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Die letzten Septembertage brachten endlich die lang ersehnte Abkühlung. Rauer Wind wehte vom Pazifik über die zerklüftete Küste Oregons. Das Laub der Eichen, Pappeln und Ahornbäume hatte sich gelb gefärbt. In die herbstlichen Farben mischten sich vereinzelte grüne Tupfer der dazwischen stehenden Küstenmammutbäume, Fichten und Kiefern. Oberhalb des Strandes von Depoe Bay, einem kleinen Örtchen nördlich von Newport in Lincoln County, stand ein großes, hellblau gestrichenes Holzhaus mit einer weißen Veranda. Am Verandadach hing eine mit Stahlseilen befestigte breite Holzschaukel. Auf ihr saß ein Mann und trank Bier. Er ignorierte das Klingeln des Telefons, das aus dem Haus drang. Mit der Flasche Bier in der Hand starrte er auf den Pazifik. Eine kleine Familie Grauwale, eine Mutter mit ihrem wenige Monate alten Kalb, tummelte sich keine zweihundert Meter von seinem Haus entfernt im Pazifik. Es klingelte wieder. Er nahm einen Schluck aus der Flasche Rogue IPA. Wieder klingelte es. Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich, das klingeln fing an zu nerven. Die breite Holzschaukel bot Platz für drei normal gebaute Menschen. Manchmal überkam ihn der Wunsch, sie wäre voll besetzt. Drei Männer, die Bier tranken, sich zuprosteten und gegenseitig Anekdoten erzählten. Ein unsinniger Gedanke, wie er wieder einmal feststellte. Er war nicht gerade bekannt für seine Geselligkeit. Die ersten Versuche der beiden unmittelbaren Nachbarn, ihn einzuladen, scheiterten. Danach blieben weitere aus. Er war sich sicher, dieser Zustand würde sich auch nicht mehr ändern. Meistens kam er damit klar. Das Klingeln hielt hartnäckig an. Er warf einen genervten Blick zur offenen, mit einem Fliegengitter versperrten Tür. Neben der Tür auf dem Fenstersims stand ein altes Zeiss Fernglas, was er manchmal benutzte, um Orcas zu beobachten. Sie kamen selten dicht an die Küste heran. Er hatte vor Wochen vergessen, es mit hineinzunehmen. Wieder klingelte das Telefon. Ihm würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als ranzugehen. Es kannten nicht viele diese Nummer. Er stand auf und sah noch mal kurz zu den Grauwalen hin, dann stellte er die halbvolle Bierflasche auf der Armlehne der Bank ab und ging hinein. Das Telefon stand auf einem zierlichen, zerbrechlich wirkenden Tischchen im Flur, zwei Schritte von der Verandatür entfernt. Es war eines dieser Telefone im altmodischen Nostalgiedesign, die man aus den Filmen der 40er Jahre kannte. Er nahm den Hörer von der Gabel und ging ran: »Johnson«, meldete er sich kurz angebunden.

»Wie steht es um die Angelegenheit, um die ich Sie gebeten habe?«, sagte eine kratzige Stimme ohne sich vorzustellen. Das war auch nicht notwendig. Johnson wusste, mit wem er es zu tun hatte.

»Mister O’Rourke, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Es ist alles eingeleitet.«

»Keine Sorgen machen?«, höhnte der Mann am anderen Ende des Telefons. »Wenn Sie das nicht geregelt bekommen, verbringe ich vermutlich die nächsten dreißig Jahre im Knast. Sie wissen, was das bedeutet!«

Ja, Brian Johnson wusste, was es bedeutete. Sean O’Rourke war jetzt Ende sechzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass O’Rourke nach dreißig Jahren Gefängnis noch einmal einen Starbucks Kaffee in Freiheit genießen würde, wäre sehr gering. Die Stimme am anderen Ende der Leitung riss ihn aus den Gedanken.

»Brian, ich muss Sie nicht darauf aufmerksam machen, dass Sie meine Verurteilung nicht lange überleben werden.«

O’Rourke legte theatralisch eine Kunstpause ein.

»Um es deutlich zu sagen, Brian, wandere ich in den Knast, wandern Sie in die Kiste. Sie verstehen das sicherlich. Es ist nichts Persönliches.«

O’Rourke lachte heiser und legte er auf.

Johnson stand noch einen kurzen Moment schweigend mit dem Hörer in der Hand da und verfluchte wieder einmal den Tag, an dem er sich mit dem Iren eingelassen hatte. Er schüttelte sich und legte den Hörer auf. Nachdenklich ging er auf die Veranda und setzte sich wieder auf die breite Sitzbank, dabei das Bier von der Lehne nehmend. Nichts Persönliches, dachte Johnson. So einen Scheiß kann auch nur ein Ire von sich geben, der zu viele Mafiafilme gesehen hat. Er sah hinaus auf den Pazifik. Die kleine Walfamilie tummelte sich immer noch dort. Er mochte Wale. Sie hatten Stärke, sie hatten etwas Beruhigendes. Eine Fontäne spritzte auf. Mit dem Beobachten der Wale kam auch sein Frieden zurück. Genau aus diesem Grunde hatte er dieses Haus gekauft. Hier fand er ihn. Es wird schon alles klappen, sagte er sich. Inzwischen waren die Wale weiter auf den Pazifik hinausgeschwommen. In ein paar Minuten würden sie nur noch kleine schwarze Punkte auf der glitzernden Oberfläche des Meeres sein, bis sie dann ganz verschwunden waren.

