Читать книгу Dave Gahan - Trevor Baker - Страница 8

Оглавление

Dave wusste zwar, dass Vince unglücklich war, doch er wusste nicht, wie sehr ihn die Ereignisse durcheinander gebracht hatten. Vince war stets ein wenig introvertiert gewesen. Obwohl sie anfangs gut miteinander ausgekommen waren, bestand nun eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Im September 1981 erreichten sie einen neuen Meilenstein in ihrer Karriere – ihre erste Auslandstournee. Der erste Termin war in Hamburg, genau wie zwanzig Jahre zuvor bei einer anderen Teenager-Band, den Beatles. Anschließend standen Amsterdam, Brüssel und Paris im Kalender. Während beinahe der gesamten Dauer der Tournee saß Vince vorn im Bus und sprach kaum ein Wort mit den anderen.

Ironischerweise war die Aufmerksamkeit, die seine Teenie-Pop-Songs erregten, ein Problem für ihn. Er wollte die ganzen Interviews und Fototermine nicht machen müssen. Wenn er komponierte oder im Studio arbeitete, war er am glücklichsten. Ebenso wenig mochte er die Demokratie, die typischerweise innerhalb einer Band herrscht. Viele Jahre später gestand er gegenüber der Times in einem Interview über sein späteres Vehikel Yazoo: „Die Kommunikation in einer zwischenmenschlichen Beziehung lag mir nie besonders. Im Studio fühlte ich mich sicher, aber eine Unterhaltung mit jemandem zu beginnen …“

Er konnte es nicht ausstehen, wenn die übrigen Bandmitglieder seine Songs infrage stellten. Zum Beispiel hatten sie immer an seinen Texten herumkritisiert. Dave, der sie schließlich singen musste, empfand sie bisweilen als Zumutung. Besonders schlechte Erinnerungen verknüpft er mit „New Life“.

„Ich erinnere mich, wie ich eines Abends durch Basildon ging und auf einmal bemerkte, dass mir zwei Mädchen folgten“, berichtete er 1982 in einem Gespräch mit Mark Ellen. „Ich wusste, dass sie mich erkannt hatten. Dann begannen sie zu singen: ‚I stand still stepping on a shady street‘ (etwa: Ich stehe still, eine schattige Straße betretend). Ich begann, ein bisschen schneller zu gehen, und stellte meinen Kragen auf. Dann sangen sie (stöhnt): ‚And I watch that man to a stranger‘ (Etwa: Und ich beobachte den Mann zu einem Fremden). Und ich dachte: Oh nein, ist das peinlich! Verstehen sie denn diese Texte überhaupt?! Vielleicht tun sie es ja und wir nicht!“

Vince schrieb seine Texte oft passend zu einer bestimmten Melodie, ohne Rücksicht auf den Inhalt und die Grammatik. Es war seine normale Arbeitsweise. Einmal präsentierte er der Band drei neue Songs aus seiner Feder. Als er den Raum verließ, um auf die Toilette zu gehen, steckten die anderen die Köpfe zusammen und sagten: „Die sind scheiße! Die können wir nicht aufnehmen.“ Als er wieder zurückkam, teilten sie ihm diese Entscheidung nur einen Hauch höflicher mit. „Das könnte der Wendepunkt gewesen sein“, sagte Martin Jahre später.

Rückblickend glaubt Terry Murphy, dass Vince eines Abends im Bridge House erwog, einen neuen Weg einzuschlagen. „Als Vince vorbeikam, um den Auftritt von Alison Moyet zu sehen, kam mir der Gedanke, er könnte vielleicht aussteigen. Er kam vorbei, um sich das Konzert mit ihrer Band The Little Roosters anzusehen, und sagte zu mir: ‚Alison stammt aus Basildon, da dachte ich, ich schaue mal vorbei.‘ Damals dachte ich, er wollte Alison als Sängerin für Depeche Mode anwerben. Das sind viel beschäftigte Jungs, und wenn sie es erst einmal geschafft haben, gehen sie nicht einfach so zu einem Konzert. Also dachte ich: Was macht der denn hier? Alison in der Band wäre doch ein Witz gewesen, weil sie so eine tiefe Stimme hat. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.“

Freilich hatte Vince auch keinesfalls die Absicht, Alison Moyet für Depeche Mode zu engagieren. Etwa ein Jahr später wurden die beiden unter dem Namen Yazoo zu einer der erfolgreichsten Gruppen des Landes.

