Читать книгу Der Narrenturm - Tomàs de Torres - Страница 6
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Miguel hatte den Funkwecker abgestellt, was er ganz selten tat, sogar an einem Sonntag. Aber er hatte die halbe Nacht damit verbracht, sich den Kopf über das zu zerbrechen, was an diesem Tag geschehen war. Über Marías ungewisses Schicksal – möglicherweise war sie ja bereits tot, trotz der »beruhigenden« Worte des Entführers; über die Motive des »großen Unbekannten«, der beteuerte, kein Geld zu wollen; und nicht zuletzt darüber, wie er auf diese unerwartete Situation, die sein bislang ruhig und in eingefahrenen Bahnen verlaufenes Leben mit einem Schlag in tausend Stücke schmetterte, reagieren sollte.
Und er hatte zu viel Sherry getrunken.
Irgendwann in dieser Nacht war er schreiend aufgefahren, erwacht aus einem Alptraum, von dem er in seiner Kindheit oftmals gequält worden war, vor allem in Situationen großer emotionaler Belastung, der mittlerweile aber lange vergessen war; begraben im tiefsten Verlies seines Unterbewusstseins, aus dem niemals etwas entkommen konnte.
Ein Insekt … eine Fliege … ich bin eine kleine Fliege, eingeschlossen in ihren Kokon, in Dunkelheit …
Ich will den Kokon abschütteln, will mich befreien, will ans Licht, doch es geht nicht! Anstatt sich zu öffnen, wird der Kokon immer enger, erdrückt mich …
Ich kann meine Flügel nicht bewegen, kann nicht fliegen, nicht fliehen …
Der Kokon wird mich zerquetschen.
Er erwachte erst kurz nach halb zehn Uhr, was schon seit mindestens zwei Jahren nicht mehr vorgekommen war. Immerhin hielten sich die Kopfschmerzen in Grenzen. Er schalt sich einen Narren; mit Alkohol ließ sich dieses Problem gewiss nicht lösen!
Miguel verzichtete auf ein Frühstück und machte sich lediglich einen starken Kaffee. Normalerweise hätte er heute mit der Endkorrektur von »Alisons Suche« begonnen oder sich eines von mehreren halbfertigen Exposés für einen neuen Roman vorgenommen, denn er hasste nichts so sehr wie Leerlauf. Doch daran war nun natürlich nicht zu denken – er hätte sich niemals auf die Arbeit konzentrieren können.
Er wurde hin- und hergerissen zwischen dem drängenden Wunsch, die Polizei anzurufen und damit die schwere Last der Verantwortung für Marías Schicksal von seinen Schultern zu nehmen, und der Angst, der Entführer könne seine Drohung wahr machen und María töten und seine – Miguels – Existenz durch fingierte Beweise vernichten.
So oder so: Die Verantwortung, das erkannte er endlich, lag ausschließlich bei ihm; er konnte sie auf keinen anderen abwälzen. Sie legte sich wie ein eiserner Ring
– ein Kokon –
um sein Herz und drohte, ihn zu erdrücken.
Er trank den Kaffee im Stehen, während er durch das Küchenfenster auf die Zufahrt starrte, ohne tatsächlich etwas wahrzunehmen. Der Entführer hatte angekündigt, die »detaillierten Anweisungen« im Laufe der nächsten Tage zu schicken, hatte aber keine Aussage darüber gemacht, auf welchem Weg dies geschehen werde. Am wahrscheinlichsten, überlegte Miguel, war natürlich der Postweg …
Einem plötzlichen Impuls folgend zog er den Hausschlüssel aus der Hosentasche, in der er ihn stets trug, seit er sich vor vielen Jahren zum ersten und bislang einzigen Mal selbst ausgesperrt hatte, und ging die wenigen Meter zum Briefkasten. Natürlich wurde sonntags keine Post ausgetragen, aber vielleicht …
Er hörte bereits am dumpfen Klang des Metalls, als er den Schlüssel umdrehte, dass der Kasten nicht leer war. Als die Tür aufschwang, fiel ihm ein brauner Umschlag im C4-Format entgegen. Miguel drehte ihn um: Ein unbeschriebenes Geschäftskuvert, keine Zieladresse, kein Absender und natürlich auch keine Briefmarke. Dennoch bestand kein Zweifel daran, wer diesen Umschlag in seinen Briefkasten geworfen hatte – persönlich! Wann war das geschehen? Letzte Nacht? Eigentlich, erkannte Miguel, hätte der Entführer den Umschlag bereits gestern nachmittag dort deponieren können, denn er oder María leerten den Kasten stets mittags.
Mit weichen Knien ging er zurück ins Haus und setzte sich an den Esstisch, wo immer noch der gestrige Brief lag. Er schob ihn zur Seite, nahm das Messer und öffnete das große Kuvert langsam, beinahe übervorsichtig. Er entnahm ihm drei ungefaltete Blätter – ein zweiseitiger Brief, wieder mit dem Computer geschrieben, und ein Blatt mit etwas, das wie eine Grund- und Aufrissskizze eines alten Turms aussah.
Miguel las zunächst den Brief.
Werter Sr. Hermano – oder vielleicht besser: Lieber Sr. Hermano, denn schließlich kennen wir uns ja bereits! Und wir werden uns im Laufe der nächsten Wochen und Monate noch wesentlich besser kennenlernen.
