Читать книгу Aareschwimmen - Tony Dreher - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеMike drückte auf den Klingelknopf der Gegensprechanlage neben der verschlossenen Glastür des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern und blickte in das schwarze Auge der Kamera über dem Lautsprecher.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, tönte eine blecherne Stimme aus der Anlage.
»Mein Name ist Mike Honegger. Ich bin Journalist und recherchiere einen Todesfall von gestern. Die Leiche wurde von der Polizei hierher geschickt. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen zum Opfer stellen.«
Mehrmals klickte es aus dem Lautsprecher, als ob die Frau am Empfang mehrere Anläufe nehmen musste, eine Antwort zu formulieren.
»Es tut mir leid, ich kann Sie nicht hereinlassen. Wir geben der Presse hier keine Auskünfte. Stellen Sie Ihre Fragen bitte schriftlich an unsere Abteilung Kommunikation. Die hilft Ihnen gerne weiter.«
Ein letztes Klicken aus dem Lautsprecher signalisierte das Ende des Gesprächs. Durch den Besuchereingang würde Mike nicht ins Gebäude gelangen.
Er folgte der Gebäudefront rechts um die Ecke und blickte auf die gesamte Länge des dreistöckigen, grauen Gebäudes. Eine breite Rampe neben den Treppen führte der Seite entlang hinunter zu den tiefer gelegenen Eingängen der verschiedenen Institute, die im Gebäude untergebracht waren und vor denen Studenten auf Treppenstufen saßen und den warmen Mittag genossen. Links unter ihm, am vorderen Ende des Gebäudes, stand ein Servicewagen einer Liftfirma vor einem breiten, offenen Tor, das in eine Werkstatthalle führte. Zwei Techniker in Overalls lagen mit geöffneten Oberteilen auf der Laderampe in der prallen Sonne. Mike stieg die Treppen hinunter, grüßte die beiden selbstsicher beim Vorbeigehen und betrat die Werkstatthalle, wo er nach dem Eingang ins Gebäude suchte. Er hatte Glück. Um die Sicherheitstür, die ins Innere des Gebäudes führte, nicht jedes Mal elektrisch vom Empfang aus öffnen lassen zu müssen, hatten die beiden Techniker sie mit einem Holzbalken blockiert. Als er sich ihr näherte, drehten Sensoren das Licht im langen grauen Gang dahinter automatisch an. Über die Treppe am Ende des Gangs gelangte er ins Erdgeschoss. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel, die Wände zeigten blanken Beton, der Boden war mit billigem Linoleum belegt. Die Gänge im Erdgeschoss wirkten so düster und farblos wie die im Untergeschoss. Nur die eingravierten Metallschilder neben den Türrahmen wiesen auf den Standort hin. Aus einem der Räume drangen Stimmen und Gelächter. Den Schildern mit Namen von Mitarbeitern nach schien es sich in diesem Trakt um Büroräumlichkeiten zu handeln. Am Ende des Gangs bog Mike links in einen nächsten Gang ab.
Die Beschriftung neben der ersten Tür, T4.101 Pathologie, Raum C, half ihm nicht weiter. Als er zur nächsten Tür wollte, hörte er hinter sich den Glockenton des Lifts. Eine kräftige Frau in hellblauen Latzhosen, mit einem langen schwarzen Zopf, rollte ihren Putzwagen aus dem Lift vor sich her und pfiff dabei leise ein Lied. Im Wagen türmten sich Putzmittel, Lumpen, Kehrichtsäcke und Schwämme durcheinander.
»Kann ich helfen Ihnen, junger Mann?« Spanierin oder Italienerin, dachte Mike.
»Ja, mein Onkel ist seit gestern verschwunden, und die Polizei will uns nicht weiterhelfen. Anscheinend ist aber ein Mann gestern tot aufgefunden und hierher gebracht worden. Ich hoffe, es handelt sich nicht um Hans-Jörg.« Er inszenierte eine Tränenpause. »Meine Mutter würde das nicht ertragen.«
»Dios mío, qué terrible«, antwortete die Frau. »Sie müssen holen Bewilligung von Behörden, sonst keine Informationen hier.«
»Das habe ich ja bereits versucht, aber es dauert mindestens drei Tage, bis mein Antrag bearbeitet wird. Sie wissen ja, wie langsam Behörden arbeiten.« Er schaute sie so traurig an, wie er konnte, und schämte sich gleichzeitig, diese Frau anlügen zu müssen.
»Ja, ich kenne, von Aufenthaltsbewilligungsbüro. Ei, ei, ei. Aber bevor ich in Schweiz kam, war Leben noch voller von Bürokratie. Hier besser, weniger Bürokratie.« Sie lächelte ihn an und zeigte dabei ihre schneeweißen Zähne.