Im Spätsommer 1981 suchte Vince Dave und Fletch zuhause auf und teilte ihnen mit, dass er die Band verlassen werde. Sie waren wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatten drei Singles veröffentlicht, und das Album sollte jeden Moment erscheinen. Sie hatten auf dem Höhepunkt der schlimmsten Rezession seit Jahren alle ihre Jobs hingeworfen – und jetzt das!

Die Erklärung von Vince war einfach. „All das, was der Erfolg mit sich bringt, war plötzlich wichtiger als die Musik geworden“, resümierte er, als die Trennung offiziell war. „Anfangs bekamen wir Fanpost, in der es hieß: ‚Mir gefallen eure Songs sehr.‘ Dann kamen Briefe, in denen gefragt wurde: ‚Wo kauft ihr eure Hosen?‘ Da fragt man sich doch, was kommt als Nächstes?“

Vince versprach zwar, die geplante Tournee noch zu absolvieren und bot an, weiterhin für sie zu schreiben, aber es war ein schwerer Schlag. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal der Vertrag mit Seymour Stein und Sire Records in Amerika unter Dach und Fach. Also verschoben sie die Veröffentlichung von Speak And Spell. „Ehrlich gesagt, war das Ganze meiner Meinung nach eine totale Katastrophe“, sagt Terry Murphy. „Sie hatten ihren Songwriter eingebüßt. Das war ihre Stärke, die Songs. Ich dachte, das wäre nun unwiderruflich das Aus für die Band. Ich konnte es nicht glauben, dass er ausstieg.“ Es war schwer vorstellbar, dass Martin künftig die Aufgaben von Vince übernahm. Sämtliche Bandmitglieder waren ziemlich still und schüchtern, aber er war vermutlich der Unscheinbarste von allen. Fletch fungierte oft als „Manager“, während Dave und Vince eindeutig im Mittelpunkt des Interesses standen.

„Martin war der Stille in der Ecke“, sagt Terry. „Sagte nie ein Wort. Keiner von ihnen sprach viel. Man musste sie erst ansprechen. Das war keine Arroganz, sie waren einfach schüchtern. Schließlich stammten sie aus Basildon und machten nun auf einmal Karriere in der Metropole, in London.“

Trotzdem zogen sie es nie in Betracht, aufzuhören. In jugendlichem Selbstvertrauen dachten sie, sie könnten einfach weitermachen wie bisher – mit Martin als Hauptsongwriter. „Ich glaube, wir hätten uns ein bisschen mehr sorgen müssen, als wir das getan haben“, sagte Martin später. „Wenn dein Hauptsongwriter aussteigt, solltest du dir ein paar Gedanken machen.“

Depeche Mode tourten unbeirrt weiter und gaben im Oktober und November 1981 insgesamt vierzehn Konzerte. Vince’ letzter Auftritt mit der Band fand am 16. November im Lyceum in London statt. Zu diesem Zeitpunkt hätte er zu Recht annehmen können, dass Depeche Mode am Ende waren. Ihr neuer „Songwriter“ Martin war ein extrem schüchterner, zurückhaltender Mensch, und weder Dave noch Fletch waren besonders begabte Musiker. Anfangs herrschte ihm gegenüber daher eine gewisse Feindseligkeit wegen seines plötzlichen Ausstiegs, doch legte sich diese rasch wieder.

