Читать книгу Birdie - Tracey Lindberg - Страница 11
ОглавлениеBernice besitzt zwei Paar Schuhe. Sie findet, dass Schuhe eine Menge über ihre Besitzer verraten. Sie hat ein Paar Sneaker für die Arbeit und ein Paar High Heels, die sie in einem Laden der Heilsarmee gefunden hat. Beide erfüllen einen Zweck. Keins der beiden Paare, findet Bernice, verrät irgendetwas über sie, außer wie sie ihre Zeit verbringt. Über die meisten Leute verraten Schuhe eine Menge, findet Bernice.
Wie sie ihre Zeit verbringt, ist ihr immer öfter ein Rätsel. Stunden verrinnen, ohne dass sie es mitbekommt. Ab und zu ertappt sich Bernice dabei, dass sie so still und stumm dasitzt, als würde sie schlafen. Aber das ist es nicht. Sie weiß nicht genau, was sie da tut, aber was sie nicht tut, weiß sie ziemlich sicher. Und. Schlafen. Tut sie nicht.
Dass etwas mit ihr passierte, sagte ihr anfangs nicht ihr Kopf, sondern ihr Körper. Manchmal bekam sie Krämpfe in den Beinen. Davon, dass sie zu lange unbeweglich dagesessen hatte. Oder. Vielleicht. Von der Kraft, die es kostete, nicht zu sein, wo sie war. Sie wusste es nicht. Manchmal passierte es, wenn sie nicht allein war. Auch dann wusste sie nicht, was sie tat, aber fast immer bekam sie den Moment mit, in dem sie »zurückkam«. Wenn sie es tat. Damals, als sie es noch tat. Dann schnipste jedes Mal ein ungeduldiger, unfreundlicher Jemand mit den Fingern, stieß mit dem Fuß nach ihr oder schrie sie, einmal zumindest, an. (»Ey, Matschbirne, ich rede mit dir!«)
Manchmal saß sie (reglos, vermutlich) so lange in der Kälte oder im Wind, dass ihre Narben knittrig und ihre Augen trocken wurden.
Damals, als sie noch zurückkam, setzte sie sich öfter in den Park, schaute den Fischerbooten zu und blickte über das aufgewühlte Wasser. Unbeweglich und bewegt zugleich, saß sie einfach nur da, schaute und starrte sich in ihre Zeit hinein. Das war nichts für zu Hause. In Edmonton hätte sie es nie probiert. Aber Gibsons ist gerade so sicher. Genug.
Den meisten Menschen, denkt sie, wäre diese … diese Leere ihres Selbst beunruhigend oder erschreckend vorgekommen. Bernice nicht. Die Leere, die sie verspürte, war irgendwie anziehend; sie verschluckte alles um sie her und machte sie leichter. Jetzt, in ihrem Bett, betrachtet sie diese Phase als die Zeit, in der sie zu verschwinden lernte. Es wurde Teil von ihr, eine langsame Veränderung, breitete sich aus, bis alles in ihr beweglich und biegbar wurde: Erinnerungen. Schlimme Gedanken. Die Zeit. Es war, wie wenn ein Stein über das Wasser springt, deshalb erschrickt sie nicht einmal, als sie untergeht. So lange ist schon alles seltsam, dass sie nicht ansatzweise sagen könnte, wie sich Normalität anfühlt. Aus ihrer Zeit zu sich selbst zurückzukommen, das fühlte sich normal an. Dieses Gefühl war das eine, aber wenn sie dann zerkratzte Fußsohlen oder blaugeschlagene Hände hatte oder als sie das eine Mal mit Blut im Mund, aber ohne Verletzungen zurückkam, da fragte sie sich schon, wo sie gewesen war. An jenem Tag, dem letzten Tag mit den Booten auf dem Wasser, schaute sie an sich herab und entdeckte in ihren vernarbten und frisch verschorften Händen einen Notizzettel:
Muskeg
Grapefruit
Zitrone
Kumin
Es ist nicht ihre Handschrift. Ist es nie. Allerdings würde sie ihre eigene Handschrift auch nicht mehr erkennen. Mit den Pflastern an den Fingern wäre ihr das Schreiben sowieso schwergefallen. Bevor sie untergegangen ist, hat eine Art Pilz ihre Haut besiedelt. Erst wurden die Stellen wund und bildeten Krusten. Jetzt, im Licht ihres Zimmers, ähneln sie dem Blasenrost, der sich zu Hause an die Stämme der Küsten-Kiefern heftet. Als es anfing, zupfte und kratzte sie die raue, schrundige Haut säuberlich erst nur von den Ellbogen, dann von den Waden, Knien, Hüften, dem linken Schenkel und neuerdings von den Fingern. Die immer wieder abgepellte und nachgewachsene Haut ähnelt jetzt nicht mehr einer frisch verheilten Verletzung. Sie sieht aus wie ein geschältes Stück Grapefruit, bei dem das Gewebe mit seinen säuberlich geordneten Schichten bloßliegt. Anstatt dass die Pusteln sie ihrem Körper entfremden, fühlt Bernice sich wohler in ihrer Haut. Als passte sie jetzt besser dazu, wie sie sich darunter anfühlt.
