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Unangreifbar

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Takeo dachte wochenlang über die vergangenen Ereignisse nach, vor allem über seinen Kampf gegen Masaru und das anschließende Gespräch. Nachts lag er oft stundenlang wach und immer wieder ging ihm das Erlebte durch den Kopf.

Eines Morgens machte Takeo einige Besorgungen im Nachbardorf. Unterwegs traf er Shigeru, einen Samurai der Goldenen Schlange im zweiten Grad, der gemeinsam mit Takeo ausgebildet wurde. Sie hatten sich über ein Jahr nicht mehr gesehen. Beide waren gespannt zu erfahren, wie es dem anderen inzwischen ergangen war. Irgendwann berichtete Shigeru von einem alten Mann, der in den Bergen lebt. Von einem Reisenden habe er gehört, dass dieser über eine Kampftechnik verfüge, wie sie sonst nur die Samurai der Goldenen Schlange besäßen. Wer dieser geheimnisvolle alte Mann wäre, darüber konnte er allerdings nichts in Erfahrung bringen. Takeo hörte aufmerksam zu. Sollte dieser alte Mann etwas mit den Antworten zu tun haben, die er suchte?

Takeo fasste einen Entschluss: Er wollte sich auf die Suche nach dem alten Mann in den Bergen machen. Möglicherweise würde es ein schwieriges Unterfangen werden. Es gab hier sehr viele Berge. Er hatte nicht einmal einen Anhaltspunkt, in welchem Gebiet sich dieser Mann aufhalten könnte. Sein Verstand sagte ihm, dass es unmöglich wäre, diesen Mann zu finden, doch sein Herz trieb ihn unaufhörlich, so schnell wie möglich aufzubrechen.

Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg. Wochenlang zog Takeo umher. Jeden, den er unterwegs traf, fragte er nach diesem alten Mann. Doch keiner konnte ihm etwas sagen, das ihn weiterbrachte. Eines Tages begegnete ihm ein eigenartig aussehender Mann. Er war Ende 60, trug einen langen Bart und war seltsam gekleidet. Takeo richtete an ihn die gleichen Fragen, die er allen anderen in den letzten Wochen gestellt hatte. Der Mann sprach in ruhigem Ton: „Komm mit mir! Ich werde Dir die Antworten auf Deine Fragen zeigen.“ Takeo zögerte zunächst, zeigte sich aber dann bereit, mit dem Mann mitzugehen. Vielleicht hatte dieser eigenartige Geselle ja tatsächlich einen wichtigen Hinweis für ihn. Falls nichts Brauchbares dabei herauskommen sollte, dann würde er einfach wieder gehen und woanders weitersuchen. Er hatte nichts zu verlieren, außer vielleicht die Zeit, die er einsetzte.

Beim Gehen fragte Takeo den Mann, was genau er ihm zeigen wolle. Doch der antwortete nur freundlich: „Gedulde Dich ein wenig! Noch vor Anbruch des Abends werden wir am Ziel sein. Morgen wirst Du sehen, wonach Du suchst.“ Takeo und der Mann gingen wortlos einen schmalen Bergpfad entlang. Nach einigen Stunden hatte Takeo großen Durst und wurde hungrig. Er wollte dem Mann gerade vorschlagen, sich auf die Suche nach Nahrung und etwas Trinkbaren zu machen. Da wandte sich dieser sich um: „Du bist durstig. Wir werden den Pfad verlassen. Hinter dieser Felsformation befindet sich eine Quelle.“ Er streckte seine Hand aus und zeigte schräg links nach vorne. „Was Deinen Hunger betrifft, so habe noch ein wenig Geduld. Es ist nicht mehr weit. Am Ziel gibt es genügend Vorräte.“ Takeo stieg hinter dem Mann einen Felsen hinauf. Von oben sah er die andere Seite hinunter und tatsächlich – vor ihm lag eine sprudelnde Quelle. Sie war von unten nicht zu sehen. Aus der Quelle entsprang ein kleiner Bach, der nach wenigen Metern in einer kleinen Höhle verschwand und unterirdisch weiter floss. Es war herrlich erfrischend, von diesem Quellwasser zu trinken.

Nachdem beide getrunken hatten, stiegen sie weiter den Berg hinauf. Nach einer halben Stunde hielt der Mann plötzlich und sagte: „Wir sind angekommen.“ „Wie angekommen?“, dachte Takeo bei sich. Er sah nichts als Felsen und wusste nicht im Geringsten, was sie hier sollten. „Komm mit mir!“, sagte der Mann in freundlichem Ton. Sie gingen um einen Felsen herum. Takeo traute seinen Augen nicht: Dort stand ein Haus – mitten in den Bergen. Die hintere Wand wurde durch einen Felsblock gebildet. Der größte Teil der unteren Hälften der beiden Seitenwände war ebenfalls aus Felsen gehauen. Der Rest der Seitenwände und die vordere Wand waren gemauert. Es gab je ein Fenster in der rechten und in der linken Seitenwand. Vor den Fenstern hingen Fensterläden, die wie die Tür in der vorderen Wand aus Holz waren. Die aus Felsgestein bestehende Bodenfläche links neben dem Haus war begradigt und bildete eine Terrasse. Dahinter lag eine Höhle, an deren Eingang sich eine kleine Feuerstelle befand. In der Höhle selbst lagerten größere Mengen Holz. Daneben lagen mehrere Fässer und einige Werkzeuge.