„Als Vince ausstieg, überlegten wir einen Augenblick lang, ob wir ihn nicht verhauen sollten, weil wir gerade erst unsere Jobs aufgegeben hatten und so weiter“, sagte Andy 1986. „Doch selbst die Trennung erfolgte auf einer recht freundschaftlichen Basis. Also gingen wir einfach wieder ins Studio und machten weitere Aufnahmen.“

Nach dem Weggang von Vince mussten sie beweisen, dass sie trotzdem noch eine Zukunft hatten, und zwar weniger allen anderen als vielmehr sich selbst. Mit dieser Einstellung nahmen sie noch vor der Veröffentlichung von Speak And Spell den Titel „See You“ auf, den Martin im Alter von 17 Jahren geschrieben hatte. Er war stark von dem Pop der frühen Sechziger geprägt, den seine Mutter so geliebt hatte, und klang wie eine seltsame Mischung aus seinem eigenen Stil und dem Versuch, Vince zu kopieren. Die Version, die später auf ihrem zweiten Album erschien, begann mit einer dunklen, düsteren Melodie, die sich rasch in etwas Sanftes und Süßliches auflöste. Die Single-Version hingegen wollte so rasch wie möglich zum Refrain gelangen. Daran ließ sich ablesen, dass sie sich um ein Überleben ohne Vince’ Melodien mehr Sorgen machten, als sie zugaben.

Die Ergebnisse waren jedoch gut genug, dass sie neue Zuversicht schöpften und übereinkamen, ihn nicht zu ersetzen. Kurzfristig aber mussten sie jemanden finden, der auf der nächsten Tournee seine Keyboardparts übernahm. Zu diesem Zweck setzten sie eine ziemlich plumpe Anzeige in den Melody Maker: „Bekannte Band sucht Synthesizer, muss unter 21 sein.“

Alan Wilder sagte später, er habe erraten, dass es sich dabei wahrscheinlich um Depeche Mode gehandelt habe. Es gab nicht allzu viele „bekannte“ Bands, deren Mitglieder unter 21 waren, die auf ihren Synthesizer-Sound stolz waren und die unlängst ein Mitglied verloren hatten. Er war damals schon 22 und hatte bereits in verschiedenen Bands gespielt, jedoch ohne großen Erfolg. Seine aktuelle Band, The Hitmen, machte keinerlei Fortschritte, also ging er zu dem Vorspielen im Blackwing Studio.

Als er dort eintraf, standen Depeche Mode gerade kurz davor, zu verzweifeln. Daniel Miller nahm die Bewerber unter die Lupe, und das Niveau war nicht besonders hoch. Wie vorherzusehen gewesen war, tauchten zwar allerlei bunte Vögel zu dem Termin auf, aber die musikalischen Fähigkeiten waren meist nicht das, was sie sich erhofft hatten – bis Alan Wilder den Raum betrat. Er konnte einfach alles spielen. Alan wiederum war seinerseits überrascht, wie rudimentär die Musik streckenweise war. Er stellte fest, dass sich viele Parts mehr oder weniger mit einem einzigen ausgestreckten Finger spielen ließen. Außerdem spürte er instinktiv, dass er nicht ganz zu Dave, Martin und Fletch passte. Sie kamen aus Basildon, und man merkte es ihnen an. „Alle ihre Freunde stammten aus Basildon, und Alan kam aus einem leicht anderen, in ihren Augen etwas zu bürgerlichen Milieu“, sagte Daniel Miller. „Er war musikalisch sehr bewandert und reagierte zu Anfang etwas hochnäsig darauf, dass ihr gesamtes Material nur monophones Ein-Finger-Zeug war.“

„Es war ein bisschen kompliziert“, sagte Alan später. „Ich komme sozusagen aus der Mittelschicht, sie aus dem Arbeitermilieu. Sie waren jung und wirkten sehr naiv. Musikalisch klangen sie ein wenig naiv, aber trotzdem irgendwie interessant, und ich war damals in einer recht verzweifelten Lage, in der ich so gut wie jedes Engagement angenommen hätte.“

Obwohl Depeche Mode nach dem Weggang von Vince ebenfalls in einer unsicheren Lage steckten, so waren sie doch immerhin eine Band, die zwei Top-20-Hits gehabt hatte und kurz vor der Veröffentlichung eines mit Spannung erwarteten Debütalbums stand. Die Entscheidung kann für Alan also nicht gar so schwer gewesen sein, selbst wenn er fand, dass die anderen Bandmitglieder musikalisch ein bisschen unter seinem Niveau wären.

