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Kapitel 5

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»Denver City College, Abteilung ehemaliger Studenten, mein Name ist Leslie, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Guten Tag, Leslie. Mein Name ist Mike. 1985 hat meine Schwester bei Ihnen ihr Studium abgeschlossen, und ich organisiere für sie ein Treffen ihrer ehemaligen Klasse. Unsere Eltern und ich möchten sie damit überraschen. Ist sie doch auch heute noch so ein Fan des Colleges! Sie können sich aber nicht vorstellen, wie schwierig es ist, nach so vielen Jahren alle ihre Kollegen und Kolleginnen zu finden. Mit vielen hat sie natürlich noch Kontakt, aber einige sind inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie mir eine aktuelle Adressliste der damaligen Klasse besorgen könnten. Haben Sie vielleicht in Ihrem Archiv auch noch Bildmaterial von damals, das ich zum Beispiel für die Einladung verwenden könnte?«

»Es tut mir leid, Mike, aber wir dürfen persönliche Daten und Adressen nicht ohne Weiteres herausgeben. Sie verstehen das sicherlich.«

»Ja, das verstehe ich, aber ich habe schon erfolglos bei Facebook, Xing, Linkedin und anderen Portalen gesucht. Ihre Liste ist unsere letzte Chance, die ganze Klasse zusammenzubringen. Es wäre doch schade, wenn einige davon nichts hörten. Meine Schwester wäre so enttäuscht.«

»Tut mir leid, ich kann das nicht ändern. Wir haben unsere Regeln.«

»Kennen Sie eine andere Möglichkeit, an die fehlenden Adressen zu gelangen?«

»Lassen Sie mich mal kurz überlegen. Ja, doch! Als ehemalige Studentin hat Ihre Schwester ein Login in das Intranet des Colleges. Dort findet Sie nicht nur Angaben zu ihrer Klasse, sondern auch Blogs und Hinweise zu interessanten Events. Ihnen kann ich aber leider nicht weiterhelfen, da Sie nicht bei uns studiert haben. Da muss schon Ihre Schwester ihre Login-Daten zur Verfügung stellen.«

Sackgasse. Mike legte das Telefon auf sein Pult und ging zum Kühlschrank in der kleinen Küche neben dem Wohnzimmer. Er war leer. Wie meistens. Er nahm sich vor, wieder einmal einkaufen zu gehen. Aus dem Türfach nahm er eine kalte Flasche Eistee und gönnte sich mehrere Schlucke daraus. Das College in Denver würde ihm nicht helfen, mehr über den ehemaligen Studenten zu erfahren, der jetzt, in einem Kühlfach von einer Videokamera überwacht, in Bern lag. Und doch war es die einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit. Diese Fährte durfte er jetzt unter keinen Umständen verlieren. Er schritt im Wohnzimmer hin und her und überlegte, wer ihm helfen könnte, doch noch etwas aus Denver zu erfahren. Als er den letzten Schluck aus der Flasche getrunken hatte, blieb er stehen und lächelte. Er warf die Flasche quer durch das Wohnzimmer in den Abfalleimer und setzte sich zuversichtlich zurück an sein Pult.

Vor dem Bildschirm lehnte er sich konzentriert nach vorn und öffnete im Browser seines Computers den Link http://www.spideronline.org/contact. Eine Webseite erschien mit schwarzem Hintergrund und einer ganz kleinen Zeichnung einer weißen Spinne oben links. Während in der Festplatte ein Kratzen zu hören war, drehte sich auf dem Bildschirm eine kleine Sanduhr. Dann erschienen zwei weiße, unbeschriftete Eingabefelder vor dem schwarzen Hintergrund. Er klickte das obere Feld an und tippte seine E-Mail-Adresse ein. Im zweiten Feld tippte er die Worte ›Spinnen schlafen nicht‹ ein. Kaum hatte er auf den Knopf ›Absenden‹ geklickt, erschien die Sanduhr wieder und nach wenigen Sekunden die Bestätigung ›Anfrage erfolgreich‹. Jetzt blieb ihm nur noch zu warten und auf eine Antwort zu hoffen. Er legte sich so auf die gegenüberliegende Couch, dass er den Bildschirm gut sehen konnte.

