Читать книгу Aareschwimmen - Tony Dreher - Страница 6

Kapitel 1

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Um sich im erfrischenden Nass abzukühlen, war Mike seit dem Sprung flussaufwärts in die Aare unter Wasser geschwommen, und seine Lungen verlangten jetzt ultimativ Sauerstoff. Hätte er die Luft noch etwas länger anhalten können, hätte sich sein Leben an jenem Nachmittag nicht für immer verändert. Er hob seinen Kopf aus dem Wasser und zog die ersehnte, frische Luft tief in sich hinein. Die heiße Augustsonne brannte hoch am Himmel, und das Gold der Verzierungen an den Kuppeln des Bundeshauses über dem Freibad Marzili blendete ihn mit grellem Sonnenlicht. Als er mit gefüllten Lungen wieder unter Wasser tauchen wollte, schreckte ihn der schrille Schrei einer Frau auf. Er drehte seinen Kopf nach links. Am Ufer stand eine Gruppe Menschen in Badekleidern in einem Halbkreis herum. Die Strömung trieb ihn schnell an der Stelle vorbei, und er musste sich umdrehen, um zurückzuschauen. Einige im Halbkreis zeigten auf etwas im Wasser, das er nicht sehen konnte, andere hielten sich entsetzt die Hände vor den Mund. Jemand stützte eine Frau, die ohnmächtig zusammenzubrechen schien. Die Frau, die geschrien hatte? Mike zögerte nicht. Er schwamm mit voller Kraft quer zur Strömung ans Ufer und konnte sich im letzten Moment beim Vorbeitreiben mit der ausgestreckten linken Hand am rostigen Geländer einer Treppe festhalten. Tropfend nass stieg er die rutschigen Zementstufen zum Uferweg hinauf, dem er flussaufwärts zum Ort des Geschehens folgte, während er mit häufigem Hüpfen versuchte, den Schmerz des brennend heißen, groben Kies unter seinen Füßen zu lindern.

Inzwischen standen etwa zwei Dutzend Personen im Halbkreis am Aare-Ufer und blickten ins Wasser.

»Was ist denn geschehen?«, fragte er in die Runde.

»Jemand hat einen toten Mann im Wasser gefunden«, antwortete eine alte, magere, aber sportlich wirkende Frau, die sich sichtlich freute, die Geschichte bereits ein erstes Mal weitererzählen zu können.

»Schon wieder? Gerade vorgestern ist doch ein Jugendlicher etwas weiter flussaufwärts ertrunken«, erinnerte sich Mike.

»Ja, das war aber anders. Der vorgestern, der war ein besoffener Jugendlicher. Selbst schuld, wenn sich Schüler am Nachmittag bei den Lehrkräften krankmelden, um sich dann als lebende Alkoholflaschen vom Schönausteg ins Wasser zu stürzen.« Die Frau schüttelte energisch ihren Kopf. »Nein, dieser hier ist kein Jugendlicher, und er liegt angekleidet im Wasser. Einfach so, tot. Mehr weiß ich auch noch nicht. Aber eines kann ich Ihnen bereits jetzt sagen.« Sie näherte sich, blickte verschwörerisch zu ihm hinauf und flüsterte, »an dieser Sache ist etwas faul. Oh ja, das ist es! Wissen Sie, so etwas spürt man in meinem Alter einfach.«

Sie drehte sich schnell wieder von ihm ab und spähte zwischen den herumstehenden Menschen zum Wasser, um nichts zu verpassen. Mike drängte sich nach vorn.

Zwei weißhaarige Männer mit während Jahren sonnengebräunter, runzliger Haut und Bäuchen, die über ihre unanständig kleinen Badehosen hingen, hatten soeben den leblosen Körper eines Mannes aus dem Wasser gehoben und unsanft ins Gras gelegt. Das triefende, weiße, langärmlige Hemd des Toten war über der Brust aufgerissen und entblößte eine bleiche, leicht behaarte Brust. Vielleicht hatte einer der beiden Männer die Leiche daran aus der Aare gezogen und es zerrissen, spekulierte Mike.

»Tun Sie doch etwas! Beatmen Sie ihn Mund-zu-Mund! Vielleicht können Sie ihn doch noch retten«, kreischte eine Frau.

