krächzte sie. »Bitte, Herr, lassen Sie mich herunter!«
Selbstverständlich musste sie María als »Herrin« und ihn als »Herrn« titulieren. Miguel war das nicht so wichtig, aber seine Frau bestand darauf und ahndete jeden Verstoß gegen diese Regel – aber natürlich nicht nur gegen diese.
»Wie lange hängst du hier schon so?«, wollte er wissen.
»Seit dem Mittag. Bitte, Herr!«, flehte sie. »Ich muss ganz dringend auf die Toilette!«
»Vielleicht später«, antwortete er. Gedankenverloren legte er seine Hand auf ihren Bauch. Seit heute mittag? Das sah María gar nicht ähnlich! Aber noch immer zögerte er, Cristina herunterzulassen. Wenn María feststellte, dass er »ihre« Sklavin befreit hatte, würde der Rest des Abends in eisigem Schweigen erstarren, und Miguel fürchtete Marías Schweigen – das bockige Schweigen eines verwöhnten Kindes, dem nicht alles nach seinem Willen ging – mehr als alles andere.
Miguel beschloss, noch einmal nach seiner Frau zu suchen. Wenn er sie diesmal nicht fand, konnte er sie immer noch auf ihrem Handy anrufen. Er kniff Cristina in ihre rechte Brustwarze, was ihr einen erschrockenen Schrei entlockte, dann wandte er sich ab. Er hörte noch ein flehendes »Bitte, Herr!«, kurz bevor sich die eiserne Tür hinter ihm schloss.
Abermals durchsuchte er alle Räume, ging sogar noch einmal hinauf in sein Büro, doch vergebens. Endlich verließ er das Haus und ging den sechzig Meter langen Zufahrtsweg entlang bis zu der Stelle, wo dieser in die Staubstraße, die Torelló mit Sant Pere de Torelló verband, einmündete.
Keine Spur von María!
Allmählich drang die Erkenntnis, dass irgendetwas Unerwartetes geschehen sein musste, zu den bewussten Schichten seines Denkens durch. Er hastete zurück zum Haus in der festen Absicht, Marías Handy anzuklingeln. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel sein Blick auf die kleine Flurkommode unter dem Spiegel. Dort, wo sonst Marías Handtasche griffbereit stand, lag ein mittelformatiger Briefumschlag.
Miguel bliebt abrupt stehen. Die Handtasche fehlte – also war María doch weggegangen! Aber einen Spaziergang mit Handtasche hatte sie noch niemals unternommen, und bis zur nächsten Ortschaft waren es immerhin vier Kilometer. Solche Entfernungen pflegte sie grundsätzlich nur mit dem Wagen zurückzulegen.
Er wollte bereits in das Wohnzimmer eilen, wo eines der beiden Telefone stand – das andere befand sich in seinem Büro neben dem Computer –, als er mehr zufällig die geschwungene Handschrift auf dem Kuvert sah.
Eine unbekannte Handschrift.
In großen, fast kalligraphischen Buchstaben standen nur zwei Worte darauf: Sr. Hermano.
Miguel stand reglos im Flur, die Blicke auf den Umschlag gerichtet. Plötzlich schienen die vielfältigen Geräusche der frühsommerlichen Natur, die das Haus umgab, zu verstummen. In Miguels Gehirn entstand ein Spiegelbild der Szene, die er gerade erlebte – ein Déjà-vu-Erlebnis. Für die Dauer eines Blitzschlags wusste er, was er im nächsten Moment tun würde, wusste er, was das Kuvert enthielt.
Dann war der Augenblick vorbei.
Endlich, widerstrebend beinahe, schüttelte er seine Benommenheit ab und streckte eine Hand nach dem Brief aus. Er fühlte sich leicht an, konnte kaum mehr als zwei oder drei Blätter Papier enthalten. Außer den beiden Worten war das braune Geschäftskuvert sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite völlig unbeschriftet; Briefmarke und Poststempel fehlten ebenso.
