Читать книгу Bullen Blues - U. Gowski - Страница 13
5.
ОглавлениеDer Horizont im Norden war dunkel. Dunkle Regenwolken tobten sich über Seattle und Tacoma aus. Zu schwer und zu faul hatten sie sich zwischen Vancouver Island, der Olympic Halbinsel und dem Cascade Gebirge eingekeilt. Wenn es der schwarzen Wolkenfront gelingen sollte, sich zu befreien, würde sie an den Cascades entlang in Richtung Columbia River ziehen und dort ihre nasse Last abladen, sehr zur Freude der dort ansässigen Obst- und Weinbauern. Manchmal schaffte sie es auch dank starker Nordwestwinde über die natürliche Barriere und tobte sich dann über der Grassteppen- und Hügellandschaft des Columbiaplateaus aus.
Carl Sullivan fuhr in seinem 1978er Dodge Pick-Up dem Regen entgegen. Er war von der Interstate 5 auf den Highway 12 abgebogen. Ab und zu sah er in den Rückspiegel, wollte sichergehen, dass er nicht verfolgt wurde. Hinter Mossyrock überkam ihn ein plötzliches Hungergefühl. Er sah auf die Armbanduhr. Es war 9.00 Uhr. Er hatte schon gut 1 ½ Stunden Fahrt hinter sich. Scheinbar war sein Magen der Meinung, er könnte ein gutes Frühstück vertragen. Zeit genug hatte er dafür. Die Verabredung mit Clarisse Morgan war erst um 12.00 Uhr. Sie war wieder nach Hause zurückgekehrt. Nach Packwood, einem kleinen Kaff südlich von Mount Rainier am Cowlitz River, dessen einzige Attraktion das kleine White Pass Country Museum war, was an drei Tagen der Woche für Besucher geöffnet hatte. Für den Eintrittspreis von zwei Dollar konnte man etwas über die Geschichte der Packwood Region erfahren. Die Größe eines 25 Quadratmeter großen Raumes reichte dafür aus. Der nächste Ort war die Kleinstadt Morton. Es fing an zu tröpfeln. Wie durch ein Wunder hatten es die Regenwolken irgendwie geschafft, sich von Seattle zu lösen. Er stellte die Scheibenwischer an und fuhr die ausgeschilderte Abfahrt vom Highway hinunter. Es war die 2nd Street. Dort gab es nur die üblichen Verdächtigen. Subway auf der linken Seite und rechts einen Burgerladen Namens Spiffy Dine In. Auf beides hatte er keine Lust. Er machte sich auf die Suche nach der Main Street, in der Hoffnung, dort einen vernünftigen Diner zu finden. Der Regen wurde stärker und fing an, unermüdlich gegen die Frontscheibe zu klatschen. Sullivan stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Sie wedelten heftig vor seinem Gesicht herum. Er fuhr langsam. Ein paar Querstraßen weiter hatte er die Main Street gefunden. Sollte er nach links oder nach rechts abbiegen? Links sah es vielversprechender aus. Und wenig später wurde seine Ahnung bestätigt. Er fuhr an einem Diner Namens ›Codys‹ vorbei. Kurzer Hand wendete er und parkte auf der anderen Straßenseite. Carl Sullivan sprintete über die Straße. Er war noch nie ein guter Sprinter gewesen und auch hier wieder nicht schnell genug. Durchnässt betrat er den Diner. Es war relativ leer für die Uhrzeit, aber vermutlich war die erste Welle Frühstückshungriger schon durch. Wie zur Bestätigung sah er an der Ecke neben der Tresentür sich stapelndes, dreckiges Geschirr. An einem der hinteren Tische saß ein älteres Ehepaar. Nach den Arbeitssachen zu urteilen, die sie trugen, kamen sie von einer der umliegenden Farmen. Sullivan hatte das Gefühl, hier genau richtig zu sein. Die Bedienung war eine Dame über siebzig, klein und zäh. Die Servicekraft in der offenen Küche hinter dem Tresen, vom Alter knapp darunter. Sie könnten Schwestern sein, sie hatten die gleichen silbrigen, weißhaarigen Frisuren. Die typische Standardfrisur der weißen amerikanischen Mittelstandsfrau ab siebzig, wie sein Freund Pete sie mal genannt hatte, als er von seiner Großmutter sprach. Carl Sullivan war noch unschlüssig, auf welchen Platz er sich setzen sollte, auf einen der Hocker am Tresen oder einen Tisch am Fenster, als nach ihm eine Dame das Diner betrat. Mit ihrem Eintreten wurde Pete’s Frisuren Theorie auch für jüngere Jahrgänge bestätigt. Sie war die jüngere Ausgabe der beiden anderen Damen, gerade mal um die fünfzig. Während Carl beim Betreten misstrauische Blicke geerntet hatte, bekam sie ein freundliches Lächeln geschenkt.