Je mehr sie kratzte, desto schneller schien der Pilz sich auszubreiten. Ihr machte das nichts aus; sie kommt sich wohnlich vor. Fühlt sich begehrt. Vor allem fühlt sie, dass aus ihr etwas wird. Irgendetwas. Neues.
Es war nicht einfach, ihre Hände vor Lola zu verbergen, und jetzt ist sie erleichtert, dass sich niemand mehr für so etwas wie wunde Stellen interessiert. Bevor sie – sich veränderte? Erkrankte? Unterging? Davor hat sie sich morgens für die Arbeit die Finger verbunden, lange Ärmel getragen, Lola die Seite ihres Halses ohne Ausschlag zugewandt und gehofft, dass es ihr nicht auffiel. Bernice hasst Konflikte, und Lola hätte ganz sicher ein Problem damit gehabt, dass sie mit ihren braunen und schreiend roten Händen das Gebäck, den Teig und die Rührschüsseln berührte. Lola hat zu allem eine Meinung und hätte garantiert nicht gezögert, sie ihr zu sagen. Bernice schaudert – von außen betrachtet wirkt es wie ein kleiner Tremor –, bei dem Gedanken daran, was Lola davon halten würde, dass sie nur wegen der Strandpiraten-Serie nach Gibsons gekommen ist.
Sie weiß selbst nicht, wann diese … diese Obsession, muss man wohl sagen, angefangen hat. Irgendwann jedenfalls im Laufe ihres Lebens (vor der Academy, vor den Ingelsons, vor Edmonton und lange vor Gibsons) ist Pat John ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Nicht dass sie es je übertrieben hätte, das nicht. Sie findet ihn einfach richtig nett. Dass er zum Beispiel Verwandte als Komparsen eingeschleust hat, wenn sie bei den Strandpiraten mehr Indianer brauchten.
Wie alle anderen auch, lernte sie ihn beim Serienstart Anfang der Siebziger als Jungen mit dürren Armen und abgeschnittenen T-Shirts kennen. Sie wartete darauf, dass er sich verlieben würde, was er nie so richtig tat. Und ja, auch in den Achtzigern hatte sie ihn im Blick, als er sich anscheinend nur noch von Zucker und Stärke ernährte. Aber aufgeblüht war ihre Liebe zu Pat John, als er den jungen Jesse spielte. Zwanzig Jahre älter als sie, aber nicht unerreichbar: ein gesunder indianischer Mann mit einem festen Job.
Deswegen also ist sie hier gelandet, in Gibsons, B.C. Oder besser gesagt hat sie es Lettie aus Sechelt zu verdanken. Letties Mann war zur selben Zeit in der Anstalt wie Bernice. Die beiden hatten ihr in der mintgrünen Cafeteria beim Mittagessen etwas Räucherlachs angeboten, und obwohl sie kein Wort gesagt, sondern nur zugehört hatte, bekam Bernice mit, dass sie in Sechelt lebten. Nach ihrer Entlassung und als sie wusste, was zu tun war, erschien es ihr naheliegend, bei ihnen anzuklopfen. Ob Lettie es seltsam fand, dass eine massige Cree-Frau, die nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte und im Vorjahr mit ihrem Mann in der Psychiatrie gewesen war, plötzlich vor ihrer Tür stand, war ihr nicht anzumerken. Sie (ihr Mann war auf Fischfang) bat Bernice herein, gab ihr Fisch und Bannockbrot zu essen und war froh, jemanden zum Reden zu haben. Wenn Lettie einkaufen ging, putzte oder kochte, beschäftigte Bernice die Kinder. Trotz ihres Schweigens und obwohl sie in dieser Zeit lernte, ihren Körper zu verlassen, schätzte Lettie ihre Gesellschaft. Einmal nahm Lettie sie mit zum Sechelt Inlet, und während die Kinder herumtobten, ließ Bernice das Wasser, die Berge, die Luft auf sich wirken. Es roch so frisch. Den Geruch von Luft und Wasser, Tier und Leben hatte sie ganz vergessen.