Vor zwei Jahren hatte Mike mit einem zweiteiligen Artikel über die neue Generation von Gefahren und Risiken im Internet seinen ersten journalistischen Erfolg gelandet. Mehrere Schweizer Tageszeitungen hatten den Artikel veröffentlicht, und dank einer deutschen IT-Fachzeitschrift wurde er auch außerhalb der Schweiz gelesen. Sicherheitsspezialisten hatten ihm geholfen, die technischen Grundlagen zu erarbeiten. Die brisantesten Informationen seines Artikels stammten jedoch von jemandem aus der Hackerszene, der sich als ›spider‹ ausgab. Ob es sich bei diesem Hacker um einen sogenannten ethischen Hacker handelte, der keinen Schaden anrichtete, oder ob es sich um jemanden handelte, der in Systeme einbrach, um Daten zu entwenden, und schädliche Viren und anderes mehr entwickelte, hatte Mike nicht wissen wollen. Er hatte mit spider immer nur online kommuniziert und wusste nicht einmal, ob es sich bei spider um eine Person oder um eine Gruppe handelte, im Internet anonym und versteckt zu einer Einheit vernetzt. Ein virtueller Partner irgendwo auf der Welt.

Er blickte auf den Bildschirm. Gab es diesen spider überhaupt noch? Würde er ihm antworten? Und wenn ja, konnte er ihm in Denver weiterhelfen?

Mike erwachte aus einem Traum, konnte sich aber an dessen Inhalt nicht erinnern. Er lag immer noch angekleidet auf der Couch. Im Licht des Bildschirms ging er durch das inzwischen dunkle Zimmer zu seinem Pult, um die eingegangenen Mails zu prüfen. Vor wenigen Minuten war tatsächlich eine Mail eingegangen. Er hatte den Piepston, den sie auslöste, im Schlaf nicht gehört. Er öffnete aufgeregt mit einem Doppelklick den Inhalt. Die Mail bestand aus einer einzigen Zeile, ein Link. Er klickte darauf. Ein Augenblick lang geschah nichts, dann hörte er die Festplatte des Computers arbeiten. Auf dem Bildschirm erschien ein Fenster mit der Frage ›Möchten Sie spider installieren?‹. Nach dem Klick auf ›ja‹ vergingen nur wenige Sekunden, bis sich ein Chatbereich auf dem Bildschirm öffnete. Der Cursor blinkte langsam im leeren Fenster. Mike schaute gespannt auf die ersten Buchstaben, die spider irgendwo in der Welt eintippte.

»Lange nichts mehr gehört, Mike.«

Mike zog die Tastatur näher an sich heran und antwortete schnell: »Hi spider. Brauche deine Hilfe, um einen Kriminalfall zu lösen.«

»Ruf die Bullen, tschüss.«

»Nein, warte. Ich brauche echt deine Hilfe.«

»Du hast 30 Sekunden.«

»Ich berichte über einen Mord und suche nach der Identität der Leiche.«

»Nicht so mein Ding. Warum steckst du da drin?«

»Polizei behauptet, der Mord hätte nie stattgefunden. Ich habe die Leiche aber gesehen. Etwas an der ganzen Geschichte ist faul.«

»Behörden vertuschen wieder mal etwas? Dann bin ich natürlich gerne dabei. Was kann ich tun?«

»Brauche Zugriff auf geschützten Intranetbereich des Denver City College, ehemalige Studenten.«

»Hmmmmm, ok. Melde mich in einer Stunde wieder.«

Nach 45 Minuten erschien die nächste Meldung von spider auf dem Bildschirm.

»Login: tarantula, Passwort: spinnennetz.«

»Was bin ich schuldig?«

»Entlarve die Vertuscher und schreibe darüber in der Zeitung. Geht zu Lasten des Hauses. spider :-)«

Die Website des Denver City College wirkte elegant und professionell. Im Hauptmenü am oberen Seitenrand wählte Mike den Bereich Intranet. Auf der neuen Seite schreckte eine Warnung über die Folgen unerlaubten Zugriffs alle ab, die hier nichts zu suchen hatten. Darunter lud ein Formular Mitarbeiter und ehemalige Studenten ein, sich anzumelden. Als Benutzer gab er das Wort tarantula ein, als Passwort das Wort spinnennetz. Jetzt würde sich zeigen, ob spider geliefert hatte.