***

Clarisse Morgan sah wieder auf die Uhr. Sie wirkte nervös.

»Was schaust du eigentlich immer auf die Uhr, Schatz. Hast du noch etwas vor?«, fragte Connor Rooney und sah dabei seine Freundin fragend an.

»Nein, nichts. Oder doch«, verbesserte sie sich gleich wieder. »Ich wollte noch etwas shoppen gehen.«

Er runzelte die Stirn, dann zuckte ein kurzes Lächeln in seinen Mundwinkeln auf. »Okay, ich komme mit.«

»Wirklich?« Sie rümpfte skeptisch ihre sommersprossige Stupsnase. »Du hasst shoppen. Willst du nicht lieber hier warten?«

»Nein, ich komme mit«, erwiderte er nachdrücklich.

»Wirklich?« Sie sah ihn unsicher an.

Er lachte. »Ich bringe dich damit scheinbar aus der Fassung.«

Er umfasste ihre schlanke Taille und zog sie dicht zu sich heran. Dann gab er ihr einen sanften Kuss, den sie erwiderte.

Plötzlich stieß sie ihn leicht von sich und sagte lachend: »Na, dann los.«

Er griff sich die elektronische Zimmerkarte vom Tisch. Sie hatten die Suite im ›The Nines‹ in Portland für eine Woche gebucht, ein Fünf Sterne Hotel mit einem Restaurant in der obersten Etage und angeschlossener Dachterrasse. Connor Roony hatte sie beide unter falschem Namen eingecheckt, was ihn bei dem Herrn mit dem schmalen Oberlippenbart an der Rezeption ein nicht unerhebliches zusätzliches Sümmchen gekostet hatte. Er hoffte, dass sich die Angelegenheit, wegen der er sich unter falschem Namen in diesem Hotel eingemietet hatte, in einer, spätestens aber in zwei Wochen erledigt hatte. Bis dahin wollte er es so luxuriös wie möglich haben. Und dann war da noch Clarisse.

»Dann wollen wir mal. Wo möchtest du hin?«, fragte er.

»Wir könnten die Morrison oder die SW 5th Avenue hinunterlaufen. Da soll es einige gute Geschäfte geben.«

Er hob die Augenbrauen. »Sagt wer?«

»Eine Freundin.«

»Hört sich kostspielig an.«

Sie verzog ihre rot geschminkten Lippen zu einem Schmollmund.

»Okay, ich steck genug Geld ein«, sagte er lachend und ging zum Safe, der im Wandschrank versteckt untergebracht war, und nahm ein Bündel Geldscheine heraus.

»Wir können doch die Kreditkarten nehmen.« Sie sah ihren Freund erstaunt an.

»Nur Bares ist Wahres«, antwortete er ihr ausweichend. Sie zuckte gleichgültig mit der Schulter. Was für ein blöder Spruch. Eigentlich war es ihr egal, womit er ihre Ausgaben beglich. Und wenn es für ihn Bargeld sein soll, dann war es eben so. Sie drehte sich beschwingt um und öffnete die Zimmertür.

Nach einer Stunde und zwei Geschäften hatte Connor Roony die Nase voll. Er musste zugeben, Clarisse hatte recht gehabt. Er hasste shoppen. Er ging zu Clarisse, die sich gerade ein dünnes Kleid vor ihren schlanken Körper hielt und sagte: »Schatz, ich hoffe, du hast nichts dagegen...«

»Du willst schon gehen?«, unterbrach sie ihn. Ihre Augen blitzten.

»Ja, ich muss noch ein paar Telefonate erledigen«, log er. Sie konnte es ihm an der Nasenspitze ansehen. Er zog das Bündel Geldscheine aus der Hosentasche und reichte es ihr.

»Das dürfte für eine vergnügliche Shoppingtour reichen.«

Sie jauchzte auf, nahm das Geld und stopfte es in ihre kleine, mit Perlen besetzte Handtasche. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

»Ich werd nach den Telefonaten in der Bar im Hotel auf dich warten, mir dort ein, zwei Drinks genehmigen.«

»Es ist erst Mittag.«

»Bis du zurück bist nicht mehr«, lachte er und löste sich von ihr. Sie entließ ihn mit einem koketten Augenaufschlag.