Der Umschlag war verschlossen.
Plötzlich fand Miguel sich in der Küche wieder, wo er den Brief mit der Hilfe eines Messers öffnete. Eine fahrige Bewegung bewirkte, dass ein Stück weißen Kartons herausflatterte und zu Boden fiel. Mit zitternden Händen hob Miguel ihn auf; erst beim zweiten Versuch konnte er ihn greifen.
Er drehte ihn um.
Es war ein Polaroidbild, möglicherweise von einer Wegwerfkamera aufgenommen.
Und es zeigte María.
Genauer: Marías nackten Oberkörper mit vor dem Bauch über Kreuz gefesselten Armen. In ihrem Mund steckte ein Knebel – nicht ein Tuch oder etwas Ähnliches, wie man es meist im Fernsehen sah und wie es niemanden ernsthaft am Schreien hindern würde, sondern ein Knebel aus schwarzem Gummi oder Leder, wie man ihn in Sexshops kaufen konnte (und wie es mehrere im »Spielzimmer« gab) – und ihre dunklen Augen sahen ihn entsetzt an. Die brünetten, gelockten Haare machten einen zerzausten Eindruck.
Wie in Trance ging Miguel zu dem aufgeräumten Esstisch und setzte sich. Er legte das Bild auf die polierte Fläche und entnahm dem Umschlag den restlichen Inhalt. Es handelte sich um einen zweiseitigen Brief, mit dem Computer geschrieben und offensichtlich auf einem Laserdrucker ausgedruckt.
Miguel las:
Sehr geehrter Sr. Hermano,
wie Sie beiliegender, heute Nachmittag entstandener Fotografie sicher unschwer entnehmen können, befindet sich Ihre Frau in meiner Gewalt. Nein, nein, keine Sorge – es wird ihr nichts geschehen, vorausgesetzt natürlich, Sie verhalten sich kooperativ! Ihre Frau tut es jedenfalls, wie Sie aus untenstehendem Satz ersehen; es bleibt ihr auch in ihrer derzeitigen Lage – deren Dauer ausschließlich von Ihnen abhängt, werter Sr. Hermano – nichts anderes übrig.
Ich möchte Sie an dieser Stelle nicht damit langweilen, dass ich Selbstverständlichkeiten aufzähle – beispielsweise, dass Sie die Hinzuziehung der Polizei sehr, sehr bedauern würden, in mehr als einer Hinsicht … Es liegt mir fern, Sie zu beunruhigen, aber in diesem Fall wäre der Tod Ihrer Frau mitnichten ein angenehmer, und überdies wüsste ich es so einzurichten, dass es aussähe, als hätte sie durch Ihre Hand bei einem außer Kontrolle geratenen Spielchen in Ihrem Hobbykeller das Weltliche und auch Zeitliche gesegnet! In Anbetracht Ihres Rufes als Autor von einschlägigen Romanen würde das niemanden wundern, werter Sr. Hermano – oder sollte ich besser sagen: Torquemada? Ein bezeichnendes, wenn auch naheliegendes Pseudonym, das erheblich weniger einfallsreich ist als die meisten Ihrer Romane, wenn ich das sagen darf – als »Fan«, als den Sie mich ruhig betrachten können.