›Welcome to the Alumni Intranet‹, wurde er begrüßt. Wie erwartet funktionierte das Login, das spider für ihn eingerichtet hatte. Wie spider auf einem fremden Webserver so schnell ein Login für ihn einrichten konnte, wusste er nicht. Es war ihm eigentlich auch egal. Hauptsache, er konnte jetzt auf die Daten zugreifen.

Auf der Seite erschienen in verschiedenen Blogs Beiträge zu bevorstehenden Anlässen, die ehemalige Studenten in verschiedenen Städten der USA organisierten, um das Netzwerk zu pflegen. Er musste sich durch mehrere Menüs klicken, bis er in den Bereich ›Yearbooks Online‹ gelangte, mit vielen Jahreszahlen als Links. Er wusste, dass amerikanische Schulen und Universitäten diese beliebten Schülerverzeichnisse mit Bildern und weiteren Angaben jährlich herausgaben. Er suchte das Jahr 1985 und klickte darauf. Auf dem Bildschirm erschienen Bilder und Namen und er begann, jeden Eintrag genau zu studieren, in der Hoffnung, einen der Studenten darin zu erkennen.

Die Anzahl Bilder schien Mike unendlich. Sportanlässe, Theateraufführungen, Ausstellungen. Er vergrößerte jedes auf dem Bildschirm und untersuchte jedes Gesicht von Nahem. Den Mann, den er suchte, erkannte er auf keinem der Bilder. Als er endlich zu Portraitaufnahmen der Studenten und Studentinnen gelangte, die er nicht vergrößern musste, kam er schneller voran, und es dauerte nicht mehr lange, bis er fündig wurde. Das Bild zeigte den Mann, zwar fast 30 Jahre jünger und etwas magerer, mit langen Haaren, aber Mike war sich sicher. Es war das Gesicht der Leiche in der Aare. Unter dem Bild stand der Name des jungen Studenten: Jason ›Jay‹ Briggs. Er starrte lange auf das Portrait, das die Leiche in eine Person mit Namen und Gesicht verwandelte. Begeistert suchte Mike im Yearbook nach weiteren Hinweisen zu diesem Briggs. Er gelangte zu den Gruppenbildern von Studenten und untersuchte jedes genau, doch vergeblich. Briggs erschien kein weiteres Mal. Auch nicht auf den Bildern der Abschlussfeier. Mike fragte sich, ob Briggs vielleicht sein Studium nie abgeschlossen hatte und den goldenen Abschlussring nur zur Show trug.

Der Erfolg im Intranet des Colleges hatte seinen Appetit nach mehr angeregt, so drehte er das Licht im Zimmer an, holte sich eine weitere Flasche Eistee aus dem Kühlschrank und suchte weiter. Jetzt, da er den Namen des Mannes kannte, würde die Suche einfacher, hoffte er. Seine Suche in Google lieferte über 700.000 Einträge für Jason ›Jay‹ Briggs. Auch nachdem er die Suche einschränkte, fand er keine Einträge, die zum Mann passten, den er suchte. Beim Durchblättern der Suchergebnisse fiel ihm der Link zur Studentenzeitung des Colleges auf. Er klickte darauf. Von der Denver College World waren alle Exemplare zurück bis 1965 digitalisiert worden und im Web öffentlich zugänglich. Er freute sich ob seines Glücks, wusste aber, dass die Suche nach Hinweisen in den vielen alten Exemplaren lange dauern würde und die Chancen auf Erfolg nicht besonders gut waren. Trotzdem machte er sich an die Arbeit und begann damit, die Ausgaben von 1985 zu durchsuchen. Danach ging er jeweils um einen Jahrgang zurück.

In der Ferne läuteten Kirchenglocken vier Uhr. Mike rieb sich die Augen und massierte seinen Nacken mit beiden Händen in der Hoffnung, die Kopfschmerzen zu lindern, die inzwischen in seinem Kopf dröhnten. Seit Mitternacht hatte er keine weiteren Informationen zu Briggs mehr gefunden, und jetzt war er müde, hungrig und unzufrieden. Wenn Briggs ganze vier Jahre am College verbracht hatte, musste Mike Exemplare der Studentenzeitung zurück bis 1981 durchforsten. Aus dem Jahr 1982 fehlten ihm nur noch wenige Ausgaben. Er streckte seine Arme aus und schüttelte die Hände. Trotz der Kopfschmerzen klickte er sich weiter durch die digitalisierten Ausgaben.