Er entschloss sich, den Tisch am Fenster zu nehmen. Als er sich setzte, stand schon Miss Silberweiß neben ihm und fragte: »Was soll’s sein, Fremder?«
Dabei reichte sie ihm die Karte. In der anderen Hand hielt sie die gläserne Kaffeekanne. Der Kaffee roch frisch gebrüht.
Carl Sullivan warf einen kurzen Blick in die Karte.
»Bacon, kann ruhig verbrannt sein, zwei Eier ›Sunny Side Up‹, Toast, Hash Browns und …« Er sah sie mit dem freundlichsten Lächeln, das er aufbringen konnte, an. »Wie sind Ihre Pancakes?«
»Die besten weit und breit«, sagte sie stolz. »Und wir haben Cranberry- und Ahornsirup. Beides traditionell handgemacht, hier aus der Gegend.«
Ihre klaren blauen Augen blitzten dabei freudig. Sie mochte Kerle mit gesundem Appetit. Es erinnerte sie an ihren verstorbenen Mann. Plötzlich verdunkelte ein leichter Schatten ihre Augen.
»Ich hoffe, Sie kommen nicht aus Seattle.«
Carl Sullivan war irritiert. »Nein, Portland.«
Sie strahlte ihn wieder an. »Kaffee, Schätzchen?«
Carl nickte.
Während sie ihm den Kaffeepott vollgoss, sagte sie: »Ich arbeite schon fünfzig Jahre hier.«
»Wow«, machte Carl, er wusste keine andere Antwort darauf und griff sich den Kaffeepott. Er nahm einen Schluck, während sie sich umdrehte und zum Tresen ging, um Carls Bestellung aufzugeben.
Eine dreiviertel Stunde später saß Carl gesättigt in seinem Pick-up und rief Bart an. Eigentlich hatte er keine große Hoffnung, aber zu seiner Überraschung ging Bart ran.
»Kannst du mir verraten, was die hier oben in Morton gegen Leute aus Seattle haben?«
Bart lachte und fragte dann neugierig: »Hast du dich wieder mit einer Kleinstadt angelegt?«
»Nein, ist nur eine Frage. Ich hab etwas gebraucht, bis mich eine alte Dame in ihr Herz geschlossen hat. Portland schien ihr lieber zu sein als Seattle. Sie hatte Bedenken, ich komme von dort.«
»Die können Großstädter eben nicht leiden. Und besonders nicht die aus Seattle. Boeing, Microsoft, Starbucks. Die ganze gut verdienende Muschpoke. Die Leute dort haben keinen Respekt.«
»Na und, Portland ist ja nun auch eine Großstadt.«
»Na ja, die einen sagen so, die anderen so. Aber sie ist definitiv nicht wie Seattle. Und erst recht nicht die Menschen. Das ist was anderes«, sagte Bart, ohne es irgendwie zu begründen. »Noch was? Ich hab zu tun.«
»Nein«, antwortete Carl und legte auf. Er fand nicht, dass er jetzt viel schlauer war.