Um zurückzukommen auf den durchaus vermeidbaren Tod Ihrer Frau: Ihnen ist vielleicht aus der Presse bekannt – es gab da im Laufe der letzten Jahre einige Fälle –, dass es der spanischen Justiz in solchen Fällen – die Sensationspresse spricht in diesem Zusammenhang gerne von »Lustmorden«, was für ein vulgärer Ausdruck! – an jeglichem Verständnis für den Delinquenten fehlt, dem eine langjährige Haftstrafe gewiss ist. In Ihrem konkreten Fall hieße dies, dass Sie den weitaus größten Teil ihres restlichen Lebens an einem Ort verbrächten, dem es der Annehmlichkeiten Ihres Landsitzes ermangelt …
Um Sie in Ihrem Entschluss, die Polizei unter keinen Umständen hinzuzuziehen, weiter zu bestärken, möchte ich bereits jetzt darauf hinweisen, dass ich im Gegenzug für das Leben und die Freiheit Ihrer Frau kein Geld will; schließlich bin ich kein Verbrecher! Sie werden im Laufe der nächsten Tage detaillierte Anweisungen erhalten, was Sie zu tun haben, um Ihre Frau in einer angemessenen Zeit wohlbehalten wieder in Ihre Arme schließen zu können.
Es verbleibt mit den besten Grüßen
Ihr
GROSSER UNBEKANNTER
Darunter stand, in Marías Schulmädchenhandschrift, die allerdings etwas zittriger als gewohnt ausgefallen war, der Satz:
Miguel, tue bitte alles, was er von Dir verlangt – er hat versprochen, mich dann bald wieder freizulassen! Ich liebe Dich. María.
Miguel legte die Blätter auf den Küchentisch. Er wusste nicht, ob er über diesen Brief lachen oder weinen sollte, und wäre da nicht das Bild seiner Frau gewesen, er hätte den Schreiber für einen kompletten Irren gehalten und das Papier zerrissen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Seine Profession brachte es mit sich, dass er des öfteren Briefe von Spinnern erhielt, wenn diese auch normalerweise auf die reguläre Art zugestellt wurden.
Doch dieser Brief war anders, das musste er sich eingestehen, nachdem er sich wieder so weit beruhigt hatte, dass seine Gedanken in einigermaßen geregelten Bahnen verliefen. Orthographie und vor allem der verschnörkelte Stil deuteten auf einen Mann hin, der deutlich intelligenter war als alle Entführer, die Miguel aus dem Fernsehen kannte. Und noch etwas fiel ihm auf, als er den Brief zum zweiten Mal las: Der Entführer sprach von sich in der ersten Person Singular, während in den TV-Sendungen und auch Kriminalromanen, die er zu diesem Thema gesehen und gelesen hatte, in der Regel von »wir« gesprochen wurde!
War der Entführer also allein?
Und was wollte er von ihm, wenn es kein Geld war?
Um das herauszufinden, würde ihm nichts anderes übrig bleiben als zu warten – zu warten auf die versprochenen »detaillierten Anweisungen«, die in den nächsten Tagen eintreffen sollten.
Zu warten … oder zur Polizei zu gehen!
Aber die Argumente, die der »große Unbekannte« dagegen vorgebracht hatte, waren zu gut. Miguels Ehe war zwar weder im Himmel geschlossen worden noch waren sie beide nach sechs gemeinsamen Jahren das, was man ein »glückliches Paar« nannte; sie lebten eher nebeneinander her. Dennoch, dachte Miguel, liebte er seine Frau, und selbstverständlich liebte sie ihn auch – wäre sie sonst bei ihm geblieben? Unter keinen Umständen wollte er, dass ihr etwas zustieß, schon gar nicht etwas von der Art, wie es der Kidnapper angedeutet hatte.
Er würde also, schloss er endlich, auf die »detaillierten Anweisungen« warten und dann weitersehen.
Noch einmal nahm er das Bild zur Hand und musterte es. Es war leicht unscharf, dennoch waren alle Details ausreichend gut zu erkennen, mit Ausnahme des Hintergrunds – der bestand aus einem homogenen Graublau. Ein Vorhang? Oder eine Decke? Außerdem fiel ihm auf, dass es auf dem Bild Schatten gab, also wohl kein Blitz verwendet worden war. Marías volle Brüste, die bereits begannen, dem Zug der Schwerkraft nachzugeben, warfen einen harten Schatten nach rechts unten, ebenso die Stupsnase auf ihr leicht seitwärts gewandtes Gesicht.