Die beiden weißhaarigen Männer verdrehten gleichzeitig ihre Augen.

»Glauben Sie mir, dieser Kerl lebt nicht mehr. Er atmet nicht, und Puls hat er auch keinen«, sagte derjenige, der neben der Leiche kniete. »Rufen Sie lieber die Polizei. Die Leiche zu beatmen bringt nichts mehr, dazu ist es zu spät. Aber nur zu, falls Sie es versuchen möchten.«

Ein Raunen ging durch die Gruppe, und die Vorschläge aus der Runde verstummten. Der Gedanke, eine nasse Leiche zu beatmen, war für ein junges, verliebtes Paar neben Mike doch etwas zu makaber. Beide schnitten eine Grimasse und liefen Hand in Hand eilig flussaufwärts davon. Erst jetzt fiel Mike hinter den Herumstehenden das kleine Mädchen auf, das mit dem Rücken an einen Baum angelehnt alleine im Gras saß. Es hielt beide Arme um seine angezogenen Knie und schluchzte leise vor sich hin.

Erst als er vor ihm niederkniete, schaute es unter seiner roten Baseballkappe auf. Er zeigte mit dem Finger auf das Badekleid des Mädchens und sagte mit sanfter Stimme: »Das ist aber ein schönes blaues Badekleid, das du da trägst. Mir gefällt der Delfin darauf. Delfine sind meine Lieblingstiere.« Es hörte auf zu schluchzen und musterte ihn mit seinen blaugrünen Augen.

Er setzte sich zu ihm ins Gras und sprach weiter. »Ich heiße Mike. Wer bist du?«

»Ich bin das Mädchen, das den Mann im Wasser gefunden hat«, antwortete es scheu.

Mike rückte näher.

»Was? Was hast du?«

»Ich habe den Mann da gefunden.«

Es zeigte mit seinem rechten Zeigefinger mitten in die Menschenmenge.

»Wie hast du ihn denn gefunden?«

»Ich habe Ball gespielt und bin dann meinem Ball nachgerannt, denn ich wollte nicht, dass er in den Fluss rollt. Dort, hinter dem Busch, ist er stehen geblieben. Als ich ihn aufnehmen wollte, sah ich … dann sah ich … den Mann …« Es begann wieder zu schluchzen.

»Du sahst den Mann im Wasser liegen?«, fragte Mike erstaunt.

Es zog seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht und antwortete nicht. Mike sah den Schock des Erlebten in sein zartes Gesicht geschrieben.

»Wie heißt du denn? Wie alt bist du?«, fragte er, als es sich etwas beruhigt hatte.

»Ich heiße Elvira und bin«, es schaute ihm in die Augen und hielt ihm seine kleine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern entgegen. »Ich hatte letzte Woche Geburtstag und jetzt bin ich schon groß.«

»Wo sind denn dein Papa oder deine Mama?«

Es senkte seinen Blick zum Boden. »Ich habe keine Mama mehr«, antwortete es traurig. »Meine Tante liegt auf der großen Wiese in der Sonne. Sie hat gesagt, ich darf nicht weit weggehen. Jetzt muss ich zu ihr zurück, sonst schimpft sie mit mir.«

Er bot ihm seine Hand an. »Komm, gehen wir zusammen. Ich begleite dich gerne zurück zu deiner Tante.«

Elvira stand auf und kreuzte demonstrativ beide Arme vor ihrem Körper. »Mein Papa sagt mir immer, dass ich nicht mit Fremden gehen darf. Ich darf auch nicht mir dir gehen, denn du bist ein Fremder. Ich gehe alleine zurück. Das kann ich schon, denn ich bin jetzt schon«, sie hielt ihm wieder ihre Hand mit fünf ausgestreckten Fingern entgegen.

»Warte! Ich habe noch Fragen und würde gerne mit dir weiterplaudern«, versuchte Mike sie aufzuhalten.

»Nein. Ich muss jetzt zurück.«

Bevor Mike noch etwas hinzufügen konnte, rannte sie bereits weg zur großen Liegewiese des Freibads, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er verlor sie in der Menge der sonnenbadenden Familien aus den Augen.