In der vierten Ausgabe, die er durchforstete, fand er zwischen Inseraten versteckt einen Artikel, der von der Wiedereröffnung eines Fraternity-Hauses auf dem Collegegelände berichtete, das von Studenten in Fronarbeit selbst renoviert worden war. Auf dem dazugehörenden Bild posierte eine Gruppe junger, stolzer Männer in Shorts vor dem weißen, neu gestrichenen Haus der Studentenverbindung, mit Pinseln und Eimern in den Händen. In der Liste der Namen der Männer unter dem Bild erschien der Name J. Briggs. Mike vergrößerte das Bild und schaute sich die jungen Gesichter an. Briggs war in der Mitte gut zu erkennen. Daneben stand ein breitschultriger, kahl rasierter Student, mit seinem Arm auf Briggs Schulter. Er musste sich im falschen Moment umgesehen haben, denn sein Gesicht war nach links gedreht und nicht zu erkennen. Der andere Arm hing locker an seiner Seite. Auf dem Unterarm sah Mike ein großes Tattoo. Er wusste sofort, dass er den Mann gefunden hatte, der mit Briggs im mexikanischen Restaurant in Bern gegessen hatte. Das Tattoo auf dem Unterarm war eindeutig. Er fand den Namen des Freunds von Briggs: Johnny Delaraza.

Begeistert suchte Mike weiter, fand jedoch keine weiteren Einträge über die beiden jungen Männer. Als Mike durch das Fenster die Umrisse des Nachbargebäudes im Licht des Morgengrauens erkennen konnte, schluckte er zwei Tabletten gegen die Kopfschmerzen, legte sich im Schlafzimmer angekleidet auf sein Bett und versank allmählich in einen leichten, unruhigen Schlaf.

In seinem Traum floh Mike durch einen unendlich langen, grauen Gang im Institut für Rechtsmedizin vor Laura. Je schneller er rannte, desto näher spürte er seine Verfolgerin hinter sich. Im ganzen Gebäude klingelten ohrenbetäubende Alarmglocken, und er konnte nicht verstehen, was Laura ihm zurief. Mit einem Ruck erwachte er. Die Alarmglocken klingelten weiter. Erst jetzt merkte er, dass es sein Handy war, das klingelte.

»Honegger«, antwortete er mit verschlafener Stimme.

»Herr Honegger? Es tut mir leid, Sie zu wecken. Mein Name ist Meyer-Lang.« Die Stimme am anderen Ende tönte verschwörerisch, fast als ob sie nicht zu laut werden durfte, als ob jemand das Gespräch unerlaubt überhören könnte.

»Meyer-Lang?« Er war aus seinem Albtraum noch nicht ganz erwacht und erkannte den Namen nicht sofort.

»Ja. Ich bin die Beamtin, die mit den Polizisten an die Aare kam, wo die Leiche gefunden wurde.«

Mike setzte sich auf den Bettrand.

»Woher haben Sie meine Nummer?«, fragte er überrascht.

Meyer-Lang wartete einen Moment mit ihrer Antwort.

»Herr Honegger, ich weiß, wie eine Nummer zu finden ist. Aber lassen wir das. Ich habe gehört, Sie wollten mehr über den Mord herausfinden und erhielten am Waisenhausplatz von der Polizei keine Antworten. Ich kann nur kurz mit Ihnen sprechen, also hören Sie mir jetzt bitte gut zu. Von ganz oben kam der Befehl, diesen Fall zu, wie soll ich sagen, zu … löschen. Der Befehl machte unmissverständlich klar: Die Leiche in der Aare wurde nie gefunden, denn es gab keine Leiche. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Und noch etwas, Herr Honegger, dieser Anruf fand nie statt, ok?«

Mike brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. Seine Kopfschmerzen halfen ihm dabei nicht.

»Ich verstehe, kein Problem. Warum fand er nie statt? Was soll das alles bedeuten?«

»Herr Honegger, passen Sie auf sich auf. Sie spielen mit dem Feuer. Lassen Sie die Angelegenheit lieber ruhen. Ich muss gehen, auf Wiedersehen.«

»Wie kann ich Sie erreichen?«

Jacqueline Meyer-Lang hatte bereits aufgelegt. Der Anruf war beendet.

