Читать книгу Der Narrenturm - Tomàs de Torres - Страница 8

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Am Donnerstag hatte er immer noch nichts von dem Entführer gehört, und wenn er bislang unruhig gewesen war, begann er nun, nervös zu werden. Noch vor dem Frühstück lief er im Pyjama zum Briefkasten – wie vielleicht insgesamt fünfzigmal in den vergangenen drei Tagen –, doch in diesem befand sich, wie stets um diese Zeit, nur die Tageszeitung.

Während er lustlos auf einem Hörnchen vom Vortag herumkaute, blätterte er sehr sorgfältig und langsam die Zeitung durch. Früher hatte er nur die nationale und internationale Politik sowie den Wirtschaftsteil gelesen, aber seit Montag hatte sich das geändert. Nun ging er sehr viel gründlicher vor; den Polizeibericht verschlang er geradezu. Er wusste nicht genau, wonach er suchte; irgendeinen Hinweis auf den Entführer – oder auf María …

Aber natürlich würde er keinen finden; wie auch? Wenn Marías Leiche irgendwo auftauchte, wäre er der erste, den die Polizei benachrichtigen würde, noch vor der Presse.

Vorausgesetzt natürlich, man könnte sie problemlos identifizieren …

Eine Schlagzeile über einem kleinen Porträtfoto in einer Ecke des Lokalteils riss Miguel aus seinen düsteren Überlegungen.

»Junge Frau verschwunden«

Sein Herz schien stillzustehen, und für einen Moment tanzten schillernde Kreise vor seinen Augen, so dass er das Bild nicht genau erkennen konnte. Er zwang sich, ruhig und tief durchzuatmen, und endlich klärte sich sein Blick wieder.

Das Foto zeigte nicht María.

Es zeigte eine junge Frau, vielleicht 20 Jahre jünger als María. Eine blonde Frau mit kurzgeschnittenen Haaren, dunklen Augen, deren tatsächliche Farbe auf der Schwarzweißabbildung nicht zu erkennen war, und einem länglichen Gesicht.

Einem bekannten Gesicht!

Mit angehaltenem Atem verschlang Miguel den kurzen, danebenstehenden Text. Er besagte, dass eine gewisse Consuela S., wohnhaft in Girona, seit Sonntag abend oder Montag morgen abgängig sei. Ein Unfall oder auch ein Verbrechen könnten nicht ausgeschlossen werden. Für nähere Hinweise etc. pp.

Consuela!

Miguel kannte diese Frau sehr gut. Vor einigen Jahren war sie für María das gewesen, was Cristina jetzt war – ihre »Wochenendsklavin«. Allerdings nicht lange; nach wenigen Monaten bereits war sie nicht mehr gekommen, nachdem María es wohl einige Male mit ihr übertrieben hatte. Großes psychologisches Einfühlungsvermögen hatte noch nie zu Marías Stärken gehört.

Consuela!

Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie wütend María damals nach Consuelas letztem Anruf gewesen war. Sie hatte getobt! Wie konnte so eine Göre, eine Sklavin, es wagen, ihr den »Laufpass« zu geben? Drei Tage hatte es gedauert, bis María sich wieder beruhigt hatte – drei Tage, in denen er sich in seinem Büro möglichst unsichtbar gemacht hatte.

Consuela …

War ihr Verschwinden ein Zufall? So kurz nach Marías Entführung? Vermisst »seit Sonntag abend oder Montag morgen«!

Seltsamer Zufall.

Bestand ein Zusammenhang zwischen den beiden Entführungen? Denn obwohl die Zeitungsnotiz zurückhaltend formuliert war, bestand für Miguel kein Zweifel an der Tatsache, dass auch Consuela entführt worden war.

Vom gleichen Mann?

Der Gedanke lag nahe, aber nach einiger Überlegung nahm Miguel wieder davon Abstand. Marías Entführer war allem Anschein nach völlig fixiert auf ihn, Miguel, und seine Bücher. Die Tatsache, dass er einen »Exklusivroman« als Lösegeld verlangte, und nicht zuletzt das kindische Streben nach einer Widmung legten davon beredtes Zeugnis ab. Dass dieser Mann auch noch eine andere Frau entführte, ergab keinen Sinn.

Also doch nur ein zufälliges Zusammentreffen zweier Entführungen?