Der eigentliche Grund, warum Vince die Band verließ, könnte schlicht auch der gewesen sein, dass er dachte, er käme ohne sie besser voran. Damals war das ein nicht von der Hand zu weisendes Argument. Einer der Songs, den Depeche Mode als „Scheiße“ verworfen hatten, war das hervorragende „Only You“, mit dem Vince und Alison Moyet mit ihrer neuen Band Yazoo später einen riesigen Hit hatten. Die ersten beiden Yazoo-Singles – „Only You“ und das brillante „Don’t Go“, die beide bis auf die obersten Plätze der Charts kletterten – machten unmissverständlich klar, wer damals der fähigere Songwriter war. In einem Interview mit der Times sagte Alison Moyet 2008, Vince und ihr sei „bewusst“ gewesen, dass „Only You“ weit besser war als „See You“.

Obwohl sie es natürlich abstritten, teilten Depeche Mode dieses Bewusstsein zumindest ansatzweise. Sie waren einfach neidisch auf Vince, der einen Erfolg nach dem anderen zu haben schien. „Wir waren ein bisschen eifersüchtig“, gestand Dave Jahre später. „Der erste Song, den sie herausbrachten, ‚Only You‘, war ein Song, den er eigentlich mit uns hatte machen wollen. Ich dachte damals: ‚Nein, den nicht.‘ Dann wurde er jedoch zu einem Riesenhit.“

Für Mute erwies sich die Trennung als Gewinn, denn Daniel Miller hatte nun zwei bekannte Bands unter seinen Fittichen. Vince’ Yazoo waren ausgesprochen erfolgreich, und sein Weggang bei Depeche Mode bot eine Chance für Martin. Trotzdem war die Stimmung bisweilen noch recht angespannt, wenn sie sich im Büro von Mute zufällig über den Weg liefen. Sie wussten jedoch, dass es besser war, den Ball flach zu halten. Sie alle kannten Alison Moyet noch von der Schule in Basildon und hatten großen Respekt vor ihr.

„In der Schule war sie in unserer Klasse“, sagte Fletch. „Sie war die beste Kämpferin in jenem Jahr! Als wir einmal in diesem kleinen Büro bei Mute waren, dachte sie, wir hätten über sie gelacht, und sagte: ‚Fletch, wenn du noch einmal über mich lachst, dann trete ich dir in die Eier.‘ Lache niemals über Alison Moyet.“

Als Speak And Spell schließlich erschien, erreichte das Album die Top 20, doch die Nachrufe auf Depeche Mode lagen bereits fertig in der Schublade. Die beiden Songs, die Martin für das Debütalbum geschrieben hatte, „Tora, Tora, Tora“ und das Instrumentalstück „Big Muff“, waren zwar ganz gut, doch es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass er solche Hits schreiben konnte wie Vince Clarke. Es war allerdings auffällig, dass „Tora, Tora, Tora“ einen dunkleren, schmutzigeren Sound hatte als alles, was Vince je verfasst hatte. Rückblickend war der Song dem Stil, für den sie heute stehen, wesentlich ähnlicher.

Damals indes stieg Alan in eine Band ein, die der Inbegriff einer seichten Pop-Gruppe war. Ihre Videos wurden in der Regel in den leuchtenden Primärfarben des Kinderfernsehens gehalten, und ihre Fotoserien waren sehr oft schlichtweg peinlich. Allerdings war das ein Erfolgsrezept, das sich bewährte.

„See You“ erschien Anfang 1982 und gelangte zu ihrer Erleichterung in die Top 10. Bizarrerweise lief die Single viel besser als der qualitativ überlegene Vorgänger „Just Can’t Get Enough“, was von der großen Loyalität ihrer Teenie-Fangemeinde zeugte. Der Erfolg von „See You“ war ein gewaltiger Ansporn. Er bewies, dass die drei es auch alleine schaffen konnten. Es verleitete sie außerdem zu der – rückblickend betrachtet falschen – Annahme, sie bräuchten nun auch keinen zusätzlichen Keyboarder im Studio. Alan unterstützte sie lediglich auf der Bühne. Anfangs zahlten sie ihm wöchentlich eine bestimmte Summe. Der erste Auftritt mit ihm fand im Januar 1982 im Croc’s statt. Sie hatten keine Zeit, zu überlegen, was sie tun sollten, oder in welche Richtung sich die Band bewegte. Direkt nach dem Auftritt im Croc’s brachen sie nach New York zu ihren ersten Konzerten in Amerika auf.