Eigentlich hätte er den ganzen Nachmittag im Marzili verbringen wollen, musste aber bald ins Büro. Nur Hans Werdenberger, sein Ressortleiter, konnte am Nationalfeiertag der Schweiz eine Sitzung auf 16.30 Uhr festlegen, dachte er verärgert. »Keine Diskussion, Honegger«, hatte er ihn gestern mit erhobenem Zeigefinger gewarnt und ihn mit runzliger Stirn und großen Augen über seine Lesebrille angestarrt. »Ich erwarte Sie morgen pünktlich um halb fünf in meinem Büro. Die Welt steht auch an einem Feiertag nicht still! Zeigen Sie mir dann, wie weit Sie mit den Artikeln zur Geschichte der Berner Vororte sind. Sie schreiben jetzt schon lange genug daran. Zu meiner Zeit hätte ich als 25-Jähriger wie Sie die acht Artikel bereits nach einer Woche abgeliefert. Und das mit Schreibmaschine getippt, ohne Computer und Wikipedia! Bis Ende der Woche will ich die Serie endlich fertig sehen oder Sie bekommen noch mehr Ärger mit mir!«

Mike blickte auf seine Uhr. Kurz vor vier Uhr. Er musste sich spätestens jetzt umziehen, um noch die geringste Chance zu haben, rechtzeitig vor Werdenberger zu erscheinen. Die Zeit würde schon so knapp.

Vor ihm bot sich aber eine einmalige Gelegenheit. Als erster und einziger Journalist vor Ort über den Fund einer Leiche in der Aare zu berichten – nein, diese Gelegenheit durfte er wegen einer Sitzung mit seinem Chef doch nicht vergeben. Er musste unbedingt herausfinden, was sich am helllichten Tag hier ereignet hatte und durfte nichts verpassen, was ihm dabei helfen würde. Er blickte auf seine Badehose. Sein Handy, sein Portemonnaie und seine Schlüssel hatte er in einem Schließfach bei der Kasse am Eingang des Freibads eingeschlossen. Sein Handy zu holen, um Werdenberger anzurufen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Wieder zögerte er nicht. Der Anruf musste warten. Mike würde hier bleiben und verspätet bei Werdenberger erscheinen.

Inzwischen war die Anzahl der Gaffer etwas zurückgegangen. Sie hatten den Toten gesehen, der Kick war vorbei. Die verbleibenden hielten respektvoll Abstand von der Leiche, die jemand mit einem großen Badetuch zugedeckt hatte. Niemand beachtete Mike, als er sich ihr näherte. Das grüne Badetuch wölbte sich über den Bauch des toten Mannes wie ein kleines Zelt. Er schmunzelte, als er die Werbeaufschrift unter dem Logo eines bekannten Matratzenherstellers auf dem Tuch las, ›für den ewigen Schlaf …‹. Ja, dachte er, dieser Mann hatte in der Aare tatsächlich seinen ewigen Schlaf angetreten. Wer war er? Niemand schien ihn zu kennen. Hatte er einen Herzschlag erlitten? Dann wäre er nicht ins Wasser gefallen. War er Nichtschwimmer und versehentlich ins Wasser gefallen? Nicht am Uferweg der Aare.

Die beiden Dickbäuchigen standen im Schatten eines Baums und rauchten gemütlich eine Zigarette. Auch sie beachteten Mike nicht, so kniete er vor der Leiche nieder und inspizierte den linken Arm, der vom Badetuch nicht verdeckt war. Um sein Handgelenk trug der Mann eine Uhr und am Ringfinger einen großen goldenen Ring. Mike studierte den Ring genauer, ohne den Toten zu berühren.

»Treten Sie weg da!«

Er erschrak ob der lauten, tiefen Stimme und blickte auf. Von ihm unbemerkt hatten uniformierte Polizisten damit begonnen, bis zur Ankunft des kriminaltechnischen Diensts die Neugierigen zurückzudrängen und die Stelle abzuschirmen. Ein großer, athletisch wirkender Polizist mit breiten Schultern postierte sich vor ihn.

»Treten Sie weg, habe ich gesagt!«, brüllte er.

Mike stand auf und nahm einen Schritt zurück.

»Haben Sie die Leiche gefunden?«, doppelte der Polizist nach.

»Nein.«

»Was tun Sie dann hier?«

»Ich, äh, bin Journalist«, antwortete Mike verlegen.