Lassen Sie mich zunächst auf den Punkt zu sprechen kommen, der Sie vermutlich am meisten interessiert (zumindest hoffe ich das): Ihrer Frau geht es, den Umständen gemäß, gut; sie ist nicht verletzt und hat auch anderweitig keinen körperlichen Schaden davongetragen. Ich habe mich bemüht, es ihr so bequem wie möglich zu machen. Natürlich sind dieser Bequemlichkeit dort Grenzen gesetzt, wo es darum geht zu verhindern, dass sie sich selbstständig macht und ohne meine Einwilligung zu Ihnen zurückkehrt … Aber sie scheint sich allmählich an die Zwangsjacke und die stählernen Fußfesseln zu gewöhnen. Nur stubenrein ist sie nicht, das muss ich leider tadelnd anmerken.
Kommen wir nun ohne weitere Umschweife zu den in meinem einführenden Schreiben versprochenen Anweisungen, wie Sie Ihre Frau möglichst bald und unversehrt wieder in Ihre Arme schließen können. Ich hatte bereits geschrieben, dass Sie mich als großen »Fan« Ihrer Romane betrachten können, und als solcher habe ich nur einen sehnlichen Wunsch, den zu erfüllen einem routinierten Autor wie Ihnen keine allzu großen Mühen machen sollte. Und angesichts der Umstände denke ich, dass Sie mir diesen Wunsch kaum abschlagen werden :-) Ich möchte, dass Sie einen Roman exklusiv für mich schreiben! Sehr gerne dürfen Sie ihn mir auch widmen – schließlich würde er ohne mich niemals geschrieben werden, nicht wahr? –, doch bestehe ich nicht auf diesem Punkt; ich überlasse dies Ihrem Gefühl für Takt und Höflichkeit. Um Ihnen die Arbeit zu erleichtern, habe ich bereits einen Titel und auch einen Schauplatz für Ihren neuen Roman ausgewählt: »Gefangen im Narrenturm«! Sie wissen doch, was damit gemeint ist, oder? Ah, ich bin mir dessen ganz sicher! In der so oft zitierten »guten, alten Zeit«, in der es weder Heizung noch eine halbwegs brauchbare medizinische Versorgung noch Arbeitslosen- oder Rentenversicherung gab, steckte man die Geisteskranken oder diejenigen, die man dafür hielt (oder halten wollte), einfach ins Gefängnis und ließ sie dort in ihrem eigenen Unrat verrotten. Später, sagen wir vor zwei- bis dreihundert Jahren, schuf man dann eigene »Anstalten« für solche Problemfälle, von denen man einige aufgrund ihrer Form als »Narrentürme« bezeichnete. Ich möchte nun, dass Ihr neuer Roman – den Sie mir gerne widmen dürfen, hatte ich das bereits erwähnt? – einen solchen »Narrenturm« zum Hauptschauplatz hat, daher auch der Titel. Ich wage gar nicht daran zu denken, was für »erbauliche« Szenen ein Autor wie Sie in diesem Turm inszenieren kann! Die Insassen dieser Anstalten waren, zumindest in früheren Zeiten, weitgehend sich selbst überlassen; eingekerkert und teils angekettet, manche in Einzelhaft (wussten Sie, dass man Käfige wie für Raubtiere verwendete?), andere gemeinsam, ohne einen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein zu machen! Und alle zusammen waren sie der Willkür und Dekadenz der Aufseher ausgeliefert …
Aber natürlich muss der Roman nicht unbedingt in der Vergangenheit spielen; er kann auch in der heutigen Zeit angesiedelt sein, das überlasse ich ganz Ihnen und Ihrer bewährten Phantasie! Wichtig ist nur eines: Er muss, wie Ihre anderen Romane auch, für die Sie in gewissen Kreisen so bekannt sind, genügend anschauliche Beschreibungen der Insassen und ihres, ähem, schrecklichen Schicksals enthalten …
So viel zum Inhalt. Wie gesagt, alles andere bleibt Ihnen überlassen. Damit Sie sich ein Bild des Schauplatzes machen können, habe ich den Plan eines solchen Turms beigelegt. Ich bitte Sie, sich unbedingt an diesen zu halten! Tun Sie es nicht, würde Ihre Frau es sehr bereuen – und Sie letztlich auch, wenn Ihnen diese nicht ganz gleichgültig ist! Zu dem Plan wäre noch hinzuzufügen, dass sich etwa 40 Meter vom Turm entfernt eine alte Stallung befindet, die nicht mehr verwendet wird, aber noch einigermaßen »gut in Schuss« ist. Vielleicht können Sie damit etwas anfangen? Ach ja, und das den Turm und die Stallung umgebende Gelände ist leicht hügelig (wirklich nur ein wenig gewellt), sehr dicht bewaldet (man sieht den Turm erst, wenn man nur noch zwanzig oder dreißig Meter davon entfernt ist) und ziemlich abgelegen – noch abgelegener als Ihr Landsitz!