Takeo kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie war es möglich, aus diesem harten felsigen Boden eine solch ebene Terrasse zu bilden? Das Gleiche galt für den Boden innerhalb des Hauses. Die Felsenwände so weit auszuhöhlen, um ein Haus entstehen zu lassen, muss eine unglaublich langwierige und anstrengende Arbeit gewesen sein. Und wo kam das ganze Holz her? Es gab zwar einen Wald in Sichtweite, doch dieser lag sehr weit unten am Berg. Wie hatte der Mann es geschafft, das Holz nach oben zu transportieren?

Der Mann bat Takeo, in das Haus einzutreten und forderte ihn auf, darin Platz zu nehmen und ein wenig auszuruhen. Er würde währenddessen einige Vorbereitungen treffen. Nach einiger Zeit rief der Mann, Takeo möge zu ihm auf die Terrasse kommen. Dort hatte der Mann eine Decke ausgebreitet und darauf gebratenes Fleisch und Tee serviert. Selten hatte Takeo ein Mahl mit einem solchen Genuss verspeist, wie an diesem Abend. Inzwischen war die Dämmerung eingetreten und er hatte seit den frühen Morgenstunden keine Nahrung mehr zu sich genommen.

Nach dem Essen sprach der Mann: „Ich weiß, wer Du bist und habe Dich erwartet. Yuudai hat mir viel über Dich erzählt. Ich wusste, nichts würde Dich davon abhalten, das Geheimnis zu ergründen.“ „Du kennst Yuudai?“, fragte Takeo verwundert. Der Mann goss erneut Tee in die beiden vor ihm stehenden Trinkgefäße. „Yuudai war mein Lehrer. Er sagte mir kurz vor seinem Tod, dass ein Samurai in seinem letzten Ausbildungsdurchgang dazu berufen wäre, unser Werk fortzuführen.“ „Dann bist Du …“, Takeo stockte einen Moment und formulierte seine Frage anders: „Dann gehörtest Du zum ersten Durchgang der Goldenen Schule, oder?“ Der Mann erwiderte mit einem milden Lächeln: „Du hast Recht. Mein Name ist Katsumi. Ich bin Samurai der Goldenen Schlange. Morgen früh werde ich beginnen, Dich in die Geheimnisse einzuweihen, nach denen Du suchst.“

In der Nacht fand Takeo nicht viel Schlaf. Er lag stundenlang wach und dachte darüber nach, was ihn am nächsten Tag erwarten würde. Erst weit nach Mitternacht schlief er ein. Viereinhalb Stunden später, als die Morgendämmerung hereinbrach, war er wieder hellwach. Auch der alte Mann war bereits auf den Beinen und hatte auf der Terrasse Tee und etwas Essen zubereitet. Takeo und Katsumi nahmen sich viel Zeit für ihr Frühstück. Die meditative Ruhe Katsumis übertrug sich zunehmend auf Takeo und dessen aufgeregte Spannung verwandelte sich mehr und mehr in Gelassenheit. Seine neugierige Erwartung blieb weiter bestehen, doch er spürte eine ruhevolle Gewissheit, dass am heutige Tag etwas geschehen würde, dass ihn weiterbrächte.

Nach dem Essen fragte Takeo neugierig: „Wie viele Samurai der Goldenen Schlange brachte Euer Durchgang hervor?“ „Bei uns waren es fünf, von denen drei im folgenden Jahr auch den zweiten Grad erhielten“, antwortete Katsumi. „Auch bei uns erlangten fünf Kämpfer den ersten Rang und es waren sogar vier, die in den zweiten Grad erhoben wurden. Dann wart Ihr am Anfang genauso gut wie wir, allerdings waren wir später die Besseren“, erwiderte Takeo mit einem schelmischen Grinsen und ergänzte: „Außerdem gab es bei uns eine Besonderheit, die es nie zuvor gegeben hatte. Sehr selten erreichte jemals ein Samurai den dritten Grad. Bei uns ist dies gleich zwei Kämpfern gelungen.“ Katsumi konterte schmunzelnd: „Du meinst also, noch nie hätten zwei Samurai gleichzeitig den dritten Grad erreicht? Und wenn ich Dir nun sage, dass es bei uns sogar drei geschafft haben?“ Das Grinsen auf Takeos Gesicht verschwand plötzlich und verwandelte sich in Erstaunen: „Wirklich? Bei Euch gab es drei Samurai der Goldenen Schlange im dritten Grad? Das ist wirklich beachtlich. Gestatte mir eine weitere Frage: Masaru und ich haben sogar den vierten Grad erlangt. Waren wir die Einzigen oder gab es auch bei Euch jemanden, dem das gelang?“