Miguel zuckte mit den Schultern. Es sah so aus. Und er wusste aus eigener Erfahrung: Das Leben war voll von verrückten Zufällen …

*

Die zweite Hälfte des Vormittags verbrachte er, wie an den vorangegangenen beiden Tagen, auf einem Küchenstuhl, den er so positioniert hatte, dass er die Zufahrt im Blickfeld hatte.

Die Zufahrt – und den Briefkasten.

Gegen Viertel vor zwölf endlich riss ihn ein Klappern aus der zweiten Lektüre der Morgenzeitung. Ramón, sein langjähriger Briefträger, wandte sich gerade wieder seinem geparkten Wagen zu.

Miguel fuhr so rasch auf, dass er dabei den Stuhl umwarf. Ungeduldig wartete er, bis Ramóns Wagen rückwärts um die Kurve verschwunden war, dann rannte er hinaus und öffnete den Kasten.

Ein brauner Umschlag im C4-Format!

Diesmal regulär zugestellt, ordnungsgemäß frankiert und an »Miguel Hermano, persönlich« adressiert.

Aber natürlich fehlte ein Absender.

Immerhin verdeckte ein Poststempel das halbe Antlitz von König Juan Carlos – und dieser Poststempel verriet, dass der Brief in Barcelona aufgegeben worden war.

Näher immerhin als die Philippinen, dachte Miguel. Erheblich näher!

Der Umschlag enthielt zwei ungefaltete Blätter: einen einseitigen Brief und eine Fotografie, wohl aus einem Farbdrucker stammend.

Eine Fotografie von María.

Sie zeigte Miguels Frau nackt auf eben jenem hölzernen Zwangsstuhl, den er im ersten Kapitel des »Narrenturms« beschrieben hatte: Ihre Arme waren mit dicken, dunkelbraunen Lederriemen an die Lehnen geschnallt; auf die gleiche Weise waren ihre Fußgelenke mit den Stuhlbeinen verbunden. Dies zwang ihre Füße in eine weit gespreizte Position, so dass der Fotograf – und damit auch Miguel – einen tiefen Einblick in jene intime Körperteile Marías erhielt, die sich meist unter einem dunkelbraun behaarten Dreieck verbargen.

Miguel knirschte mit den Zähnen.

Unterhalb von Marías bloßen Brüsten befand sich eine mindestens 15 Zentimeter hohe Ledermanschette, die vorne verschnürt war und die Marías Oberkörper fest an die hohe Lehne des Stuhls presste. Und in ihrem Mund befand sich abermals ein Knebel; wohl der gleiche, den sie auf dem ersten Bild getragen hatte. Ihre Augen blitzten den Fotografen in ohnmächtiger Wut an.

Miguel starrte das Bild lange an. Länger als nötig, denn plötzlich bemerkte er, dass er eine schmerzende Erektion hatte.

Er wandte sich dem Brief zu.

Lieber Sr. Hermano,

vielen Dank für die überaus prompte Zusendung des ersten Kapitels Ihres Romans – nein, unseres Romans! Allerherzlichsten Dank auch für die Widmung, die eine große Überraschung für mich war :-) Ich habe mich sehr darüber gefreut, wenn es auch natürlich schade, sehr schade ist, dass Sie nicht in der Lage waren, meinen richtigen Namen einzusetzen. Aber vielleicht können Sie das ja eines schönes Tages nachholen – später, wenn wir uns besser kennen!

Ich möchte den Anfang des Romans als vielversprechend charakterisieren; er macht, wie man so schön sagt, Appetit auf den weiteren Verlauf der Geschichte! Die Einführung der Hauptpersonen ist soweit in Ordnung; allerdings hatte ich mir, ich muss es gestehen, etwas mehr »action« versprochen. Sie wissen schon, was ich meine … Aber für ein erstes Kapitel war es wohl ganz »okay«. Bitte senden Sie die Fortsetzung möglichst umgehend!

Wie ich Ihnen bereits versprochen hatte, erhalten Sie anbei Ihrer Mühen Lohn: Ein Bild Ihrer Frau, das sie in dem von Ihnen beschriebenen Zwangsstuhl zeigt. Das sollte wohl genügen als Beweis, dass sie noch unter uns Lebenden weilt.

Apropos Lebende: Wenn ich in der Logdatei des »foolstower«-Webservers noch einen Eintrag – nur einen einzigen! – mit ihrer Rechneradresse finde, sehe ich mich zu meinem – und gewiss auch Ihrem – allergrößten Bedauern gezwungen, meine Drohung wahr zu machen und Ihre Frau aus dem Kreis der Lebenden in jenen der Verblichenen zu befördern! Und wie bereits in meinem ersten Schreiben angekündigt werde ich es dergestalt einzurichten wissen, dass die Exekutive unseres Staates zu dem Schluss kommen muss, auch in diesem Fall sei der Täter, wie so oft, der Ehemann des Opfers!