Zurück zu dem Roman. Damit Sie nicht der zweifellos aufkommenden Versuchung erliegen, mir ein Novellchen oder gar eine Kurzgeschichte als »Roman« anzudrehen, sollte er einen Umfang von, sagen wir, mindestens zehn Kapiteln zu jeweils mindestens zwölf Manuskriptseiten haben. Diesen Wunsch werden Sie mir (und Ihrer Frau …) doch nicht abschlagen, oder? Schließlich weiß ich, dass Ihre letzten Romane jeweils ein Mehrfaches dieses Volumens hatten! Des weiteren bitte ich Sie dringend, mir jede Woche mindestens ein Kapitel zuzusenden! Im Gegenzug erhalten Sie jeweils eine aktuelle Fotografie Ihrer Frau, die Ihnen anzeigen wird, dass sie noch lebt und sehnsüchtig auf die Vollendung des Romans wartet, der ihre umgehende Freilassung folgen wird.
Sie sehen: Es liegt ausschließlich an Ihnen, wie lange es dauern wird, bis Sie Ihre Frau wieder in den Armen halten können! Also hurtig, hurtig an die Arbeit! Ihre Frau ist für jeden Tag, den Sie das Manuskript früher beenden, dankbar, dafür werde ich schon sorgen :-)
Ach so, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen: die Art der Übergabe der einzelnen Kapitel! Die ist, dank unserer modernen Zeit und ihrer Errungenschaften, denkbar einfach: Senden Sie die Textdateien via E-Mail an folgende Adresse: »warden@foolstower.ph«! Die Antwort erfolgt jeweils baldmöglichst; ob per Mail oder Post oder auf welche Weise auch immer.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und hoffe auf einen spannenden und erbaulichen Roman! Und ich erwarte das erste Kapitel baldigst!
Ihr
GROSSER UNBEKANNTER
»Das glaubt mir kein Mensch!«, stieß Miguel hervor, als er den Brief sinken ließ. Wie beim ersten Schreiben des Entführers wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Er nahm das Blatt mit den Turmskizzen zur Hand. Das Papier war identisch mit dem des Briefes; wahrscheinlich waren die Skizzen aus einem Buch oder einer Broschüre eingescannt und dann ausgedruckt worden. Die linke Hälfte bestand aus einem schematischen Aufriss eines Turms. Der darunter abgedruckte Maßstab zeigte an, dass er einen Durchmesser von ziemlich genau 15 Metern aufwies, von dem die dicken Mauern allein mehr als ein Viertel in Anspruch nahmen. Die Höhe betrug etwa 30 Meter. Der Eingang befand sich einen Meter über dem Erdboden. Insgesamt verfügte der Turm über drei hohe oberirdische und zwei wesentlich niedrigere unterirdische Geschosse sowie möglicherweise – genau war das anhand der Skizze nicht zu erkennen – über eine Dachplattform. Eine Reihe von Zinnen bekrönte den Turm, deren unterschiedliche Höhe wohl auf ihren uneinheitlichen Erhaltungszustand zurückzuführen war.
Die rechte Seite des Blatts enthielt drei kreisförmige Grundrisse, die mit den Worten »Kellergeschosse«, »Erdgeschoss« und »Obergeschosse« bezeichnet waren. Die Raumaufteilung war in allen Ebenen ähnlich: Um einen runden Platz in der Mitte gruppierten sich an den Außenwänden je nach Stockwerk sechs bis zehn Räume – »Zellen«, dachte Miguel, wäre gewiss der passendere Ausdruck. Eine wohl ziemlich enge und anachronistische Wendeltreppe ringelte sich im Kern des Gebäudes wie ein Korkenzieher nach oben.
Minutenlang saß Miguel reglos am Küchentisch, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Schließlich zwang er sich, den Brief ein zweites Mal zu lesen; langsam diesmal, nachdem er ihn zunächst hastig verschlungen hatte. Über die geschraubte Ausdruckweise des Schreibers wunderte er sich mittlerweile nicht mehr, wohl aber über dessen Ansinnen.
»Der gehört in seinen eigenen Narrenturm«, murmelte er. »Und den Schlüssel dazu sollte man nicht wegwerfen, sondern einschmelzen!«
Zwei Dinge waren es, die Miguel am Brief des Entführers besonders auffielen: Zum einen die detaillierten Pläne mit der Anweisung, sich »unbedingt« an diese zu halten, und zum anderen die angegebene E-Mail-Adresse. ».ph«? Davon hatte Miguel noch nie etwas gehört, aber er war auch kein großer Internetsurfer.
»Könnten die Philippinen sein«, überlegte er, »da kann man bestimmt kaum zurückverfolgen, wer hinter welcher Adresse steckt …«
Er lehnte den Kopf an die Wand, nahm die Brille ab und schloss die Augen. Eines stand fest: Jetzt war der Moment gekommen, in dem er sich entscheiden musste, ob er mit den Briefen zur Polizei ging oder nicht. Schließlich konnte er immer noch behaupten, dass er den ersten Brief für einen üblen Scherz gehalten habe, obwohl Marías Fotografie und ihr handschriftlicher Zusatz auf dem Schreiben dem klar entgegenstanden. Aber wahrscheinlich würde man Verständnis für sein Zögern aufbringen.
Kein Verständnis allerdings, da konnte er sicher sein, würde man bei der Polizei haben, wenn er auch diesen Zeitpunkt verstreichen ließ. Meldete er sich später – oder kam die Polizei gar auf eine andere Weise hinter die Entführung –, so würde er damit wahrscheinlich selbst zum Verdächtigen Nummer eins werden.