Es sah aus wie eine große Chance: Das Jahr 1982 markierte den Beginn der so genannten „Zweiten Britischen Invasion“. Seit der Gründung von MTV hatten britische Bands – die in aller Regel ihr Image besser pflegten als ihre amerikanischen Kollegen – gewaltigen Erfolg in den Staaten. Gruppen wie Duran Duran, Culture Club, Wham! und ABC wurden rasch zu Superstars. Auf dem Höhepunkt der Zweiten Britischen Invasion waren 18 der Top-40-Singles in den amerikanischen Billboard-Charts britische Produktionen.

Die Konzerte von Depeche Mode liefen hingegen nicht besonders gut. Mute beschloss, sie zu ihrem ersten Auftritt im New Yorker Ritz Club mit einer Concorde einzufliegen. Nach diesem gelungenen Start ging es mit der Unternehmung jedoch leider sehr schnell bergab. Dave bereute inzwischen eine seiner Jugendsünden. Er war mit seiner Freundin Joanne sehr fest zusammen. Kurz vor dem Abflug ließ er sich die schlechteste seiner alten Tätowierungen entfernen. Dies hinterließ eine böse Narbe, die so schwer anschwoll, dass er mit einem Arm in der Schlinge auftreten musste. Auf der Bühne hatten sie andauernd Probleme mit der Technik und sahen sich einem Meer enttäuschter Gesichter gegenüber. Es war wie eine Bestätigung für den durchschnittlichen amerikanischen Rock-Fan, dass Synthesizermusik eben doch keine „richtige“ Musik war.

Das allein wäre vielleicht noch nicht einmal ein so großes Problem gewesen, doch haperte es zudem auch an ihren frühen Videos, die berüchtigt für ihre miserable Qualität waren. Das vielleicht seltsamste davon war „See You“. Sie engagierten Julien Temple als Regisseur, der damals vor allem durch seinen Film über die Sex Pistols, The Great Rock And Roll Swindle, ein Begriff war. Später drehte er viel beachtete Dokumentationen, darunter ausgezeichnete Filme über Joe Strummer oder das Glastonbury-Festival. Er war also keinesfalls der typische Pop-Regisseur, trotzdem warf man ihm später oft vor, die Videos zu „See You“ und anderen Depeche-Mode-Singles hätten dem Ruf der Band geschadet.

Das Problem war vielleicht, dass er sie so drehte, als wären sie kleine Spielfilme. Daran wäre grundsätzlich nichts auszusetzen gewesen, aber die Bandmitglieder waren keine Schauspieler, sodass die Ergebnisse für viele Beobachter ziemlich unbeholfen wirkten. In „See You“ betritt Dave beispielsweise eine Fotokabine und starrt wehmütig ein paar Bilder seiner Angebeteten an, die er offenbar vermisst. Dabei sieht er aus, als wäre er am liebsten irgendwo anders, nur nicht in dieser Kabine.

„Schon von Anfang an war es uns verhasst, dass wir Videos drehen mussten“, sagte Martin 1993. „Wir hatten nie das Gefühl, dass wir uns auf die Regisseure verlassen konnten. Man begibt sich aber vollkommen in die Hand des Regisseurs. Man hat beim Dreh keine Vorstellung davon, wie es einmal aussehen wird. Man sieht das Video erst, wenn es fertig ist, und dann ist es zu spät, um noch irgendetwas zu ändern. Dann muss es raus.“