Mit den allerherzlichsten Grüßen

Ihr

GROSSER UNBEKANNTER

Mittlerweile konnten weder der Stil noch der Inhalt des Briefs Miguel überraschen. Auch die Tatsache, dass der Schreiber seinen Zugriff auf die »foolstower«-Website bemerkt hatte, war abzusehen gewesen. Da Miguel als Autor selbst eine Website betrieb, war er mit deren diversen Auswertungsmöglichkeiten vertraut.

Was ihn dagegen wirklich überraschte war das Bild: María in dem im Roman beschriebenen »Zwangsstuhl«! Niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass der Entführer über so ein Gerät verfügte. Handelte es sich dabei um ein altes Original oder einen modernen Nachbau? Aber auch ein Nachbau musste eine schöne Stange Geld gekostet haben, ganz abgesehen davon, dass man Leute, die in der Lage und willens waren, so etwas zu schreinern, nicht an jeder Ecke fand.

Schließlich erhob sich Miguel und ging hinauf in sein Büro. Er hatte für den Rest des Tages sowieso nichts vorgehabt, also beschloss er, sich an das zweite Kapitel zu machen. Möglicherweise würde er es sogar heute noch beenden können. Und je schneller er mit dem Roman fertig wurde, desto schneller würde er María zurückerhalten – lebend.

Hoffte er jedenfalls.

»Gefangen im Narrenturm«, 2. Kapitel

Die Gelegenheit, den neuentdeckten unterirdischen Gang zu erkunden, ergab sich bereits am Sonntag morgen. Nach seinem »Abenteuer« am Freitagabend hatte Alberto Vidal überlegt, ob er Dr. Delgado anrufen und ihm die Geschichte erzählen solle, sich dann aber dagegen entschieden. Er kannte seinen Vorgesetzten noch nicht gut genug, um dessen Reaktion vorhersagen zu können. Vielleicht fand er es unpassend, dass sein angehender Assistenzarzt sich aus purer Neugierde wie ein Wurm durch die Erde wühlte.

Also stellte er am Sonntagmorgen seinen Wagen auf dem Waldweg ab und vertauschte seine Straßenschuhe gegen ein Paar Gummistiefel. In weiser Voraussicht hatte er diesmal eine alte Jacke und verblichene Jeans angezogen; wenn diese Kleidungsstücke seine Expedition nicht überstanden, war nicht viel verloren.

Bevor er sich dem Gang widmete, wollte er den Turm aufsuchen. Langsam bahnte er sich seinen Weg durch den Wald, wobei er diesmal sehr sorgfältig darauf achtete, wohin er seine Füße setzte. Er war sich durchaus bewusst, dass er am Freitag sehr viel Glück gehabt hatte. Ebenso gut hätte er an einer Stelle einbrechen können, wo er nicht mehr herausgekommen wäre. Die Aussicht, langsam zu verhungern und zu verdursten, war alles andere als angenehm, und man würde ihn wahrscheinlich überall suchen, nur nicht hier, so nahe bei der Klinik. Der Wagen war von der Straße aus ja auch nicht zu sehen.

Es dauerte mehr als eine Viertelstunde, bis er auf den Turm stieß. Seiner Schätzung nach befand er sich etwa 500 Meter von der Straße entfernt. Es handelte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den ehemaligen Wohnturm einer kleinen Burg, denn von dieser waren weit und breit keine Überreste mehr zu erblicken. Der Turm war rund und aus Bruchsteinen erbaut. Vidal schätzte seinen Durchmesser auf 15 und seine Höhe einschließlich der noch erhaltenen Zinnen auf mehr als 30 Meter. Er mochte um das Jahr 1000 herum erbaut worden sein, war aber eindeutig in jüngerer Zeit restauriert worden. Kleine, schießschartenähnliche Fenster befanden sich erst im oberen Drittel des Turms. Auf der Südseite gab es in etwa einem Meter Höhe einen Eingang, zu dem eine verrostete Eisentreppe hinaufführte. Ohne zu zögern erklomm Dr. Vidal die Treppe, die in einer kleinen Plattform vor einer stabil aussehenden Holztür endete. Zwei große, alte Schlösser sicherten den Zugang. Probeweise rüttelte Vidal an den Schlössern, aber er sah beinahe sofort, dass hier ohne schweres Werkzeug kein Durchkommen war. So weit, die Türe aufzubrechen, konnte er natürlich nicht gehen.