Die meisten Morde, erinnerte er sich, werden von den Ehegatten begangen …
Plötzlich überfielen ihn höllische Kopfschmerzen. Er stöhnte und rieb sich die Stirn.
Er liebte seine Frau und wollte alles vermeiden, was ihr schaden konnte. Er kannte die entsprechenden Statistiken nicht – schließlich war er kein Autor von Kriminalromanen –, aber wie jeder einigermaßen unterrichtete Zeitungsleser wusste er, dass es genug Entführungen gab, die von der Polizei glücklich beendet wurden. Doch nach seiner Einschätzung gab es mindestens ebenso viele, die in einer Katastrophe endeten …
Es gab niemanden, der ihm diese Verantwortung jetzt abnehmen konnte – die Verantwortung für das Leben seiner Frau. Ob er zur Polizei ging oder nicht: Es konnte die falsche Entscheidung sein, und diese Entscheidung konnte Marías Tod bedeuten!
Endlich nahm er die beiden Briefe, Marías Foto und die Turmskizzen und ging mit langsamen, schweren Schritten hinauf in sein Büro. Dort stand auch ein Telefon, von dort aus konnte er immer noch die Polizei anrufen, wenn er sich dafür entscheiden sollte …
Er schaltete den Computer ein und wartete ungeduldig, bis das System endlich bereit war. Die angegebene E-Mail-Adresse hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er startete den Webbrowser und tippte eine Adresse in die Kopfzeile:
www.foolstower.ph
Es dauerte keine Sekunde, bis in dem Fenster des Browsers die Zeichnung eines Männchens mit einem Presslufthammer erschien. Darunter stand in englischer Sprache:
Hier entsteht eine neue Webpräsenz.
Der Fall war so weit klar: Die Adresse war vergeben, aber nicht mit Inhalt belegt. Dennoch konnte der Entführer wohl problemlos Mails empfangen, die an diese Adresse gesandt wurden.
Miguel erkannte, dass er etwas vergessen hatte, und rief Google auf. Eine kurze Recherche ergab Gewissheit: ».ph« stand für die Philippinen.
Eine kleine Spur, aber immerhin eine Spur …
Das Telefon neben dem Bildschirm zog seine Aufmerksamkeit plötzlich magisch an. Ruf an!, schien es zu flüstern. Ruf endlich die verdammte Polizei an! Sie finden ihn! Vielleicht dauert es gar nicht lange!
Doch vielleicht dauerte es zu lange … Und wenn der »große Unbekannte« Verdacht schöpfte, wenn er nicht völlig überrascht wurde von dem Zugriff …
Miguel schüttelte den Kopf.
Die Entscheidung, nichts zu unternehmen, war einfacher zu treffen als die Entscheidung, etwas zu tun.
Sein Blick fiel wieder auf die Turmskizze. Tatsächlich hatte er bereits vor Jahren überlegt, etwas zu schreiben, was in diesem »Milieu« spielte. Er hatte die Idee aber irgendwann abgehakt, da sie ihm nicht genug Substanz für einen Roman zu haben schien.
Doch seit damals besaß er einige Fachbücher zum Thema »Psychiatrie gestern und heute«. Vielleicht …
Eine oder zwei Stunden saß er beinahe reglos vor dem Computer und dachte nach. Zwischendurch stand er einige Male auf, um sich verschiedene Bücher und eine Landkarte zu holen.
Dann, mit einem Ruck, zog er die Tastatur zu sich heran und startete das Textprogramm.
»Gefangen im Narrenturm«, 1. Kapitel
An einem Freitagnachmittag, gerade zur Hauptverkehrszeit, verließ Dr. Alberto Vidal die katalanische Stadt Manresa auf der N 141 in Richtung Moia. Er hasste es, bei dichtem Verkehr fahren zu müssen, aber als frischgebackener Assistenzarzt konnte man sich seine Vorstellungstermine nicht aussuchen. Im Gegenteil: Man musste froh sein, überhaupt ein Jobangebot zu bekommen. Und Vidal hatte großes Glück gehabt, dass er so kurze Zeit nach Abschluss seines Studiums die Gelegenheit erhielt, an einer wenngleich kleinen Privatklinik arbeiten zu können. Vielleicht war es aber auch weniger Glück als vielmehr die Qualität seiner Doktorarbeit und die Tatsache, dass sie den richtigen Leuten aufgefallen war.
Nach einer halben Fahrtstunde hatte er die kleine Ortschaft Calders erreicht und bog in Sichtweite des Kastells rechts ab in Richtung Monistrol de Calders. Er atmete auf, als die Verkehrsdichte schlagartig nachließ. Hierhin verirrten sich nicht viele Menschen. Genau der richtige Ort für eine psychiatrische Klinik, dachte er. Hoffentlich fand er sie überhaupt wieder, so versteckt wie sie lag! Vor knapp zwei Monaten war er das bisher einzige Mal dort gewesen, bei einem Vorstellungsgespräch. Seither hatte er mit dem Leiter der Klinik, Dr. Carlos Delgado, nur telefoniert. Auch die Zusage für die Stelle als Assistenzarzt hatte ihm Dr. Delgado vor drei Wochen telefonisch mitgeteilt, gleichzeitig mit der Bitte, am Freitag, dem 9. Juni, nachmittags um vier Uhr zu einer Art informellem Antrittsbesuch zu kommen, so dass er dann am darauffolgenden Montagmorgen ohne Verzögerung mit seiner neuen Arbeit beginnen konnte.