Während der ersten paar Jahre traten Depeche Mode regelmäßig live auf. Unter anderem gelang dabei eine triumphale Rückkehr ins Bridge House in Canning Town. Es war eine ganz andere Angelegenheit als damals, als sie noch Mühe hatten, eine Handvoll Leute zusammenzutrommeln. Obgleich es offiziell ein „geheimer“ Auftritt war, drängten sich bereits Hunderte von Fans vor der Tür, als die Kneipe um die Mittagszeit öffnete. „Es war unglaublich, wie viele Leute schon um ein Uhr mittags da waren“, sagt Terry Murphy. „Ich musste sie hinauswerfen und das Eintrittsgeld vorab bezahlen lassen, damit sie später wiederkommen konnten. Es war der helle Wahnsinn.“

Die rasante Entwicklung ihrer Bühnenpräsenz in nur sechs Monaten war beeindruckend. Sie hatten ein ganz neues Selbstvertrauen. Dass sie nun vor Hunderten von Zuschauern in einem Club spielten, wo sie einst Mühe hatten, zwanzig Gäste anzulocken, illustrierte, wie weit sie es gebracht hatten. Terry Murphy war begeistert, als er in die Garderobe kam, um ihnen ihren Anteil an den Eintrittsgeldern zu geben. Das Pub hatte damals gerade wirtschaftliche Schwierigkeiten und sollte bald geschlossen werden.

„Es waren bestimmt ein- oder zweitausend Pfund“, sagt er. „Jedenfalls weit über tausend. Sie aber sagten: ‚Nein, nein, behalte es. Lass’ das Pub geöffnet; es war ein tolles Konzert!‘ Das war sehr nett von ihnen, weil sie keinesfalls reich waren. Sie waren immer noch arm wie Kirchenmäuse!“

Der Wandel innerhalb der Band rührte teilweise von einer neuen Sicherheit her, die Alans musikalisches Können ihnen verschaffte. In späteren Jahren erwies sich seine hervorragende Studioarbeit als weiterer Pluspunkt für die Gruppe, nicht zuletzt deshalb, weil ein Großteil ihres Materials stärker denn je von der Elektronik abhing. Trotzdem wurde Alan in den nächsten zwei Jahren nicht als vollwertiges Bandmitglied aufgenommen – ein Weg, den viele Bandgründer wählen, wenn sie ein neues Gesicht in ihrem engsten Kreis willkommen heißen. Zunächst erhielt Alan nur einen bescheidenen Wochenlohn, angeblich nicht mehr als 100 oder 200 Pfund. Doch war dies ebenfalls nichts Ungewöhnliches.

Die Shows auf dem europäischen Festland waren eine besonders bizarre Angelegenheit. Trotz der Tatsache, dass die Pioniere von Kraftwerk aus Deutschland stammten, betrachtete man Depeche Mode in weiten Teilen des Kontinents beinahe wie einen exotischen Wanderzirkus. Die Journalisten hatten über die englische New-Romantic-Szene gelesen, und Depeche Mode wurden andauernd gefragt, ob sie „Blitz Kids“ seien. Oft wirkten Journalisten und TV-Moderatoren ein wenig verwirrt angesichts dieser naiven Jungs aus Basildon. Bei einem ihrer ersten TV-Auftritte, einer Sendung im schwedischen Fernsehen, wurde Dave gefragt, was ihre Texte bedeuteten, und er musste gestehen, dass er keine Ahnung hatte.

„Ich weiß nicht“, sagte er zu dem verwirrten Moderator. „Vince hat kürzlich die Band verlassen. Wir fragten ihn immer, was die Texte bedeuten, aber wir wissen es immer noch nicht.“

Es wäre im Prinzip in Ordnung gewesen, das zu sagen, wäre der Song, den sie in der Sendung vorstellen wollten, nicht ausgerechnet das von Martin geschriebene „See You“ gewesen! Daneben sorgten sie auf dem europäischen Festland auch deshalb für einigen Aufruhr, weil die englischen Synthesizerbands vom Mainstream als Kuriosität betrachtet wurden.