Der Polizist starrte ihn an, als ob er eine ausführlichere Erklärung von ihm erwartete. Mike kam nichts Besseres in den Sinn als zu ergänzen, »ich wollte eigentlich nur schwimmen.«

Der Polizist blickte auf seinen inzwischen trockenen Körper. »Also gut. Treten Sie weg! Aber bleiben Sie trotzdem in der Nähe! Wir brauchen noch Ihre Personalien.«

Mike trat wieder zurück unter den Baum, an dem er mit Elvira gesprochen hatte, und verfolgte das Geschehen um die Leiche.

Eine Frau in Jeans und einer farbigen Bluse stieß zu den beiden Polizisten, die neben der Leiche standen und jetzt ihre Blicke auf die Frau richteten. Eine modische dunkle Brille verdeckte ihre Augen.

»Kunz, entfernen Sie das Badetuch!«, befahl sie dem kleineren der beiden, der sofort gehorchte.

Das muss die Mitarbeiterin des kriminaltechnischen Diensts sein, die jetzt die Spuren sichern wird, dachte Mike.

Eine Weile lang stand sie regungslos da, ihr Blick auf die Leiche gerichtet. Dann zog sie aus ihrer linken Hosentasche ein Paar Einweghandschuhe hervor, die sie über ihre Hände stülpte, und kniete nieder, um die Leiche näher zu untersuchen. Sie durchsuchte gewandt die Brusttasche des zerrissenen Hemds sowie die Hosentaschen, schien darin aber nichts zu finden. Als Nächstes beugte sie sich ganz nahe über die bleiche Brust des Mannes und inspizierte sie lange. Mike konnte die Augen der Frau hinter der dunklen Brille nicht sehen und erkannte nicht, was sie so lange interessierte.

Aus ihrer hinteren Hosentasche zog sie ein kleines, digitales Diktiergerät hervor und sprach hinein.

»Jacqueline Meyer-Lang, Bericht zum Fund einer männlichen Leiche in der Aare, Freibad Marzili, unterhalb des Restaurants Dampfzentrale. Der Mann ist etwa 40, leicht übergewichtig, schwarze Haare, rundliches Gesicht, in weißem Hemd und Jeans. Er trägt schwarze Lederschuhe. In den Kleidungsstücken kein Ausweis. Am linken Ringfinger trägt er einen großen goldenen Ring. Keinen Ehering, sondern einen Ring mit einem Siegel. Am linken Handgelenk eine einfache digitale Uhr. Sonst keine persönlichen Gegenstände. Außer einer kleinen Wunde in der Herzgegend sind keine äußerlichen Verletzungen festzustellen.«

Sie verstaute das Diktiergerät in ihrer Hosentasche und zog die Handschuhe von ihren Händen.

»Kunz, kümmern Sie und Ihre Männer sich um die Spurensicherung. Ich will Fußabdrücke, Zigarettenstummel, Kaugummis, einfach alles, was für unsere Ermittlungen relevant ist. Dokumentieren Sie die Stelle und fotografieren Sie die Leiche und die Umgebung. Lassen Sie sie zur Obduktion ins Institut für Rechtsmedizin der Uni bringen. Befragen Sie die Leute, die hier herumstehen, und nehmen Sie ihre Personalien auf. Bis 18 Uhr will ich Ihren Bericht vorliegen haben.«

Sie drehte sich auf der Stelle um und ging davon.

Die meisten Gaffer wollten nicht freiwillig von der Polizei vernommen werden und versuchten, sich unauffällig zu entfernen. Die Polizisten riefen sie aber zurück und begannen mit der Befragung.

Als der Bestattungswagen mit der Leiche langsam davonrollte, blickte Mike auf seine Uhr und realisierte, dass er heute Werdenberger im Büro nicht mehr treffen würde. Er wusste, wie wütend dieser reagieren würde. Sein Entscheid, an der Aare zu bleiben, würde ihn teuer zu stehen kommen. Wenn er morgen Werdenberger noch beichtete, dass seine Artikelreihe noch lange nicht fertig war, würde er das Fass zum Überlaufen bringen. Die einzige Chance, sich zu retten, lag darin, ihm morgen einen erstklassigen Artikel über den Fund in der Aare vorzulegen und zu hoffen, er würde ihm wegen des verpassten Termins vergeben.

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