Miguel zuckte mit den Schultern und warf das Bild zurück auf den Tisch. Die Aufnahme brachte ihn nicht weiter, das war klar. Alles, was er im Moment tun konnte, war zu warten …
Er stand auf und ging zu dem Hängeschrank, um sich ein Glas zu holen. Dabei fiel sein Blick durch das Küchenfenster, und er bemerkte das Heck von Cristinas Wagen. Richtig, die hing ja immer noch im Keller!
Während er die Treppe hinunterhastete, überlegte er, dass es wohl das beste sei, sie wegzuschicken. Wahrscheinlich war sie heute, wie jeden zweiten oder dritten Samstag, kurz nach dem Mittagessen aufgekreuzt. Manchmal sprach sie sich vorher mit María ab, manchmal kam sie einfach so vorbei. In der Regel blieb sie bis Sonntagabend, seltener bis Montagmorgen. Doch jetzt, in dieser Situation, konnte und wollte er sich nicht um sie kümmern. Außerdem war sie ja Marías Sklavin und nicht die seine. María, die er bei einer Party seines Verlegers kennengelernt hatte, hatte sich schon immer eine eigene Sklavin gewünscht – am liebsten natürlich eine Vollzeitsklavin, aber die fand man ja nicht an jeder Ecke. Er selbst dagegen war gar nicht so erpicht darauf; ebenso wenig, wie er auf ein Haustier erpicht war – es war die Verantwortung, die er scheute. Es genügte ihm, ab und zu mit seiner Frau einige Stunden im »Spielzimmer« zu verbringen, wobei María, die sich sonst gerne dominant gab (und Cristina konnte ein Liedchen davon singen, in allen Tonarten sowie in Dur und in Moll), sich mit der Rolle der Devoten bescheiden musste. Nach so einer »Sitzung« mit Miguel hatte es Cristina unter María dann stets besonders schwer.
Als er die Tür des »Spielzimmers« öffnete, stellte er fest, dass er vorhin vergessen hatte, das Licht zu löschen. Cristinas braune Rehaugen sahen ihn flehend an.
»Bitte, Herr!«
Miguel nickte und drückte einen Knopf auf dem kleinen, neben der Tür in Augenhöhe angebrachten Schaltpult. Summend aktivierte sich der Elektromotor, und die Sklavin begann, sich langsam herabzusenken. Als sie mit dem Rücken den Boden berührte, drückte Miguel den Knopf erneut, und das Summen verstummte.
»Du kannst nicht länger hierbleiben«, sagte er, während er die ledernen Manschetten an ihren Hand- und Fußgelenken löste. »María musste heute nachmittag überraschend zu ihren Eltern nach Murcia, im Süden – ein Trauerfall in der Familie!« Dann wurde ihm bewusst, dass diese Aussage nicht ganz mit seinem Verhalten vorhin zusammenpasste, als er Cristina nach dem Verbleib seiner Frau gefragt hatte. »Sie hat mich soeben angerufen«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe den ganzen Tag geschrieben und nichts gehört.«
Meine Güte, dachte er, wenn ich bereits ihr gegenüber ins Schlingern komme, was passiert dann erst, wenn mich ein anderer nach meiner Frau fragt? Plötzlich begann er zu ahnen, dass die Forderung des Entführers nach Heraushaltung der Polizei vielleicht nicht so einfach zu erfüllen sein würde.