Wenig später fuhr Carl Sullivan durch das offenstehende Tor des riesigen Grundstücks der Morgans. Die Auffahrt, die leicht aufwärts führte zu der im venezianischen Palazzostil gehaltenen Villa, war mit Zypressen gesäumt. Zwischen Auf- und Abfahrt lag eine parkähnliche Grünfläche mit einem Brunnen. Er ließ den Pick-Up direkt zwischen den beiden Säulen am Eingang stehen, stieg aus und lief die Stufen hoch. Oben an der Tür angekommen, betätigte er die Klingel aus Messing. Ein Glockenton wie vom Londoner Big Ben ertönte. Wenige Augenblicke später öffnete sich die schwere Holztür und eine schlanke junge Frau in einem geblümten Sommerkleid sah ihn fragend an. Sie war blasshäutig und hatte geweint. Die Augen in ihrem schmalen Gesicht waren gerötet, ihre aschblonden Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sullivan schätzte sie auf 22, 23 Jahre. Sie war sehr dünn und die Blässe ihrer Haut unterstrich ihre Zerbrechlichkeit. Sullivan vermutete, dass sie Clarisse Morgan war. Er nannte seinen Namen. Ein kurzes Erinnern flackerte in ihren Augen auf. Sie nickte kurz und ließ ihn dann ein. Zusammen gingen sie in das große Kaminzimmer und setzten sich.
»Sie haben gestern gar nicht gesagt, weswegen Sie mich zu sprechen wünschen«, hub sie an.
»Wo sind Ihre Eltern?«, fragte Sullivan, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
Ihr rechtes Augenlid zuckte kurz nervös. Sonst ließ sie sich nicht anmerken, wie ungehörig sie seine Art empfand.
»Auf einer Weltreise. Jetzt müssten sie gerade in Griechenland sein.«
Sullivan nickte. Ihm war schon beim Betrachten des Grundstücks aufgefallen, dass hier keine armen Leute wohnten. Man hatte Geld und zeigte es. Und das nicht immer geschmackvoll, wenn er an den marmornen Brunnen mit den drei nackten pinkelnden Knaben dachte, der die Mitte des Parks zierte.
»Unserer Familie gehörte die Holzfabrik in Kosmos«, erklärte sie, als sie Sullivans Blick bemerkte. »Wir hatten 500 Arbeiter.«
»Sie sagten, hatten.«
»Die Stadt und die Fabrik gibt es nicht mehr. Sie liegen unter dem Riffe Lake. Ein Stausee, er wurde lange vor meiner Geburt angelegt. Der Damm steht bei Mossyrock. Kosmos ist jetzt eine Geisterstadt unter Wasser.«
Sie lächelte entrückt und schwieg für einen kurzen Moment. Dann erklärte sie: »Das Wasserkraftwerk an der Staumauer erzeugt den Strom für Tacoma.«
Sullivan kannte Tacoma. Die Stadt wuchs langsam mit Seattle zusammen und sie teilten sich den größten Flughafen im Bundesstaat. Die verschnupfte Art, wie sie sprach, ihre Gesten, erinnerten Carl Sullivan an eine Begebenheit in seiner Kindheit. Er war etwa 9 oder 10 Jahre alt, da fuhr sein Vater mit ihm nach Houma. Dort in der Nähe gab es eine alte Südstaatenplantage, die von zwei Frauen, Schwestern, als Museum betrieben wurde. Es war ihr alter Familienbesitz. Sie waren Mitte siebzig, mit sorgfältig frisierten weißen Locken und mit den typischen Südstaatenröcken des ausgehenden 19. Jahrhunderts bekleidet. Sie waren aus der Zeit gefallen. Lebten noch in ihrer heilen, weißen Südstaatenwelt und bildeten sich ein, liberal und aufgeklärt zu sein, nur weil sie ihren Niggern einen kleinen Lohn für das Instandhalten der riesigen Plantage und des Gutshauses zahlten. An diese Damen erinnerte ihn Clarisse Morgan, nur, dass sie noch keine siebzig war.
»Aber Sie sind bestimmt nicht die weite Strecke hierher gefahren, nur um die regionale Geschichte zu hören?«, unterbrach Clarisse seine Erinnerungen.
»Da haben Sie recht. Es geht um Connor Roony.«
»Was ist mit ihm?« Sie sah ihn erschrocken an. »Ist ihm was zugestoßen?«
»Kann ich noch nicht beantworten. Aber wie es aussieht, ist er verschwunden.«
»Ich weiß.«
Sullivan sah sie prüfend an, wartete auf eine Erklärung. Sie schniefte. Irgendwie hatte er das Gefühl, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Aber sie riss sich zusammen.