Die Straße führte leicht bergauf und folgte eine Weile den Windungen eines kleinen Flüsschens, bis sie schließlich Monistrol de Calders erreichte. Hier musste er irgendwo links abbiegen … Er verfluchte im stillen seinen mangelhaften Orientierungssinn und den mindestens ebenso mangelhaften Sinn des katalanischen Straßenbauamtes für Beschilderungen. War es hinter der Kirche? Bestimmt! Solche Straßen ins Nirgendwo zweigten immer hinter der Kirche ab …
Der Zustand der Straße, die durch dichten Laubwald führte, ließ viel zu wünschen übrig. Vidal konnte kaum über den zweiten Gang hinausschalten, und bei jedem Schlagloch befürchtete er, sein alter Toyota Corolla könne irreparablen Schaden nehmen. Endlich kam nach einer leichten Biegung das altmodische, schmiedeeiserne Tor in Sicht. »Clínica Gutierrez Montoya« verhieß das einfache Schild. »Klinik«, nicht »Psychiatrische Klinik« oder gar »Irrenanstalt«!
Auf dem kleinen Parkplatz standen lediglich ein altersschwaches Motorrad und vier Autos – drei Kleinwagen und ein BMW. Vidal sah auf die Uhr; es war kurz vor vier. Freitags um diese Zeit befand sich wohl nur das nötigste Personal in der Klinik; eine gute Gelegenheit, sich in Ruhe alles anzusehen.
Bevor er ausstieg, überprüfte er den korrekten Sitz seines Anzugs. Er war zwar kein Mensch, der großen Wert auf Äußerlichkeiten legte, wusste aber, dass er darin eher die Ausnahme bildete. Namentlich Vorgesetzte – und vor allem zukünftige Vorgesetzte – sahen dies meist anders.
Er schritt durch eine sich automatisch öffnende Glastür und fand sich in einem kleinen Foyer wieder. Es war hell und freundlich eingerichtet, mit drei Besucherstühlen, die sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Am Empfang saß die gleiche junge Dame wie bei seinem ersten Besuch; sie hatte sich ihm damals vorgestellt, aber sein Namensgedächtnis war äußerst mangelhaft ausgeprägt.
»Hallo«, grüßte er betont unkonventionell, »mein Name ist Alberto Vidal, und ich habe einen Termin bei Dr. Delgado.« Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, das »Dr.« seinem Namen voranzustellen, und eigentlich wollte er das auch nicht. Er fand, es klang einfach zu protzig, vor allem für jemanden, der noch keine 30 Jahre alt war.
»Wir haben Sie nicht vergessen«, lachte die Frau. »Herzlich Willkommen im Klub! Ich bin Ana Simón, falls Sie sich noch erinnern … Dr. Delgado erwartet Sie bereits.«
Dr. Vidal fühlte sich ertappt. »Selbstverständlich erinnere ich mich«, beeilte er sich zu versichern und folgte ihr durch einen kurzen Korridor in das Arbeitszimmer des Leiters der Klinik.
Dr. Delgado erhob sich erfreut, als Ana den zukünftigen Mitarbeiter in sein Büro führte. Er war etwa 45 Jahre alt, trug schwarze Haare und einen gepflegten schwarzen Vollbart, beides mit einigen grauen Strähnen durchsetzt. Er war hochgewachsen – wenn auch nicht ganz so hochgewachsen wie Alberto Vidal mit seinen stolzen 1,83 Metern – und machte einen sehr sympathischen Eindruck. Vidal hatte schon bei ihrem ersten Gespräch das Gefühl gehabt, dass sie sehr gut würden zusammenarbeiten können.
Delgados Büro war ebenso hell, zweckmäßig und freundlich eingerichtet wie das Foyer. Seine Rückwand wurde beherrscht durch eine große Schwarz-Weiß-Fotografie, die einen etwa 60jährigen Mann mit schneeweißen Haaren, ebensolchem Vollbart und Nickelbrille zeigte. Ein beeindruckendes Gesicht mit einem leisen Anflug eines Lächelns – ein Bild, das Vidal sich sehr gut als Frontispiz eines wissenschaftlichen Werkes des ausgehenden 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts vorstellen konnte – vielleicht eines Lehrbuches der Psychiatrie.
Dr. Delgado hatte den Blick des jungen Assistenzarztes verfolgt. »Das ist Dr. Dr. Anselmo Gutierrez Montoya«, erläuterte er, »hier allgemein bekannt als ›Don Anselmo‹. Er hat diese Klinik 1975 begründet und sie beinahe 30 Jahre lang geleitet, bis ich ihn vor zwei Jahren in dieser Position abgelöst habe. Ein großer Mann! Es ist ihm nicht leichtgefallen, sein Lebenswerk in andere Hände zu legen, aber wir werden schließlich alle nicht jünger …« Er lachte freundlich. »Die Bilder hier an den Seiten stammen aus seiner Sammlung. Ein seltsamer Wandschmuck für eine moderne psychiatrische Klinik, gewiss, aber ich habe es bisher nicht gewagt, sie abzuhängen. Vielleicht tritt er ja eines Tages plötzlich durch diese Tür …«
Die vier Bilder waren in der Tat ein »seltsamer Wandschmuck für eine moderne psychiatrische Klinik«! Es handelte sich um Kupferstiche, die allesamt Behandlungsmethoden von Geistesgestörten im frühen 19. Jahrhundert zeigten.