Doch Cristina hatte offensichtlich andere Sorgen, als sich um den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu kümmern. Sie stöhnte und reckte sich. Dann kniff sie die Beine zusammen. »Bitte Herr, ich muss zur Toilette, ich kann es nicht mehr halten …«
Miguel seufzte. Natürlich gab es keine Toilette im »Spielzimmer«, nicht einmal in dem kleinen, eingebauten Duschraum. Das hatte »psychologische« Gründe. Denn sowohl für María als auch für ihn selbst war es unvorstellbar, dass eine Sklavin, so lange sie sich in ihrem Haus befand, eine Toilette benutzte. Bei länger dauernden Sitzungen pflegte María, sehr zu Cristinas Leidwesen, mit Windeln oder Gummihosen zu arbeiten; bei anderen Gelegenheiten musste ein alter Eimer diesem Zweck dienen. Selten ließ María sich ihre Sklavin in ein Sektglas erleichtern, aus dem diese anschließend ihren eigenen »Sekt« wieder genießen durfte …
Doch für so etwas hatte Miguel im Moment weder Zeit noch Lust. Er holte den Eimer aus dem Duschraum und stellte ihn vor Cristina hin, die sich unverzüglich darüber kauerte. Als Sklavin – wenn auch nur Freizeit- oder Wochenendsklavin – verfügte sie über keinerlei Recht auf so etwas wie ein Schamgefühl.
Während Miguel zusah, wie Cristina sich erleichterte, dachte er darüber nach, was er über sie wusste. Viel war es nicht: Das Paar hatte sie durch Miguels Bücher kennengelernt. María, die die im Laufe der Jahre langsam, aber stetig anwachsende Leserpost ihres Mannes erledigte – und dies mit großem Vergnügen, etwas, das Miguel nie verstanden hatte –, hatte ihm ihren Brief mit dem aufgeklebten Foto in die Hand gedrückt und dazu gesagt: »Die will ich haben!«
Und sie hatte sie bekommen, wenn auch nur an jedem zweiten oder dritten Wochenende; seltener für längere Zeit, wenn Cristina Urlaub hatte. Die neue Sklavin hatte bereits einschlägige Erfahrungen hinter sich gehabt, wie das Piercing und die Narben zeigten, und sie war wohl auf der Suche nach jemandem gewesen, dem sie vertrauen konnte – und mit dem sie nicht gleich ein Lebensbündnis eingehen musste. Miguel wusste, dass Cristina in Barcelona arbeitete, aber der Name ihrer Firma war ihm entfallen, falls er ihn überhaupt jemals gekannt hatte. Jedenfalls war es eine Software-Firma, und Cristina hatte darin irgendeine leitende Position inne; Oberkante der mittleren Führungsschicht oder so etwas. Die Softwarebranche war nach wie vor praktisch eine reine Männerdomäne, und so hatte Cristina bei ihrer Arbeit wohl schwer zu kämpfen. Und immer dann, wenn sie der berufliche Stress zu überwältigen drohte, kam sie hierher, um einige Tage in absoluter »Entspannung« zu verbringen.
Als sie fertig war, ging sie mit dem Eimer in den Duschraum und entleerte ihn in dessen Abfluss. Dann spülte sie ihn mit Wasser aus und stellte ihn zurück an seinen Platz. Zurück bei Miguel kniete sie sich nieder, den Kopf in der Höhe seines Schritts, und blickte ihn fragend an.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt! Du musst gehen. María wird sich bei dir melden, wenn du wieder kommen kannst. Ich habe heute und morgen keine Zeit für dich!«
Cristina schlug die Augen nieder, dann nickte sie wortlos. Sie stand auf und wartete, während er die schwere Eisentür öffnete. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass die Sklavin niemals die Tür des »Spielzimmers« berühren durfte, sei es von außen oder von innen.
Draußen kleidete sie sich rasch und schweigend an. Miguel betrachtete von hinten das Spiel ihres Keuschheitspiercings, als sie sich nach dem Slip bückte. Wie lange mochte kein Mann sie mehr gehabt haben? Den Schlüssel verwahrte María, also wohl mindestens drei Jahre lang – seit Cristina zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war. Vielleicht aber auch viel länger …
Endlich war Cristina fertig. Miguel geleitete sie bis zur Haustür und nickte ihr zum Abschied zu. Als der Motor ihres Mercedes aufbrummte, saß er bereits wieder in der Küche und las den Brief ein drittes Mal.