»Und?«
»Er hat mir einen Brief und Geld dagelassen, als er verschwand. Er hätte es sich anders überlegt, hat er geschrieben, ich sollte nach Hause fahren.«
»Was anders überlegt?«, bohrte Carl nach.
»Er hatte mich eingeladen, eine Woche mit ihm in Portland zu verbringen. Schicke Hotelsuite. Shopping. Ich vermute aber, es steckte etwas ganz anderes dahinter.«
Sullivan sah sie fragend an.
»Er war nervös, benahm sich etwas merkwürdig. Wollte alles in bar bezahlen. Keine der Kreditkarten, die er sonst immer benutzte. Es sah aus, als ob er sich versteckte.« Sie seufzte. »Ich hatte mich so darauf gefreut. Und dann war er einfach weg. Vielleicht dachte er, ich bin ein Klotz am Bein.« Sie schniefte wieder.
»Was ist passiert?«
»Wir sind runter auf die SW 5th Avenue. Ich wollte shoppen. Na ja, bei mir hat es ein wenig gedauert. Er hasst es, wenn ich so trödle. Er ist dann schon wieder ins Hotel vorgegangen. Als ich im Hotelzimmer eintraf, war er weg. Dafür lagen ein Brief und Geld da.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Den Brief? Nein, ich hab ihn zerrissen und weggeworfen. Ich war verdammt wütend.« Sie sah Sullivan unsicher an. »Aber weswegen wollen Sie den Brief sehen?«
»War es seine Handschrift?«, fragte er weiter.
»Wer sollte mir sonst einen Brief ins Zimmer legen«, entgegnete sie und schniefte wieder. »Aber er hat mir wenigstens meinen Wagen dagelassen. So konnte ich nach Hause fahren. Mit dem Geld habe ich das Zimmer bezahlt. Wahrscheinlich ist er mit dem Wagen abgehauen, der vor dem Hotel stand.«
»Ein Wagen stand vor dem Hotel?«
Sullivan sah sie neugierig an.
»Ja, als wir losgingen. Ich schätze ein Mietwagen. Die Leihfirma wird ihn gebracht und dann den Schlüssel an der Rezeption hinterlegt haben.«
»Haben Sie dort nachgefragt?«
»Nein ich war sauer.«
»Verständlich.«
Carl Sullivan überlegte und sagte dann: »Schade, aber das hilft mir jetzt nicht weiter.«
»Was? Ihn zu finden?«
»Ja.«
»Warum wollen Sie ihn finden?«
»Sein Vater macht sich Sorgen.«
Etwas Besseres war Sullivan nicht eingefallen. Vielleicht war es ja auch nicht gelogen.
»Pah«, machte sie. »Sein Vater interessiert sich für seinen Sohn wie Sie für einen Sack Reis, der in China umfällt.«
Sie sah ihn prüfend an. Sullivan hielt ihrem Blick stand.
»Ich glaube es zwar immer noch nicht. Aber vielleicht hilft Ihnen die Autonummer weiter.«
»Welche Autonummer?«
»Na die von dem Wagen, womit der Mistkerl abgehauen ist.«
Ihre schmale Oberlippe zitterte. Sie schien immer noch wütend zu sein. Sie stand auf und ging zu dem kleinen Tischchen an der gegenüberliegenden Wand, auf dem eine voluminöse Vase ohne Blumen stand und nahm von dort einen Zettel und reichte ihn Sullivan.
»Es war ein Kennzeichen aus Oregon. Jedenfalls stand es so auf dem Nummernschild.«
Er hielt den Zettel nachdenklich in der Hand und überlegte. Warum hatte Clarisse Morgan diese Autonummer notiert? Sie konnte doch zu dem Zeitpunkt gar nicht wissen, dass ihr Freund sich aus dem Staub machen würde.
Er fragte sie: »Weswegen haben Sie die Autonummer notiert?«
Sie sah ihn irritiert an. Dann hellte sich ihre Miene auf.