Er umrundete den Turm abermals, konnte aber keinen weiteren Eingang entdecken. Aus verschiedenen Anzeichen schloss er, dass der Turm irgendwann im 19. Jahrhundert restauriert worden war. Mittlerweile bröckelten bereits wieder einige der Zinnen, und eine von ihnen lag gar auf dem Boden, etwa drei Meter vom Mauerwerk entfernt. Es war wohl nicht ganz ungefährlich, hier herumzustreifen. Vidal nahm an, dass der Turm schon lange nicht mehr benutzt wurde.

Nachdem er zu seinem Wagen zurückgekehrt war, machte er sich »höhlenfertig«: Er setzte einen Helm mit übergestreifter Elektrolampe auf, und an seinen Gürtel klinkte er eine große Taschenlampe. Über die Schulter hängte er ein acht Millimeter starkes und 40 Meter langes Seil. Als er gerade die metallene Strickleiter aufnahm, ertönte das SMS-Klingelzeichen seines Handys – er hatte wieder mal vergessen, das verdammte Ding auf Vibrationsalarm umzuschalten.

Er las die Nachricht: Der Astro-Service machte ihn im allmorgendlichen Horoskop darauf aufmerksam, dass er drauf und dran sei, eine Entdeckung zu machen, die einen nicht unerheblichen Einfluss auf seine Karriere nehmen könne. Er seufzte. Das war wieder mal so eine typisch sibyllinische Formulierung à la »Wenn du den Rubikon überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören …«!

Dr. Alberto Vidal hätte natürlich niemals öffentlich zugegeben, Horoskope zu lesen – sich selbst redete er ein, dass er allenfalls an solche glaubte, die Positives verhießen. Den Astro-Service hatte er abonniert, weil er im ersten Monat kostenlos war, und danach konnte er ihn ja wieder kündigen.

Das Loch, durch das Vidal am Freitag in den unterirdischen Gang gestürzt war, war gar nicht so einfach wiederzufinden. Als er es endlich entdeckt hatte, suchte er sich in der Nähe einen passenden Baum, an dem er das eine Ende der Strickleiter befestigte. Das andere warf er in das Loch. Bloß nichts mehr dem Zufall überlassen! Vorsichtig kletterte er hinunter und schaltete dann die Taschenlampe ein. Wie er bereits festgestellt hatte, bestanden die Seitenwände des Gangs aus offensichtlich sehr altem Mauerwerk. Die Ziegel fühlten sich feucht an, und auf dem naturbelassenen Boden des Gangs fanden sich einige Pfützen. Die Gummistiefel waren jedenfalls durchaus angebracht.

Wie er bereits zwei Tage vorher festgestellt hatte, wurde die Decke durch eine einfache Holzverschalung gebildet, die stark vermodert war. Der Gang war knapp mannshoch, so dass sich Dr. Vidal mit seiner stattlichen Größe etwas bücken musste. Die Breite betrug weniger als einen Meter.

Vidal leuchtete den Gang in beiden Richtungen aus. Bevor er herabgestiegen war, hatte er sich nochmals die Lage des Turms in Erinnerung gerufen, und er war nun überzeugt, dass der Gang in nördlicher Richtung mit diesem verbunden war. Wohin er in der anderen Richtung führte, ließ sich nicht sagen, und Vidal interessierte es im Moment auch nicht besonders. Sein Hauptaugenmerk galt dem Turm. Vielleicht gab es ja einen unterirdischen Zugang, der nicht verschlossen war.

Ein Schatten huschte an ihm vorbei. Mit einem erstickten Laut fuhr er herum und ließ den Lichtkegel tanzen. Dann ein Quieken: Ratten! Erleichtert lachte er auf. Vor ihnen hatte er keine Angst. Aber wenn er hier nicht mehr herauskäme, würden sich die Biester bestimmt über den unerwarteten Leckerbissen freuen …

Langsam folgte er dem Verlauf des Gangs in ungefähr nördlicher Richtung und zählte dabei seine Schritte. Er hatte diese Art der Entfernungsmessung schon lange nicht mehr angewandt, wusste aber, dass sie sehr verlässlich sein konnte, wenn man seine Schrittlänge kannte und sich ebenerdig und gleichmäßig bewegte. Er brauchte nur die Anzahl der Schritte mit siebzig Zentimeter zu multiplizieren, um auf die zurückgelegte Entfernung zu kommen.