Mike schielte auf das Schild an ihren Kleidern. »Hören Sie, Laura, ich kann meine Mutter nicht drei Tage lang leiden lassen. Sie müssen mir helfen! Bitte.«
Sie schaute ihn voller Mitleid an und zeigte mit ihrem Blick zu einer Tür neben dem Treppenhaus.
»Kommen Sie! Aber Chef nichts erfahren, sonst ich wieder ohne Job«, flüsterte sie konspirativ.
Die Tür, die sie mit ihrem Schlüssel öffnete, führte in einen kleinen, fensterlosen Raum. Von den beiden Neonröhren an der Decke warf nur noch eine etwas hellgraues Licht auf das Reinigungsmaterial, das hier in Schachteln gelagert wurde, aufgereiht in Metallgestellen, die vom Boden bis zur Decke reichten.
Sie schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor ihn. »Ja, gestern haben gebracht Mann. Ist Sissi-Mann.«
»Sissi-Mann?«
»Ja, habe gehört, dass Mann erstochen in Herz mit dünne Nadel oder Feile. Wie Kaiserin Sissi in Genf, als sie auf Schiff ging. Bei Sissi zuerst niemand gesehen, das war Mord. Sie haben Film gesehen?«
»Nein, den Film habe ich nie gesehen. Nur davon gehört.«
»Sie verpassen gute Film, wirklich. Mit hübscher König Franz-Joseph, eh!«
Mike kam wieder auf sein Anliegen zurück.
»Können Sie mir die Leiche zeigen?«
Sie starrte ihn mit großen Augen an und fragte: »Ich, Leiche zeigen?«
»Ich muss wissen, ob es sich beim Mann um meinen Onkel Hans-Jörg handelt. Für meine Mama. Hoffen wir, dass er es nicht ist!«
Laura schüttelte heftig ihren Kopf, sodass ihr langer Zopf hin und her schwenkte. »No, das unmöglich. Ganz unmöglich. Toter jetzt in Kühlraum, mit Kamera kontrolliert. Dass Tote mit Kamera kontrollieren, ist komisch, no? Die gehen ja sicher nicht mehr weg aus Kühlraum! Aber ich habe Toter vor Operation auf Tisch gesehen. Es war weißer Mann mit schwarzen Haaren und große Bauch. Zu viel mexikanisches Essen gegessen.« Sie lächelte wieder.
»Mexikanisches Essen?«
»Ja, habe gehört, wie Arzt hat auf Protokoll diktiert.« Sie wurde wieder ernst und flüsterte: »Magen mit mexikanischem Essen voll. Bohnen, Mais, Tortillas und so. Nicht appetitlich hier arbeiten, aber Lohn für putzen besser als zu Hause sitzen.«
»Ein Mann mit schwarzen Haaren, sagen Sie?« Mike täuschte Erleichterung vor und hielt beide Hände hoch. »Das ist nicht Hans-Jörg! Mein Onkel hat ganz blonde Haare, er kann es nicht sein. Oh, Mama wird überglücklich sein.«
Laura freute sich mit Mike und öffnete ihre schwarzen Augen weit. Mit einem herzlichen Lächeln fuhr sie fort.
»Gracias a dios! Bin froh um Sie. Ist gut für Mama und Familie.«
Mike wollte die Gutmütigkeit dieser Frau nicht überstrapazieren und wusste, im richtigen Moment mit seinem Spiel aufzuhören.
»Laura, Sie sind eine gute Frau. Ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben! Auf Wiedersehen.«
»Adios, junger Mann. Sie auch guter Mensch sein. Ich so spüren. Hoffentlich kommt Hans-Jörg bald zurück! Und aufpassen, Sie nicht hier sein dürfen!«
Mike verließ das Gebäude durch die Werkhalle, froh, niemandem zu begegnen. Die Lifttechniker auf der Laderampe genossen weiterhin ihre Mittagspause und beachteten ihn nicht. Inzwischen waren dünne Schleierwolken am Himmel aufgezogen, durch die das Sonnenlicht milchig wirkte. Der Nachmittag war jedoch weiterhin angenehm warm, und Mike schlenderte in Gedanken versunken gemütlich durch das Länggassquartier in Richtung Bahnhof.