»Es macht Sie stutzig, weil Sie denken, ich habe die Nummer schon notiert, bevor ich wusste, dass Connor verschwunden war.« Sie lächelte ihn an. »Hab ich nicht, erst als ich auf dem Zimmer war und feststellte, dass er verschwunden war. Mir war der Wagen aufgefallen, als wir das Hotel verließen. Weil er eigentlich nicht zu den Hotelgästen passte, die gewöhnlich in diesem Hotel residieren.« Sie zog in Erinnerung daran die Augenbrauen hoch. Es wirkte gleichermaßen affektiert wie missbilligend. »Er war so durchschnittlich. Die falsche Preisklasse, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Er wusste, was sie meinte.
»Und ich hab ein gutes Zahlengedächtnis«, ergänzte sie.
Er starrte nachdenklich vor sich hin. Was, wenn der junge Roony sich vor seinem Vater versteckte? Dann stellte sich die Frage, warum.
Er stand auf und sagte: »Danke. Sie haben mir sehr geholfen. Darf ich Sie anrufen, wenn ich noch eine Frage habe?«
»Ja sicher.« Sie sah ihn unsicher an. Dann fragte sie leise: »Melden Sie sich, wenn Sie was von Connor hören?«
Sie schien noch etwas sagen zu wollen, knabberte aber nur kurz an ihrer Unterlippe und schwieg.
»Ja«, antwortete Sullivan knapp.
Das reichte ihr. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein zaghaftes Lächeln.
Sie wollte aufstehen, doch Carl Sullivan sagte: »Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich finde allein raus.«
An der Zimmertür drehte er sich noch einmal zu ihr um. Sie saß gedankenverloren auf der Sitzgarnitur.
»Noch eine Frage, wegen der Holzfabrik. Ich nehme doch an, Ihre Familie ist entschädigt worden?«
Sie sah überrascht auf.
»Ja, und soviel ich weiß, mehr als angemessen.«
»Saß zufälligerweise Senator Roony, der Vater Ihres Freundes, in dem Bewilligungskomitee?«
Sie zuckte die schmalen Schultern. »Keine Ahnung, da müssen Sie meine Großeltern fragen. Das war Ende der 60er Jahre. Mein Vater war da gerade geboren.«
Er glaubte ihr.
Als Carl Sullivan wieder in seinen alten Dodge Pick-up stieg, rief er Franky DaSilva an, auch ein alter Bekannter seines Vaters. Wenn Sullivans Vater auch nie wieder den Boden Louisianas betreten hatte, so hatte er doch Kontakt dorthin gehalten. Nie die Wurzeln gekappt. Und nach dem Tod seines Vaters hatte Carl Sullivan wie selbstverständlich auch die Freundschaften und Kontakte von ihm geerbt.
Franky war ein kleiner Buchmacher in Lafayette, der das große Geld mit kurzfristigen Live-Wetten gemacht hatte, in dem Jahr, in dem die NFL das erste Mal beschlossen hatte, den Super Bowl zeitversetzt im TV zu zeigen, um ja nicht wieder in Gefahr zu geraten, Brustnippel live im TV zu sehen. Er verdankte sozusagen Janet Jacksons Brustwarzen seine Geschäftsidee, und sie war erfolgreich. Rednecks, Cajuns oder andere Hinterwäldler ließen eine Menge Geld bei ihm. Sie haben bis heute nicht kapiert, dass live nicht gleich live ist. Frank DaSilva kannte sich gut mit Computern aus und wenn Carl Sullivan eine Autonummer hatte, konnte ihm Franky garantiert den dazugehörigen Besitzer, samt Adresse und Führerscheinnummer nennen. Wie sagte Frank immer: »Ich kann dir alles besorgen, auch Sozialversicherungsnummern, doch die kosten extra.« Er fand das witzig.
»Hi Franky. Wie laufen die Geschäfte?«
»Ahh, Sully, hab erst letztens an dich gedacht, als die Saints grandios baden gingen.«
Er kicherte.
»So wie du dich amüsierst, hast du dabei scheinbar einen ordentlichen Schnitt gemacht«, entgegnete Sullivan schlecht gelaunt. Er hatte das Spiel im Fernsehen verfolgt.
»Einen sehr guten sogar.« Franky klang zufrieden.
»Okay, schön für dich. Ich brauch deine Hilfe. Deswegen rufe ich an.«
Frank DaSilva schwieg. Sullivan auch.
»Nun sag schon, was du willst.«
Franky war der Ungeduldigere von ihnen beiden. Carl Sullivan lächelte in sich hinein.