Letties Leute wohnten über vier kleine Dörfer verteilt, ein Reservat konnte man es kaum nennen. Viele der Männer arbeiteten als Fischer oder für Fischereien, und einige Frauen hatten wie Lettie Jobs in der Stadt. So sehr es Bernice dort gefiel und so sehr die Kinder an ihr hingen, sehnte sie sich doch manchmal nach Ruhe. Sie war ein bisschen erleichtert, als Letties Mann heimkehrte. Für sie war es das Zeichen, weiterzuziehen. Ihr war sowieso nicht wohl dabei, mit ihm unter einem Dach zu wohnen, also fuhr sie am nächsten Tag auf Jobsuche nach Gibsons. Ein Aushilfe-gesucht-Schild in einem blitzsauberen Schaufenster, auf dem in geschwungenen Lettern »Lola’s Little Slice of Heaven« stand, wies Bernice nicht nur den Weg zu einem Job, sondern auch zu einem neuen Zuhause. Lola ließ Bernice zur Probe ein Blech Kekse backen, dann stellte sie sie ein und bot ihr auch an, über dem Laden zu wohnen. Dass Bernice beim Bewerbungsgespräch nur stumm lächelte und nickte, schien sie nicht zu stören; wahrscheinlich hatte sie es nicht einmal bemerkt. Lola war, wie sich herausstellte, ziemlich geschwätzig. Also zog Bernice in die Wohnung über dem Café um (mit der Aer-Lingus-Tasche, einer Posterrolle und einem abgewetzten Koffer, der den Charme eines ausrangierten Sofas hatte). Genau drei Monate waren vergangen, seit sie die Anstalt hinter sich gelassen hatte. Drei Monate unterwegs. Drei Monate seit ihrem Traum.
Der Traum. In dem Traum hatte Jesse, Pat John, aus einem Baum einen Ring geschnitzt und sie eingeladen, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Am Morgen nach diesem Traum hatte sie die Klinik verlassen. Und weil in Gibsons das Molly’s Reach stand, in dem Jesse in der Serie arbeitete, war sie jetzt dort.
Sie weiß, dass sie Glück hatte, diesen Job zu bekommen, besonders, weil Lola in ihrem Little Slice of Heaven nie viel mit »Brownies« zu tun bekommen hatte, wie sie alle Menschen nannte, die ebenso spärlich pigmentiert waren wie Bernice. Es war sogar erträglich. Sie musste Lola allerdings ins Gewissen reden, ihre »Süßen Squaws« in Karamell-Cremeschnitten umzubenennen. Und Lola war gar nicht, oder eigentlich doch, so schlimm, wie man hätte meinen können. Aber Bernice findet, dass Lola ein großes Herz und ein Händchen für Zahlen hat. Diese Eigenschaften kann man anerkennen, denkt sie, ohne sie deshalb gleich zum Abendessen einladen zu müssen. Solchen Lolas ist sie schon öfter begegnet. Sie trugen andere Namen und waren manchmal sogar Männer, aber es war trotzdem ein und dieselbe Person. Lolas waren immer ganz fasziniert von ihr, weil sie noch nie echte Indianer kennengelernt hatten.
Wie fasziniert sie wohl wäre, wenn sie wüsste, dass ich keine elf war, als mich zum ersten Mal jemand gefickt hat?, denkt Bernice. Dass ich täglich gekifft habe, dass ich jeden einzelnen Roman von Jackie Collins gelesen habe, auch die schlechten? Nein, ihr geht es nur um die edle Wilde.
Einmal hatte Lola sie sogar als »stoisch« bezeichnet. Bernice hatte gelacht, eine freundliche Grimasse geschnitten und der alten Schnepfe in den Kaffee gespuckt, sobald die sich dem Telefon zugewandt hatte.
Ihre kurze Zeit in der Bäckerei ist also nicht reibungslos verlaufen. Aber sie sagt sich immer wieder, dass sie mit einem festen Ziel hergekommen ist und dass sämtliche Entbehrungen es eines Tages wert sein werden. Manchmal malt sie sich die Szene aus – Jesse, wie er auf ein Stück Mokka-Käsekuchen oder einen Snack vorbeikommt. Später korrigiert sie sich in Gedanken – bloß, weil er in Gibsons gearbeitet hat, ist nicht gesagt, dass er auch dort wohnt.