Da war zum einen der »Drehstuhl«, eine käfigähnliche Vorrichtung, in die der Patient – in diesem konkreten Beispiel eine Patientin, nackt, mit langen Haaren und großen Brüsten – mit Hilfe von ledernen Fesseln geschnallt wurde. Anschließend wurde der Käfig durch Betätigung einer Kurbel in Rotation versetzt – vom Prinzip her nicht unähnlich den Zentrifugen, die heutzutage beim Training von Astronauten verwendet werden. Was dadurch allerdings »geheilt« werden sollte, blieb das Geheimnis des Erfinders dieses Geräts.
Auf dem nächsten Bild war ein »Sturzbad« zu sehen; die Irre – wieder war es eine nackte Frau – saß, mit ledernen Brust- und Armriemen befestigt, in einem hölzernen Badezuber, während ein Wärter, geschützt durch einen Bretterschirm, ihr aus einiger Höhe einen vollen Eimer kalten Wassers über den Kopf goss. Vidal erinnerte sich, im Studium über diese »Behandlungsmethode« gelesen zu haben. Ein Irrenarzt hatte darüber im Jahre 1818 geschrieben: »Ein Brunnen steht mit einer nebenstehenden Badewanne in Verbindung und erhält sie stets so mit Wasser gefüllt, dass die anderen Gehilfen dasselbe mit Eimern schöpfen und den höher Stehenden ohne Unterbrechung mit vollen Eimern schnell genug versorgen können, um die Übergießungen viertel- und halbe Stunden lang fortzusetzen, wie es bei großer Unempfindlichkeit vieler Kranker durchaus erforderlich ist.«
Das dritte Bild zeigte eine im hölzernen Zwangsstuhl an Leib, Armen und Beinen festgeschnallte Frau, und Vidal fiel auch hierzu wieder ein Zitat des gleichen Irrenarztes ein: »Ein mit einem hohen Sitze und starken Armen aus festem Holze verfertigter Lehnstuhl mit beweglichem Rücken, in welchen der Irre vermittels eines breiten Brustgurtes, Arm-, Hand- und Fußriemen befestigt wird. Zugleich ist eine Vorrichtung angebracht, durch welche die Rückenlehne höher und niedriger gestellt werden kann, für solche Fälle, in denen der Kranke ungestüme Bewegungen mit dem Kopfe macht, welche durch Hinablassen des oberen Stückes der Rückenlehne sogleich unschädlich gemacht werden können.« Oh ja, die Leute damals hatten keinerlei Mühen gescheut, Geisteskranke zu »kurieren«!
Das vierte und letzte Bild schließlich stellte das »Zwangsstehen« dar; auch hier war wieder eine junge Frau zu sehen, wenngleich sie umständehalber nicht nackt war: »Ein breiter Brustgurt von Drillich oder Leder, vorn und hinten und zu beiden Seiten mit eisernen Ringen versehen, an welchen starke Stränge befestigt werden, die wieder an eiserne Haken, die an den Seitenwänden des Zimmers angebracht sind, geknüpft werden. Ein Seil, welches in der Decke und am Fußboden an eisernen Haken Befestigungspunkte findet, läuft durch einen am hinteren Teil des Brustgurtes befestigten eisernen Ring und erhält den Kranken in ein und derselben Stellung. Nachdem die gewöhnliche Zwangsjacke mit verlängerten Ärmeln überzogen worden ist, werden, zur Erhaltung der Arme in einer fast horizontalen Lage, die Enden an die Seitenhaken des Zimmers geknüpft. Um die Füße in einer ruhigen Stellung zu erhalten, werden solche mit einem gewöhnlichen Fußriemen befestigt«.
Vidal waren solche und ähnliche Methoden durchaus nicht unbekannt. Wenn man Bücher über die Geschichte der Psychiatrie las, kam man nicht umhin, sich zu fragen, ob die Irrenärzte jener Zeit nicht selbst samt und sonders ein Haufen Irrer gewesen waren. Hinzu kam, dass die damaligen Ansichten über »Wahnsinn« vom heutigen Standpunkt aus gesehen oftmals ziemlich verwunderlich waren. Vidal erinnerte sich, erst vor kurzem gelesen zu haben, dass im Jahre 1850 der deutsche Psychiater Groddeck seinen Doktorhut mit der Dissertation »Über die demokratische Krankheit, eine neue Wahnsinnsform« erhalten hatte. Und auch heute noch waren die Standpunkte seiner Kollegen darüber, was als »Wahnsinn« einzustufen sei, ebenso konträr wie ihre Ansichten über die richtige Behandlung. Ganz davon abgesehen, dass das Thema »Politische Psychiatrie« auch im dritten Jahrtausend noch in vielen Ländern eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.