»Ich brauch den Halter zu einer bestimmten Autonummer. Hast du Stift und Zettel?«
»Scheiße Mann, ich bin Buchhalter.«
»Alles klar.«
Carl zog den Zettel aus seiner Hosentasche. »Es ist ein Kennzeichen aus Oregon. ZBP-032.«
»Ist notiert. Ich melde mich.«
DaSilva legte auf. Sullivan überlegte. Es gab keinen Grund, in hektisches Treiben zu verfallen. Er war sich sicher, Connor Roony lebte noch. Die Entführer, wenn es denn welche gab, hatten bisher kein Lösegeld gefordert. Die einzige Erklärung für ihn war: Es ging hier nicht um Geld. Es geht nur darum, Connor Roony an seiner Aussage zu hindern. Sie wollten ihn nicht töten. Aber warum nicht? Es wäre ein leichtes, fand er. Dann kam ihm ein Gedanke. Was, wenn Roony jr. eine Absicherung im Falle seines Todes hätte und die Täter davon wussten? Das würde einiges erklären. Zufrieden steckte er den Zettel weg und schmiss das Handy in die Ablage. Er startete den Dodge und setzte sich langsam in Bewegung. Die Straße war noch nass vom Regen, der sich weiter in Richtung kanadische Grenze verzogen hatte. Er könnte jetzt denselben Weg zurückfahren, entschloss sich aber, andersherum zu fahren. Über Yakima und dann hinunter den Columbia River entlang nach Portland. Der Fluss war die natürliche Grenze der Bundesstaaten Oregon und Washington. Er mochte diese Strecke mit den kleinen Nestern wie White Salmon oder Stevenson. Früher war er hier oft mit seinem Vater gewesen, um Lachse zu fangen. Er hatte das Gefühl, es war eine Ewigkeit her. Inzwischen war der Bestand der Chinook Lachse zurückgegangen. Schuld waren zum einen die Überfischung und Verschmutzung und zum anderen die Dämme und Schleusen. Sie verhinderten die natürliche Wanderung der Lachse. Die Dämme sind zu hoch und die angelegten Fischtreppen helfen nur wenig. Er konnte sich gut an die TV Bilder erinnern, auf denen eine Orca Walmutter über mehrere Tage ihr junges, bereits totes Kalb im Wasser bewachte. Das Kalb war infolge des Fressmangels der Mutter verhungert. Die Chinooks Lachse waren eine der Hauptnahrungsquellen der Orcas vor der Mündung des Columbia Rivers. Nur ein Rückbau der Dämme würde helfen. Dagegen wehrt sich aber immer noch sehr erfolgreich die Lobby der Weizenfarmer aus Idaho im Bündnis mit den Eignern der Transportschiffe und den Schleusenbetreibern.
Mit heruntergelassenen Fenstern fuhr Carl Sullivan auf dem Highway 97. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Er war noch ungefähr fünfzig Meilen von Biggs Junction entfernt, der Highway traf dort auf den ›Lewis and Clark Highway‹, der am Columbia River entlangführte, als sein Handy wieder anfing zu klingeln. Er ging vom Gas und lenkte den Wagen auf den grünen Seitenstreifen. Dort hielt er an. Wie an den Highways üblich, lagen zerfledderte und abgeschälte Gummiteile von Autoreifen verstreut auf dem Grün herum. Es klingelte wieder. Auf dem Display erkannte er Frank DaSilvas Handynummer. Er widerstand der Versuchung, die Kippe aus dem Fenster zu schnippen und drückte sie lieber im Aschenbecher aus. Dann ging er ans Handy.
»Was hast du für mich?«, fragte er.
»Das Nummernschild gehört zu einem dunkelblauen Chevrolet Cruze. Ist ein Mietwagen von ›Enterprise Rent-A-Car‹. Denen gehören auch die Mietwagenfirmen ›Alamo‹ und ›National‹.«
»Aha«, machte Sullivan und überlegte, was er mit der Information anfangen könnte.
Franky räusperte sich am anderen Ende der Leitung und sagte: »Ich habe aber noch etwas für dich.«
Dann schwieg er wieder.