Nach 362 Schritten, also etwa 250 Metern, erreichte er eine Stelle, an der nach rechts ein weiterer Gang abzweigte. Vidal blieb stehen und leuchtete den Seitengang aus. Er bog genau im rechten Winkel ab und verlief scheinbar ebenso schnurgerade wie der Gang, in dem er sich befand. Im Gegensatz zu diesem waren die Wände des abzweigenden Gangs aber nicht gemauert, sondern mit Holz verschalt. Und das Holz sah nicht so vermodert aus wie dasjenige, das die Decke des Hauptgangs bildete. Kein Zweifel: Der abzweigende Gang war entweder erheblich jünger als der andere, oder er war aus irgendeinem Grund restauriert worden.

Dennoch folgte Vidal dem Hauptgang in der Richtung des Turms; den Seitengang konnte er später immer noch erforschen. Zeit spielte im Moment ja keine große Rolle.

Wieder zählte er die Schritte. Diesmal kam er nur bis 217, was etwa 150 Metern entsprach, dann blockierte eine rostige Eisentür den Gang in seiner vollen Breite. Vidal überlegte. Der Turm mochte etwa 500 Meter von der Straße entfernt sein. Insgesamt hatte er bisher etwa 400 Meter unterirdisch zurückgelegt, und vom Parkplatz bis zur Einbruchsstelle waren es noch einmal etwa 100 Meter. Es konnte stimmen, auch wenn man berücksichtigte, dass die Einbruchstelle nicht genau auf der Geraden zwischen dem Parkplatz und dem Turm lag, sondern etwas westlich davon – so genau waren seine oberirdischen Schätzungen ja wegen des dichten Waldes und der unebenen Bodenbeschaffenheit nicht gewesen. Kein Zweifel, diese Tür führte in das Untergeschoss des Turms!

Vorsichtig drückte er die Klinke hinab und zog an der Tür: keine Reaktion. Er versuchte es erneut, fester. Wieder nichts. Entweder war die Tür abgeschlossen oder völlig zugerostet.

Enttäuschung machte sich in ihm breit. Der ganze Aufwand für nichts? Nochmals leuchtete er die komplette Tür ab, die trotz des Rosts einen sehr stabilen Eindruck machte. Nein, da war wohl wirklich nichts zu machen …

Überrascht hielt er inne, als er auf dem feuchten Erdboden einen scharfkantigen Schuhabdruck entdeckte – einen halben Schuhabdruck! Genauer gesagt: die hintere Hälfte mit dem Absatz; die vordere Hälfte befand sich jenseits der Tür, und damit im Turm! Vidal ließ sich in die Hocke nieder, um den Abdruck besser untersuchen zu können. Der Boden war an dieser Stelle sehr feucht, und wenn der junge Arzt es auch im Spurenlesen bestimmt nicht mit einem Indianer aufnehmen konnte, war er doch sicher, dass dieser Abdruck vor nicht allzu langer Zeit entstanden war – allerhöchstens vor ein oder zwei Tagen, denn sonst wären mindestens die Ränder unscharf geworden.

Im nächsten Moment schaltete er die Taschenlampe aus und richtete sich auf. Ein Geräusch! Er hielt den Atem an. Wenn jetzt die Tür aufging … Dann schalt er sich einen Narren. Wenn jetzt die Tür aufging, würde er sagen: »Gestatten, mein Name ist Dr. Vidal, und ich komme hier nur zufällig vorbei!« Oder zumindest so etwas ähnliches. Schließlich war es nicht verboten, in unterirdischen Gängen herumzumarschieren. Und üble Zeitgenossen pflegten sich darin nur in schlechten Romanen herumzutreiben … Dennoch hatte er ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube.

Das Geräusch – ein leises Schleifen – kam eindeutig von der anderen Seite der Eisentür. Und es kam näher. Es klang, als ob etwas in Richtung auf die Tür geschoben würde. Trotz seiner guten Vorsätze machte sich Dr. Vidal fluchtbereit – man konnte ja nie wissen!

Dann verstummte das Geräusch. Einen Moment lang herrschte Stille. Schließlich ertönte das Klirren eines Schlüsselbundes.

Kein Zweifel: Wer sich auch immer auf der anderen Seite der Tür befand, machte sich daran, sie zu öffnen!

Der Narrenturm

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