Als er den Laden verließ, drehte er sich noch einmal zu ihr um. Sie stand schon beim nächsten Kleid und ließ den leichten Stoff durch ihre Finger gleiten. Lächelnd trat er auf die Morrison Street. Es war ein sonniger Tag. Er starrte kurz mit zusammengekniffenen Augen in den strahlendblauen Himmel, dann sah er die Straße hinauf. Er stellte fest, dass sie wirklich nicht weit gekommen waren. Gerade mal zwei Blocks. Gemächlich schlenderte er im Schatten der Bäume dem Hotel entgegen. Er freute sich auf einen kühlen Drink. An der nächsten Kreuzung musste er kurz stehen bleiben, bis die Fußgängerampel auf Go schaltete. Eine Trimet Bahn fuhr an ihm vorbei. Er fragte sich, in wie viele Geschäften Clarisse wohl noch einkehren würde. Er musste schmunzeln. Wie immer würde sie erst ins Hotel zurückkommen, wenn alles Geld ausgegeben war. So war sie einfach. Er hatte damit kein Problem. Sein Vater besaß genug Geld. Die Ampel schaltete um. Er ging über die Straße. Es waren nur noch wenige Meter. Vor dem Hotel bemerkte er einen Mann mit grauen Haarstoppeln, der eine Zigarette im Mundwinkel stecken hatte und nervös seine Jackentaschen abklopfte. Scheinbar suchte er sein Feuerzeug und fand es nicht. Connor Roony trat auf ihn zu, holte sein Zippo aus der Jacketttasche und reichte es ihm. Der Mann nahm es mit einem dankbaren Lächeln und ließ das Zippo klicken. Die Flamme hielt er an seine Zigarette. Während er an ihr zog, glimmte sie auf. Zufrieden nahm der Mann einen ersten Zug und blies den Rauch in die Luft. Connor Roony hielt seine Hand hin, um das Zippo entgegenzunehmen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, einen dunklen Schatten. Er wollte sich umdrehen, doch dazu kam er nicht mehr. Ihm wurde plötzlich schwarz vor Augen. Dann fühlte er nichts mehr.

***

Connor Roony wachte mit schwerem Schädel auf. Sein Kopf schmerzte. Ihm war heiß und er schwitzte. Der Raum war dunkel. Es drang nur spärliches Licht durch die Ritzen des heruntergelassenen Fensterrollos. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Umgebung. Das Zimmer war kahl. Es beherbergte nur das Bett, auf dem er lag. Langsam erinnerte er sich. An den Mann mit dem hageren Gesicht und der Zigarette im Mund. Er hatte ihm sein Feuerzeug gereicht, dann war ihm schwarz vor Augen geworden. Und jetzt lag er hier. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war er schon hier? Seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen, den pelzigen Geschmack wurde er dadurch nicht los. Plötzlich hörte er es knarren. Es kam nicht aus dem Zimmer. Er vermutete, es waren die Fußbodendielen im Flur. Scheinbar ein altes Haus. Er sah zur Tür, in der Erwartung, dass sie sich öffnen würde. Das tat sie auch. Ein Mann betrat das Zimmer und betätigte den Lichtschalter. Connor Roony blinzelte. Das Licht der nackten Glühlampe, die an der Decke hing, blendete ihn. Es dauerte einen Moment, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Ein Mann mit einer Clownsmaske hatte den Raum betreten. Er war untersetzt, kräftig gebaut und dunkel gekleidet. Schwarze Hose, dunkelblauer Rollkragenpullover. Connor dachte unwillkürlich, der muss doch schwitzen bei der Wärme. Der Mann blieb in der Tür stehen. Dumpf kam es unter der Maske hervor: »Und, ausgeschlafen?«

Connor antwortete nicht darauf. Er sah zu dem Mann hin und fragte: »Wo ist Clarisse?«

»Du meinst das hübsche Ding«, stellte der Clown fest. »Ihr geht es gut, keine Angst.«

Connor Roony sah zweifelnd in die grauen Augen hinter der Clownsmaske.

»Du glaubst mir nicht? Tot nützt sie uns nicht. Sie ist wieder zu Hause bei ihren Eltern, nachdem du sie verlassen hast.«

»Ich hab sie nicht verlassen«, erwiderte Connor matt.

»Das hat dein Schätzchen wohl nach dem Lesen deines Abschiedsbriefes im Hotel anders empfunden.«

Roony jr. sah die Clownsmaske verwirrt an.

»Was für ein Brief?«

Der Clown antwortete nicht. Die dunklen Augen hinter der Maske musterten ihn interessiert.

»Sei froh, dass sie lebt. Wenn alles sauber über die Bühne gegangen ist, kannst du ihr alles erklären und jede Menge Kinder mit ihr machen. Wenn nicht…«

Der Mann musste es nicht aussprechen. Connor Roony konnte sich vorstellen, was dann passieren würde.

»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte er.

»Einen halben Tag.«

Connor nickte, er fühlte sich schwach und hungrig. »Warum bin ich hier?«

Der Clown machte einen kleinen Schritt in den Raum.

»Wie gesagt, noch ein paar Tage. Wenn alles klappt und du dich brav verhältst, lassen wir dich gehen. Vorher müssen wir noch in eine andere Stadt umziehen, in einen anderen Bundesstaat. Die Fahrt wird drei, vielleicht vier Tage dauern. Aber Portland ist für uns und dich nicht sicher.«

»Wollen Sie dabei die Clownsmaske aufbehalten?«, fragte Connor Roony und versuchte zu lächeln.

»Nein, den Transport mit dir werden andere übernehmen. Mein Part ist erfüllt.«

Bullen Blues

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