Sullivan kannte das Spiel. Diesmal hatte er aber nicht die Geduld dafür und rief genervt: »Nun rück schon raus damit!«
»Hey, sei mal nicht so gestresst«, meinte Franky und kicherte. Sullivan verdrehte innerlich die Augen.
»Hey, sei mal nicht so gestresst«, meinte Franky und kicherte. Sullivan verdrehte die Augen.
»Ich hab die ID des GPS Senders von der Karre.« In DaSilvas Stimme schwang unverhohlener Triumph mit. »Wenn du jemanden findest, der damit eine GPS Kontrolleinheit füttert, kannst du ihn verfolgen, ohne ihm dabei auf die Pelle zu rücken.«
Und wieder schwieg Franky.
Sullivan konnte sich ihn bildhaft vorstellen, wie er mit selbstzufriedenem Grinsen in seinem Büro saß, nur mit Flipflops, Shorts und einem seiner albernen Hawaiihemden mit Flamingos darauf bekleidet. Er hatte ein Faible für diese Vögel. Und sich dabei voller Wonne über den Bauch strich. Die Klimaanlage rotierte vermutlich auf höchster Stufe. Um diese Jahreszeit war es noch heiß in Lafayette.
»Fax mir die Daten zu. Mal sehen, ob ich jemanden auftreibe, der mir so eine Kontrolleinheit besorgt.«
»Brauchst du nicht. Das kann jedes Handy übernehmen. Du musst nur die richtige Software da drauf haben.«
Sullivan zögerte kurz und sagte dann: »Danke Franky, gut gemacht.«
»Ich weiß«, erwiderte Frank DaSilva und legte auf.
Carl Sullivan setzte den Blinker und sah in den Rückspiegel. Er löste die Bremse und der Wagen rollte langsam an. Bei seinem zweiten Kontrollblick in den Spiegel bemerkte er, wie sich hundert Meter weiter hinter ihm ein Wagen von dem Seitenstreifen löste, sich in den Verkehr einreihte und ihm folgte. Er war ihm bisher nicht aufgefallen. Ein silberner Mercury. Wahrscheinlich war der ihm schon gefolgt, seit er von Clarisse Morgan losgefahren war. Sie wurde also überwacht. Nur von wem war die Frage. Jemand, der wie er von Senator Roony beauftragt worden war? Oder waren es Männer von Sean O’Rourke? Es könnte auch auf dasselbe hinauslaufen. Vielleicht spielte aber auch noch eine dritte Partei mit. Sullivan war sich sicher, sie wussten, wer er war. Es gab in Portland nicht viele Besitzer eines Dodge Pick-Up Midnight Express. Es sind 1978 nur 1500 Stück gebaut worden und seiner war der ganze Stolz seines Vaters gewesen. Sullivan machte sich noch keine Sorgen. Sie würden nur die Adresse des Pubs finden, auf den der Wagen zugelassen war. Ein Autokennzeichen war an der Frontseite des Mercurys nicht zu erkennen. Er überlegte kurz und nahm dann die nächste Abfahrt. Das Nest hieß Goldendale. Er fuhr die Main Street entlang. Sie folgten ihm in sicherem Abstand. Plötzlich bog er rechts ab, gab mit quietschenden Reifen Gas, bog die nächste Straße gleich wieder rechts ab und dann wieder rechts. Dort hielt er hinter einem UPS Lieferwagen. Kaum stand er, sah er den Mercury langsam auf der Hauptstraße fahren. Nachdem die Verfolger aus Sullivans Sichtfeld verschwunden waren, gab er wieder Gas und fuhr zur Kreuzung vor. Dort sah er, wie der Mercury auf der Main Street sich langsam von ihm entfernte. Sie suchten ihn. Tasteten die Seitenstraßen ab. Er notierte sich das Autokennzeichen, das unter ihrer Kofferraumklappe prangte. Dann bog er links in die Hauptstraße, zurück in Richtung Highway. Er hatte, was er wollte. Mal sehen, wie lange es dauern würde, bis sie wieder an ihm dran klebten. Er würde in Stevenson eine Pause einlegen. Vielleicht hatten seine Verfolger ja auch Lust auf Bier und Sandwich. Sullivan grinste in sich hinein.