»Ja, Don Anselmo war schon ein bemerkenswerter Mann«, nahm Dr. Delgado den Faden wieder auf. »Leider hatte ich bei der Übergabe vor zwei Jahren nur kurz die Gelegenheit, mich mit ihm zu unterhalten.«
»Ist er tot?«
»Nein, nein, nicht dass ich wüsste. Man sagt, er habe sich ins Privatleben zurückgezogen, und wenn Sie mich fragen: Das hat er mehr als verdient! So, nun aber genug geschwatzt! Ich möchte Sie dem Personal vorstellen, das heißt, den paar Leuten, die heute noch im Dienst sind. Danach gehen wir zu den Patienten.«
Das verbliebene Personal bestand – von Ana Simón abgesehen, die eine Art Mädchen für alles war – aus zwei Krankenschwestern und einem Pfleger namens Gomez, der eine bärenhafte Statur und einen völlig haarlosen Schädel besaß, aber etwas tumb wirkte und kein Wort sagte. Dr. Vidal konnte sich gut vorstellen, dass renitente Patienten für Gomez kein großes Problem darstellten. Solche Leute wurden eben auch heute noch in einer derartigen Institution benötigt.
Patienten gab es insgesamt zwölf, acht Frauen und vier Männer. »Wir haben hier keine gewalttätigen Fälle«, erläuterte Dr. Delgado, während er mit Vidal durch den Korridor zum kleinen Seitenflügel der Klinik schritt, wo die Kranken untergebracht waren. Unterwegs passierten sie eine dicke Metalltür, die der Arzt mit einer an seinem Schlüsselbund befestigten Chipkarte öffnete. »Trotzdem wird Sicherheit natürlich großgeschrieben. Es wäre mehr als peinlich, wenn einer unserer Patienten plötzlich unten im Dorf aufkreuzen würde. Und es hätte natürlich auch ernste Konsequenzen für mich persönlich. Also: Jeder, der hier arbeitet, hat eine Mischung aus Arzt und Gefängniswärter zu sein, wobei wir natürlich niemals vergessen dürfen, dass wir es mit Kranken und nicht etwa mit Straftätern zu tun haben!«
Die Patienten waren in Dreibettzimmern untergebracht. Die meisten lagen mehr oder weniger desinteressiert in ihren Betten, einige schliefen, ein Mann schlürfte lautstark einen Kaffee und stierte dabei vor sich hin, ohne von dem Besuch Notiz zu nehmen. Die Klinik war vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden, und das Inventar war neu und zweckorientiert.
»Unsere Patienten bilden einen guten Querschnitt all jener Krankheitsbilder, die man in jedem psychiatrischen Lehrbuch nachlesen kann: Schizophrenien, Epilepsien, arteriosklerotische Veränderungen, endogene und exogene Depressionen, neurotische Störungen und natürlich geistige Retardierungen verschiedenen Grades.«
Die Frauenabteilung war ein Spiegelbild derjenigen für die Männer, mit dem Unterschied, dass sie doppelt so gut belegt war. Eine alte Frau kämmte einer Zimmergenossin sorgfältig, wenn auch etwas tapsig, das lange Haar. Vidal fiel eine junge Frau auf, fast noch ein Mädchen, die mit offenen Augen reglos in ihrem Bett lag. Die Decke war etwas verrutscht, und so konnte er sehen, dass sie eine Windel trug.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte er überrascht.
Dr. Delgado nickte bedauernd. »Sie ist völlig apathisch und zu keinerlei – wirklich keinerlei – Aktivität zu bewegen. Die einzige, die sie jemals aus ihrer Lethargie reißen konnte, war eine andere Patientin, eine ehemalige Zimmergenossin von ihr. Aber sie wurde in eine andere Klinik verlegt, so etwa um die Zeit, als ich hier meine Arbeit aufnahm. Seither ist sie in diesem Zustand, und alle Versuche, sie zu einer auch noch so geringen Aktivität zu motivieren, sind fehlgeschlagen.«
Der Rundgang näherte sich seinem Ende. Die meisten der Patienten, fand Dr. Vidal, waren ruhig, oftmals sogar apathisch: »Unauffällig« nannte man das in den Krankenakten. Ihre Gesichtszüge und Gestik wirkten erstarrt, beinahe wie eingefroren. Die Sprache derjenigen, mit denen er sich unterhielt, war monoton. Sie erinnerten Vidal an lebensgroße Puppen, die an unsichtbaren Fäden hingen und von einem ebenso unsichtbaren Spieler gelenkt wurden. Und doch verbarg sich hinter jedem einzelnen dieser Menschen ein oftmals schlimmes Schicksal, das ihn dorthin gebracht hatte, wo er sich heute befand.
Schließlich setzten sich Dr. Delgado und der neue Assistenzarzt im Büro des Leiters bei einem Kaffee zusammen, um weitere Details der Zusammenarbeit zu erörtern. Darüber verging die Zeit sehr schnell, und als Vidal die Klinik verließ, war es gerade sieben Uhr geworden. Er war sich darüber im klaren, dass die Arbeit für ihn nicht leicht sein würde. Es war eine Sache, Medizin zu studieren und eine gute Doktorarbeit zu schreiben, und eine andere, täglich mit dem Elend und oft genug auch mit dem Tod konfrontiert zu werden. Aber er hatte sich nun einmal für diesen Beruf entschieden und war entschlossen, sein Bestes zu geben.
Er hatte sich noch nicht weit von der Klinik entfernt, als er rechter Hand über den Bäumen die Spitze eines runden Turms aufragen sah. Auf der Herfahrt hatte er ihn nicht bemerkt. Unwillkürlich nahm er den Fuß vom Gaspedal. Alte Burgen hatten ihn schon immer interessiert, und Spanien war praktisch voll davon – schließlich war fast jeder Teil des Landes während der insgesamt fast acht Jahrhunderte währenden maurischen Besatzung irgendwann einmal Kampfgebiet oder Grenze gewesen.