Hatte sie ihn mit ihren letzten Worten lediglich warnen wollen oder hatte sie ihm soeben gedroht? Warum sollten ihn seine Recherchen in Gefahr bringen?

Er suchte im Handy nach eingegangenen Anrufen und war nicht überrascht, beim letzten Anruf den Eintrag ›Nummer unbekannt‹ zu finden. Wenn Meyer-Lang bei der Polizei arbeitete, warum hatte er sie dort nicht finden können? Wer war diese Frau? Warum hatte sie ihn angerufen?

Er legte sich wieder hin und hoffte, seine Kopfschmerzen würden endlich nachlassen. Mit geschlossenen Augen begann er die Ereignisse vor zwei Tagen an der Aare durchzugehen. Die Leiche, die Polizisten, Jacqueline Meyer-Lang, das Mädchen. Elvira. Mike sprang auf, packte seine Schwimmsachen in einen kleinen Sportrucksack und verließ seine Wohnung.

Er legte sein Badetuch am oberen Ende der Liegewiese in das noch feuchte Gras und setzte sich so darauf, dass er den Eingang in das Freibad Marzili gut überwachen konnte. Außer einer Gruppe pensionierter Männer und Frauen, die so früh am Morgen im Schwimmbecken Längen schwimmen wollten, trat niemand durch den Eingang. Mike nahm sein Handy in die Hand und rief Verena an.

»Warte, Mike, ich gehe schnell in einen der kleinen Anrufräume … So, jetzt bin ich im Rümli, und die anderen in unserem Büro können mich nicht hören. Du, Mike, der Werdenberger ist weiterhin verärgert und wiederholt, er sei froh, dich los zu sein.«

»Also erübrigt sich meine Frage, ob ich eine Chance auf Wiedereinstellung habe.«

»Ja, das ist so. Ich denke, du hast keine Chance. Du hättest wirklich an den Artikeln arbeiten sollen. Übrigens ist von der Polizei immer noch keine Meldung zu deinem Mann in der Aare eingegangen.«

Mike erzählte ihr kurz, was seit vorgestern geschehen war und was er herausgefunden hatte.

»Wow, Mike! Du hast Recht, da ist etwas faul. Bist du aber sicher, dass es sich lohnt, die Geschichte weiter zu verfolgen? Du hast bereits deinen Job verloren! Und all den Ärger nur, um am Schluss vielleicht einen Artikel über einen einfachen Mord zu veröffentlichen?«

»Ja, ich bleibe dran. Nachdem Werdenberger mich gefeuert hat, erst recht.«

»Du solltest damit aufhören und anstatt Klatschreporter zu spielen, lieber deine Bewerbung schreiben.«

»Nein, es gibt für mich kein Zurück. Der Fall sollte sowieso bald geklärt sein. Wirst sehen.«

»Also, du musst wissen, was du tust; aber pass auf dich auf, gell?«

Die ersten Familien ließen sich erst nach Mittag auf der Wiese nieder, wo sie ihre Picknicks ausbreiteten und mit ihren Kindern spielten. Gegen die Langeweile und um sich wieder etwas zu bewegen, spazierte Mike zwischendurch zur Aare und zurück, ohne den Eingang aus den Augen zu lassen. Gegen 15 Uhr betraten zwei Frauen und zwei Mädchen mit einem großen, roten Sonnenschirm und einem aufblasbaren Delfin unter den Armen die Wiese. Eines der beiden Mädchen trug eine rote Baseballkappe und blickte zu Mike, ohne ihn zu erkennen. Es war Elvira. Er wartete, bis sie sich in der Nähe der Außenduschen niedergelassen hatten und ging dann auf sie zu.