Aber vielleicht kommt er ja mal zu Besuch, denkt sie.
Meistens jedenfalls stellt sie sich vor, wie er allein im Jeep unterwegs ist und gegenüber im Starbucks einkehrt (der Bens Café Bean There, Done That ersetzen müsste). Er ist dann kurz davor, wieder in den Jeep zu steigen, als er unwillkürlich einen Blick in Lolas Bäckerei wirft. Er überquert die Straße mit demselben Gesichtsausdruck wie damals, als er beschlossen hatte, das Molly’s Reach hinter sich zu lassen. Ernst und entschlossen, so las Bernice diesen Blick. Ernst und entschlossen betritt er Lolas Bäckerei.
Ratlos und zerrissen (was beinahe so gut ist wie ernst und entschlossen) tritt er mit dem Kaffee in der Hand über die Schwelle. In den Strandpiraten war er nie ratlos oder zerrissen, aber es ging ihr ja auch um den echten Menschen. An der Stelle unterbrach sie sich immer, weil sie für Pat John, wie er heute aussehen müsste, nichts empfindet. Sie ist so alt, wie er es beim Serienstart war. Heute muss er fünfundvierzig oder fünfzig sein, wenn nicht älter.
Sie hat mit niemandem über die Sache mit Jesse geredet. Klar, ihre Familie wusste Bescheid – wegen der akribisch eingehaltenen Sendezeiten und ihrer Postersammlung. Aber sonst ahnte niemand etwas von ihrer Liebe zu Jesse. Am allerwenigsten die Jungs, mit denen sie damals ausging. Wenn einer von ihnen die Haare lang trug, kniff sie manchmal die Augen halb zu und schaute durch die bewimperten Schlitze, und dann sah er fast ein bisschen aus wie Jesse in dieser einen Folge, in der er zwei ganze Sätze aufsagen durfte. Zwei Verben und sogar ein Adverb.
In Gibsons gibt es niemanden, der Jesse ähnelt. Hier sind alle stark gebräunt – viel dunkler als Bernice. Und alle haben gute Zähne. Lola hat gesagt, in Gibsons sei Fluorid im Wasser, und oben im Norden wäre das vermutlich anders. Bernice nimmt sich immer vor, irgendjemanden danach zu fragen, aber das geht nicht. Sie will Auntie Val nicht noch mehr Kummer machen – die war schon völlig fertig, als Bernice gegangen ist. Als der Entschluss gefasst war, hat sie nur die Bilder von Jesse von den Wänden genommen, die sie seit ihrem elften Lebensjahr besitzt (und die sie von der Eingangstür des CBC Edmonton hat mitgehen lassen), hat ein paar Sachen eingepackt und war weg.
Wenn sie jetzt daran denkt, wie sie sich fühlte und wie sie die Sachen packte, um Pat John näher zu sein, kommt sie sich albern vor. Schließlich muss er inzwischen ein alter Mann sein. Würde sie die Augen öffnen, könnte sie ihn vom Bett aus auf einem der Poster sehen. Es hängt an den ehemals kahlen Wänden der kleinen Wohnung über der Bäckerei.
Als sie dort ankam, hatte die Wohnung eine Verschönerung bitter nötig. Bernice zögerte, bevor sie die Bilder aufhängte – sie fragte sich, ob die Poster das Problem waren oder ob erst das Problem da war und dann die Poster. Eine Ordnung hineinzubringen war nicht einfach, und Bernice fragte sich, ob sie eine Zukunft vorwegnahm, in der sie die Poster nicht mehr haben wollen würde, oder ob sie sie brauchte wie ein Nachschlagewerk.
Eins ist dabei, von dem sie gleich wusste, dass sie es nicht aufhängen würde, das sie noch nie aufgehängt hat – Jesse in einer Folge von 1983, in der er aus lauter Wut auf Relic auf eine Wand eingedroschen hat. An die Folge und die ganze Staffel erinnert sie sich deutlich, weil die Serie von dem Jahr an eine halbe Stunde später gesendet wurde. Bernice musste immer noch zu ihrem Onkel, obwohl ihre Mom nicht mehr zum Makramee ging. Jetzt fuhr sie sonntags stattdessen mit Auntie Maisie zum Bingo, während Onkel Larry allein auf Bernice aufpasste. Ihre Mutter und Tante steckten in jenem Jahr in einer Pechsträhne. Von dem Makramee-Kurs waren nur knubbelige Wandbehänge, knubbelige Blumenampeln und knubbelige Platzdeckchen geblieben. Bernice’ Dad war längst weg, und sie verbrachte viel Zeit in Gedanken an die Cunninghams, die Partridges und die Bradys. Ihre weiße Haut, ihre weißen Zähne und ihre makellosen weißen Wände.