Endlich hatte er Fakten in der Hand. Die Leiche eines Mannes, höchstwahrscheinlich des Toten in der Aare, lag mit einer Nadel oder einer dünnen Feile erstochen im Institut. Mike erinnerte sich an den Ring, den er am Toten gesehen hatte. Der Ring … ja, wie hatte er dieses Detail nur vergessen können. Solche Ringe kannte er aus den USA. Abschlussringe von Colleges und Universitäten. Viele Amerikaner tragen solche Ringe und drücken damit ihren Stolz auf ihren Titel und auf ihre Alma Mater, ihre Ausbildungsstätte, aus. Mike hatte am Ring an der Leiche auf der einen Seite die Buchstaben B.A. gelesen, auf der anderen Seite die Jahreszahl 1985. Der Name des Colleges umgab das goldene Siegel in der Mitte des Rings: Denver City College. Der Mann hatte also 1985 mit einem Bachelor of Arts im Denver City College abgeschlossen. In Europa kennt man solche Ringe nicht. Die Leiche war mit großer Wahrscheinlichkeit die eines Amerikaners, folgerte Mike. Natürlich nur unter der Annahme, dass er wirklich seinen eigenen Ring trug. Als letzte Mahlzeit vor dem Tod hatte er ein mexikanisches Gericht eingenommen. Das konnte zwar irgendwo gewesen sein, Mike kannte aber mehrere mexikanische Restaurants in der Stadt. Er rechnete nicht damit, dort auf Hinweise zum Toten zu stoßen, wollte es aber trotzdem versuchen.
Am Bubenbergplatz kannte er das ›El Ranchero Mexicano‹. Er überquerte den Platz zwischen Trams, Autos und Velos und stieg die Treppe hinauf zum Eingang des Restaurants im zweiten Stock des hässlichen, modernen Bürogebäudes. Ein mit Klebestreifen befestigtes, handgeschriebenes Papier an der Tür neben alten Konzert- und Theaterprogrammen wies auf die Öffnungszeiten hin. Betriebsferien von Mitte Juli bis Mitte August, dann offen Dienstag bis Freitag, abends. Enttäuscht verließ er das Gebäude wieder und blickte über den Platz auf das Denkmal an Adrian von Bubenberg, der in der Schlacht von Murten 1476 gegen Karl den Kühnen gesiegt hatte. Einen Geschichtsprofessor als Vater gehabt zu haben, hinterließ so seine Spuren, schmunzelte er.
Mike ging zurück über den Bahnhofplatz und entlang der von alten Gebäuden und schönen Lauben flankierten Spitalgasse. Auf der rechten Seite, in einem der Keller, befand sich das ›El Bandido Sucio‹. Der Geruch der feinen mexikanischen Spezialitäten drang bis zur Straße und verführte nicht wenige Passanten zum Essen. Das Restaurant war bis auf einen Tisch voll besetzt. Er fragte einen Angestellten, der dabei war, frische Chips und Salsa den Gästen zu bringen, ob er sich an einen Amerikaner erinnern könne, der vorgestern im Restaurant gegessen hatte, und beschrieb den Mann.
»No, lo siento. Es waren keine Amerikaner oder Engländer hier. Ich arbeitete den ganzen Abend, wie immer. Nur Schweizer oder Deutsche und einige Latinos.«
Enttäuscht stieg Mike die steile Treppe aus dem Keller hinauf auf die Straße und begab sich zum dritten mexikanischen Restaurant. Dieses kannte er gut, denn er hatte dort schon mehrmals gegessen. Es lag in der unteren Altstadt, unweit der Aare, in der Nähe des Bärenparks.
»Ja, ich kann mich erinnern. Vorgestern war das. Ich arbeite hier so oft ich kann, um Geld zu verdienen. Damit helfe ich, mein Studium zu finanzieren. Dort drüben saßen die beiden Amerikaner, am Vierertisch.« Die junge Frau mit den Sommersprossen, die ihr rotes Haar in einem Knäuel zusammengebunden trug, zeigte zu einem Tisch, über dem ein farbiger Sombrero an der Wand neben einer Werbetafel für Tequila hing. »Es waren zwei Herren. Einer hatte schwarze Haare, der andere eine Glatze. Der mit der Glatze hat mir ein besonders gutes Trinkgeld bezahlt. Deshalb kann ich mich an sie erinnern. Amerikaner sind mit Trinkgeldern immer sehr großzügig, wissen Sie.«
Mike sprach die junge Frau mit Du an.
»Ist dir an den beiden irgendetwas Besonderes aufgefallen?«
»Nein, nur dass sie miteinander Englisch sprachen und gegen Ende des Abends recht laut wurden. Sie stritten sich um irgendetwas. Worum es bei der Diskussion ging, weiß ich nicht. Das Restaurant war ausgebucht, und wir hatten mit mehreren großen Gruppen alle Hände voll zu tun. So, jetzt muss ich mich bereit machen, bald treffen die ersten Gäste zum Abendessen ein.«
Als Mike weggehen wollte, sprach sie ihn noch einmal an.
»Ah, etwas habe ich noch vergessen. Der Mann mit der Glatze trug auf dem rechten Arm ein großes Tattoo. Ein riesiger Dolch deckte fast seinen ganzen Unterarm ab. Darum herum wickelte sich eine Schlange. Dann stand noch irgendetwas geschrieben, ich konnte es aber nicht lesen.«
Mike bedankte sich und machte sich auf den Weg nach Hause.