Als er einen kleinen Waldweg entdeckte, der rechts abzweigte, bog er ohne zu zögern ab. Nach wenigen Dutzend Metern machte der Weg eine Biegung nach links und verlief dann parallel zur Straße. Nach weiteren 50 Metern wurde der Weg für einen PKW jedoch unpassierbar, so dass Dr. Vidal anhalten musste.
Er stieg aus. Die Straße war von hier aus nicht zu sehen; ein kleiner Hügel lag dazwischen. Ebenso wenig konnte er den Turm sehen, denn der Laubwald stand zu dicht, und von der Straße aus hatte er den Eindruck gewonnen, dass der Turm mindestens vier- oder fünfhundert Meter entfernt war.
Vidal überlegte kurz, dann entschloss er sich, den Turm zu Fuß zu suchen. Er hatte heute nichts mehr vor, und eine alte Burg in unmittelbarer Nähe seines neuen Arbeitsplatzes interessierte ihn brennend. Blieb nur die Frage der Richtung; zusätzlich zu den Bäumen behinderte eine Unzahl kleinerer Bodenwellen die Sicht und die Orientierung. Schließlich machte er sich achselzuckend auf den Weg; die ungefähre Richtung musste genügen. Auch wenn er nicht exakt auf den Turm zumarschierte, würde er ihm wohl nahe genug kommen, um ihn zu sehen.
Schon bald stellte er fest, dass es kein Spaziergang war. In dem mit vermodertem Laub bedeckten Boden sank er tief ein, und sein einziger Sonntagsanzug drohte unter zurückpeitschenden Ästen ernsthaften Schaden zu nehmen. Er war bereits drauf und dran umzukehren, als sich der Wald etwas lichtete. Er schritt schneller voran – und verlor im nächsten Moment den Boden unter den Füßen. Er stieß einen Schrei aus, warf die Arme hoch und versuchte sich instinktiv irgendwo festzuhalten, doch es ging alles viel zu schnell.
Zum Glück war sein Fall nur kurz und wurde durch weiche Erde abgemildert. Als er sich wieder aufgerichtet und vergewissert hatte, dass noch alle Knochen heil waren, sah er sich um. Er befand sich in einem gemauerten Gang. Seine Füße waren von lockerer Erde umgeben, die wohl im Laufe der Zeit von oben heruntergerieselt war – sie war es auch gewesen, die seinen Sturz glimpflich hatte enden lassen. Nicht weit über seinem Kopf befand sich das Loch, durch das er in den Gang eingebrochen war. Die Decke des Gangs bestand aus vermoderten Brettern, die wohl seinem Körpergewicht nicht mehr standgehalten hatten. Laub und Wurzeln hingen ein Stück weit in den Gang herunter. Gott sei Dank, dachte er, hier herauszukommen würde wohl kein allzu großes Problem darstellen.
Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, erwachte seine Neugier. Was war das für ein Gang? Woher kam und wohin führte er? Wie alt war er? Zumindest letztere Frage war nicht so leicht zu beantworten. Die Ziegel, die die Seitenwände des Gangs bildeten, sahen zumindest sehr alt aus. Und wohin der Gang führte? Vidal konnte nur wenige Meter weit sehen, aber es hatte den Anschein, dass der Gang in Richtung des Turms verlief. Wenn dies wirklich so war, dann handelte es sich wahrscheinlich um einen uralten Fluchtweg für die Burgbesatzung oder um einen Geheimgang, der zu einer Quelle führte – oder, oder, oder …
Vidals Entschluss stand fest: Er würde diesen Gang so bald wie möglich erforschen, was mit der geeigneten Ausrüstung kein großes Problem sein konnte. Schließlich hatte er sich oft genug in Höhlen herumgetrieben, auch solchen, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, und seine Höhlenforscherausrüstung war noch gut in Schuss, wenn sie auch in den letzten Jahren seines Studiums aus Zeitmangel immer seltener benutzt worden war.
Jetzt war es zwecklos weiterzugehen. Ohne Lampe konnte er sich nur schrittweise in der Finsternis vorantasten und riskierte dabei, in ein weiteres Loch zu fallen, aus dem er nicht mehr so einfach herauskommen würde. Er ergriff eine der herabhängenden Wurzeln, zog probeweise daran, und als er sicher war, dass sie in der Lage wäre, sein Gewicht zu tragen, umklammerte er sie mit beiden Händen, stützte sich mit den Füßen an der gemauerten Wand des Gangs ab und erreichte so wieder den festen Erdboden. Er atmete auf – und bekam einen ziemlichen Schreck, als er an sich heruntersah: Der Sonntagsanzug war hin! Auch eine gründliche Reinigung würde ihn wohl kaum mehr retten können. Ein teures Abenteuer … Na ja, in nächster Zeit würde er ihn wohl ohnehin nicht benötigen.
Ohne weitere Zwischenfälle erreichte er seinen Wagen. Während er langsam rückwärts zur Straße rollte, schwor er sich, bei nächster Gelegenheit mit seiner Höhlenforscherausrüstung zurückzukehren und dem Geheimnis des Gangs auf den Grund zu gehen.