Das war das Jahr, in dem Onkel Larry mehr von ihr wollte, als dass sie auf seinem Schoß saß und sich befingern ließ. Daher fragte sie sich, ob die Fotos von Jesse wegen ihres Onkels da hingen oder ihm zum Trotz. Oder damit etwas Befremdliches sich normaler anfühlt. Aber das glaubte sie nicht; sie weiß, dass daran überhaupt nichts normal war, nicht an der Sache und nicht an ihm.
Nicht an Denen.
Ein leiser Seufzer entweicht ihr, wie wenn ein Baby träumt. Sie stellt sich vor, wie er mit einem dumpfen Schlag neben dem Bett auf dem Boden auftrifft.
Einmal, als Maggie sie nach dem Bingo abgeholt hat – im Winter, glaubt sie –, hat Maggie Bernice angeschaut und sie gefragt, ob alles okay sei. Bernice hat auf dem gesamten Heimweg kein Wort mit ihr geredet. Von da an weigerte sie sich, das Haus ihrer Onkels zu betreten, egal, wie sehr ihre Mutter sie drängte. Eine Zeit lang ging sie regelmäßig zu ihren Nachbarn, Mr und Mrs Olson. Mr Olson brauchte einen Urinbeutel zum Pinkeln, der war also in Ordnung. Irgendwann musste ihre Mutter Bingo aufgeben und alles andere auch. Larrys Frau, Auntie Maisie, kam eine Weile später, um mit Bernice zu reden. Sie schenkte ihr ein Tiger-Beat-Heft mit einem Fonzie-Poster. Das Heft hatte sie in einen nachgebauten kleinen Briefkasten der Canada Post gesteckt. Vermutlich waren solche Kästen nach Weihnachten bei der Post im Sonderangebot gewesen. Als Bernice sah, dass das Ding abschließbar war, schleuderte sie es in ihrem Zimmer zu Boden, so sehr empörte es sie, dass ihre Tante Larrys Geheimnis-Tuerei scheinbar mittrug.
Jahrelang stand der Briefkasten in einer oberen Ecke ihres Schranks. Er war schwer und aus Metall – heutzutage wäre so etwas wohl aus Plastik. Irgendwann nahm Bernice ihn herunter, schloss ihr Tagebuch darin ein und hängte sich den Schlüssel um den Hals. Und irgendwann später war sie aus der Sache herausgewachsen.
Jetzt habe ich wohl größere Geheimnisse, denkt sie.
Manchmal macht es sie noch immer wütend, dass seine Frau ihr dieses Geheimnis-Geschenk gemacht hat. Dann wieder beschließt sie, nicht so hart zu ihr zu sein. Es kann nicht sein, denkt Bernice, dass eine Frau von so etwas weiß und dann nichts tut. Männer hat sie mehr oder weniger abgeschrieben, aber für Frauen hält sie in ihrem Herzen noch immer einen Platz frei.
Bei der Arbeit in Lolas Laden hat sie sich manchmal gefragt, was passiert wäre, wenn sie damals schon mit Schlachtermessern hätte umgehen können. Dann verdrängte sie den Gedanken; das musste sie, denn sonst zitterten ihr die Hände, und sie musste ihren Inhalator benutzen. Aber was auch immer das war, es verzog sich meistens wieder.
Tja, meistens.
Sie steigt die Treppe hoch, mit wummerndem Herzen. Ihr Kopf fühlt sich wattig an, ihr Brustkorb prallvoll. Sie probiert, an drei Dinge zu denken, wie sie es in der Anstalt gelernt hat. Drei Dinge, die sie beruhigen sollen. Etwas, das sie hört: Das Brummen der Klimaanlage, die in der Wohnung die Hitze von den Öfen mildert. Etwas, das sie sieht: Die Posterrolle im obersten Schrankfach. Etwas, das sie fühlt: Das Schlachtermesser, das da, wo sie sitzt, ihre Matratze ausbeult. Sie beruhigt sich kein bisschen.
1Traum
2Leben. Kurz für: Baum des Lebens