„Glauben Sie, dass Synthesizer echte Instrumente vollständig ersetzen können?“, wurde Dave gefragt. Seine Antwort war interessant: Anstatt darauf zu verweisen, dass Synthesizer sehr wohl richtige Instrumente seien, entgegnete er höflich: „Nein, ich denke Gitarren und Schlagzeuge wird es immer geben.“ Bei einem anderen Fernsehauftritt in Holland fragte der neugierige Moderator die einzelnen Bandmitglieder: „Wer ist denn jetzt der Gitarrist? Und wer der Bassist? Wer spielt Schlagzeug?“ Da mussten sie umständlich erläutern, dass sie solche Musiker gar nicht in der Band hatten, bis Dave eine kleine Führung gab, die Keyboards erklärte und den „Schlagzeuger“ vorstellte – eine etwas plump wirkende Bandmaschine. Zu dieser Zeit gaben sie es auch auf, darauf zu pochen, dass man ihren Bandnamen „Depesch-ey“ aussprach. Anfangs gefiel ihnen das, weil es sich so französisch und gebildet anhörte, dabei klingt die tatsächliche französische Aussprache wie „Depesch“.

Alan willigte ein, sich an sämtlichen Werbeaktivitäten zu beteiligen, die man der Band abverlangte. Hinsichtlich Musik und Kleidung war dies zweifellos der Tiefpunkt in der gesamten Karriere von Depeche Mode. Sie sahen nicht besonders aus und erledigten die meisten Aufgaben, die man ihnen stellte, ohne Murren und Knurren. Darunter waren auch einige ziemliche schräge Fernsehauftritte. In einer deutschen Sendung namens Bananas filmte man sie zu einem Playback von „See You“ in einer Scheune voller Stroh. Anfangs wirkte Dave in seinem schrecklichen Anzug und den hoch geschnittenen Hosen einfach nur leicht dämlich. Dann folgte eine Einstellung, in der er sitzend ein Huhn hält, während anderes Geflügel zwischen den Beinen der übrigen Bandmitglieder herumrennt. Alans Blick, als er sich todesmutig ebenfalls ein Huhn schnappt, ist unbezahlbar. Als wäre das noch nicht genug gewesen, vergnügt sich hinter ihnen ein Pärchen im Heu – im krassen Widerspruch zur Hauptaussage des Songs.

Doch nicht nur im Ausland kam es zu peinlichen Szenen. So traten Dave und Martin etwa in der Samstagmorgensendung Tiswas auf und versuchten, die üblichen Fragen zu beantworten („Warum verwendet ihr Synthesizer?“, „Warum heißt ihr Depeche Mode?“, „Wie spricht man Depeche Mode aus?“), während sich direkt hinter ihnen ein paar aufsässige Jugendliche laut lachend unterhielten. Erst gegen Ende schienen sie den Musikern etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als sie die Anweisung erhielten, die beiden Stars mit Papierschnipseln zu bewerfen und Dave eine Sahnetorte ins Gesicht zu pfeffern.

Etwa zur selben Zeit hatten Depeche Mode in der britischen Fernsehinstitution der Achtziger, Jim’ll Fix It, einen Auftritt, der sogar noch peinlicher war. Das Erfolgsgeheimnis der beliebten Sendung war, dass Kinder dem Moderator Jim Saville, einem ausgemachten Exzentriker, einen Brief schrieben und ihn baten, etwas für sie „zu deichseln“, sprich: ihnen einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Der Traum eines Mädchens war es, einmal zusammen mit Depeche Mode aufzutreten. Pflichtschuldig erklärten sie sich dazu bereit und ließen sie ein bisschen Keyboards spielen, dann bekam sie von Alan eine Trophäe überreicht, das begehrte Jim’ll Fix It-Abzeichen.

Damals unterschied man streng zwischen „ Popmusik“, die von vielen Fernseh- und Radio-Programmmachern als simple Unterhaltung für Kinder eingestuft wurde, und „Rockmusik“, die für Teenager gedacht war. Jemand über 30, der sich noch für einen der beiden Stile interessierte, wurde für ein bisschen seltsam gehalten. Depeche Mode hatten zwar kein Problem damit, dass Kinder ihre Platten kauften, doch es dämmerte ihnen langsam, dass Teenager und Erwachsene auf Grund ihres Images aus der Zielgruppe herausfallen könnten.

Dave Gahan

Подняться наверх