»Guten Tag, mein Name ist Mike Honegger. Ich war vor zwei Tagen dabei, als Elvira … als sie in der Aare etwas fand.« Elvira hatte ihn inzwischen erkannt und starrte ihn wortlos an. Er wollte niemanden erschrecken und wählte seine Worte vorsichtig. »Darf ich sie kurz etwas dazu fragen?«

Die jüngere der beiden Frauen antwortete ihm. »Ich bin die Tante von Elvira und glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Das Ganze war für sie ein Schock, den sie nicht wieder durchleben soll. Es ist besser, wir lassen die Angelegenheit ruhen. Lassen Sie uns bitte alleine.«

»Das verstehe ich gut, aber meine Frage ist sehr wichtig, glauben Sie mir.«

»Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei!«

Mike überlegte, ob er einen zweiten Anlauf riskieren sollte, als Elvira zu lächeln begann und zu ihm ging.

»Dieser Mann ist mein Freund. Er war sehr nett mit mir. Ich spreche immer mit meinen Freunden. Komm mit ins Wasser!«, sagte sie bestimmt und reichte ihm ihre Hand.

»Bist du sicher, dass du mit dem Mann sprechen willst, Elvira? Du musst es nicht, wenn du nicht willst«, sagte ihre Tante argwöhnisch.

»Ja, wir gehen jetzt zusammen schwimmen. Er mag nämlich Delfine, so wie ich. Jetzt habe ich auch noch einen großen dabei.« Elvira zeigte ihm den aufblasbaren Delfin und führte ihn an der Hand zum Planschbecken.

»Also, aber nur fünf Minuten. Ich werde Sie die ganze Zeit in den Augen behalten. Wehe, Sie tun dem Mädchen etwas an!«, drohte die Tante verärgert.

Mike setzte sich ins lauwarme Wasser des Beckens, das ihm sitzend bis knapp zum Bauchnabel reichte. Elvira stand vor ihm und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Was willst du mir sagen?«, fragte sie.

»Elvira, vor zwei Tagen hast du einen Mann im Wasser gefunden. Kann ich dich dazu noch etwas fragen?«

Anstatt zu antworten, blickte sie hinüber zu ihrer Tante auf der Liegewiese. Als Mike die Frage wiederholen wollte, schaute Elvira ihn wieder an und antwortete scheu: »Ja.«

»Hast du gesehen, wie der Mann, äh, wie der Mann ins Wasser fiel oder war er bereits im Wasser, als du deinen Ball holen gingst?«

Sie planschte mit den Händen und spritzte Mike nass.

»Er war im Wasser, weil der böse Mann ihn ins Wasser geworfen hat.«

Mike nahm Elvira an der Hand.

»Was sagst du da? Ein böser Mann? Welcher Mann war das?«

»Als ich den Ball hinter dem Busch suchte, sah ich, wie der böse Mann den anderen einfach ins Wasser schubste und dann wegrannte.«

»Hat der böse Mann dich gesehen?«

»Nein, ich war hinter dem Busch und er rannte dann einfach weg.«

»Kannst du mir sagen, wie der Böse aussah? Hast du sein Gesicht und seine Kleider gesehen?«

Elvira tauchte mit dem Kopf ins Wasser. Als sie den Kopf wieder aus dem Wasser hob, fuhr sie fort.

»Ich denke unter Wasser immer gut, weißt du? Das musst du auch einmal versuchen.«

»Das werde ich auch mal versuchen. Hast du dich unter Wasser an etwas erinnern können?«, fragte Mike ungeduldig.

»Ja, klar. Unter Wasser kann man sich immer an alles erinnern. Der Mann war groß und böse. Er hatte keine Haare und eine große Zeichnung auf seinem Arm. Ich zeichne auch gerne in der Schule. Aber auf Papier. Meinem Papa gefällt es nicht, wenn ich auf die Hand zeichne.«

»So, genug jetzt!« Mike hatte nicht bemerkt, dass die Tante am Beckenrand stand und mit einem bösen Blick auf ihn herabschaute. »Lassen Sie das Mädchen endlich in Ruhe! Elvira, komm aus dem Wasser, und zwar sofort! Wir gehen ein Eis kaufen.«

Elvira kreischte vor Freude und ging zu ihrer Tante.

»Danke ihr beiden«, sagte Mike. »Danke, Elvira. Du bist ein tolles und mutiges Mädchen!«

Mike konnte sein Glück nicht fassen. Elvira hatte soeben Johnny Delaraza beschrieben. Sie hatte gesehen, wie er Jay Briggs in die Aare geworfen hatte. Johnny Delaraza musste Jay Briggs ermordet haben.

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