Katsumis Gesichtsausdruck wurde ernst, doch seine Stimme blieb ruhig und freundlich: „Alle drei sind in den vierten Grad erhoben worden.“ „Ist das wahr? Es gab bei Euch wirklich drei Unbesiegbare? So wie Du redest, hört es sich an, als wärest Du einer dieser drei. Stimmt das?“ Katsumi nickte nur und Takeo fuhr fort: „Yuudai sagte zu Masaru und mir, der vierte Grad sei nicht der höchste, den man erreichen könne. Kannst Du mir Näheres dazu sagen?“ Katsumi schwieg für einen Moment. Dann zog er seine Jacke aus. Takeo hatte einiges gesehen und gehört, das ihn in Erstaunen versetzte. Nun aber war er für mehrere Minuten sprachlos. Er zählte sieben tätowierte Schlangen auf Katsumis Arm.

Nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte, fragte er mit zitternder Stimme: „Wie ist so etwas möglich? Sieben Schlangen … Ich habe mir viele Gedanken gemacht, was der fünfte Grad sein würde, falls es ihn gäbe. Welche Fähigkeiten könnte ich noch erlernen, die ich nicht schon besäße? Und nun erfahre ich, dass es sogar einen siebten Grad gibt. Das übersteigt all mein Vorstellungsvermögen. Ich gehöre als Samurai im vierten Grad doch bereits zu den Unbesiegbaren. Was kann größer sein als unbesiegbar?“ Katsumi sah Takeo tief in die Augen: „Unangreifbar ist mehr als unbesiegbar. Aber selbst das ist noch nicht das letzte Geheimnis.“ „Ich verstehe nicht, wovon Du sprichst“, erwiderte Takeo verwirrt. Katsumi erhob sich und sagte: „Was Du gleich sehen wirst, gibt Dir eine Vorstellung davon. Nimm Dein Schwert und komm mit zur Mitte der Terrasse!“

Takeo tat, wie der alte Mann ihn hieß und stellte sich mit seinem Schwert in Position. Katsumi sprach mit fester Stimme: „Gleich werde ich Dich auffordern, mich anzugreifen.“ „Nein Katsumi, das wäre ein ungleicher Kampf. Du magst früher ein besserer Kämpfer gewesen sein als ich. Aber Du bist inzwischen alt geworden und Deine Kräfte haben nachgelassen. Deine Kampfkunst mag hervorragend sein, doch mit meiner Schnelligkeit kannst Du nicht bestehen.“ „Du hast nichts zu bedenken, Takeo. Ich kann nicht von Dir besiegt werden und das hat nichts mit meinem Alter zu tun. Konzentrier Dich und stell Dir vor, ich wäre ein junger und starker Kämpfer und es ginge bei unserem Kampf um Leben und Tod! Nimm dieses Gefühl ganz in Dich auf. Wenn Du völlig davon durchdrungen bist, greif mich mit Deinem Schwert an!“

Anfänglich fiel es Takeo schwer, dieser Aufforderung Raum zu geben. Er wollte Katsumi auf keinen Fall verletzten. Doch dann vertraute er darauf, dass der alte Mann schon wusste, was er tat. Takeo schaltete alle Hemmungen aus und begab sich tief in das Gefühl, einen Kampf gegen einen starken Gegner zu führen, bei dem es um Leben und Tod ging.

Dann griff er Katsumi an. Doch so sehr Takeo sich auch bemühte, seinen Gegner zu treffen, es gelang ihm nicht. Katsumi wich seinen Schlägen entweder blitzschnell aus oder wehrte sie geschickt mit seinem Schild ab. Das alles tat er, ohne ein einziges Mal das Schwert zu benutzen. „Du siehst, es geht auch ohne Waffen“, rief Katsumi und legte sein Katana zur Seite. „Los Takeo, greif mich noch einmal an!“ Was Takeo auch unternahm, er hatte keine Möglichkeit, Katsumi auch nur annähernd gefährlich zu werden. Wieder sprach der alte Mann mit lautem Ton: „Um gegen Dich zu bestehen, benötige ich auch kein Schild.“ Er legte sein Schutzschild ebenfalls ab.

Was nun geschah, war schon fast eine Demütigung für Takeo. Katsumi wich auch weiterhin allen Schlägen Takeos aus und benötigte dafür keine Schutzmaßnahmen. Er musste sich dafür nicht einmal besonders anstrengen. Alles wirkte leicht und spielerisch. Takeo beendete seine Angriffe und sagte resignierend: „Ich weiß nicht, wie Du es machst, doch ich kann Dich einfach nicht treffen. Ich glaube, ich verstehe jetzt: Du zeigtest mir zuerst, wozu ein Samurai im fünften Grad in der Lage ist. Als Du Dein Schwert ablegtest, bekam ich einen Eindruck davon, welche Fähigkeiten ein Kämpfer im sechsten Grad besitzt. Zuletzt bist Du sogar ohne Schild meinen Schlägen ausgewichen. Das war wirklich meisterhaft und Du bist unangreifbar, wie Du vorhin sagtest. Das gab mir einen Einblick, was man im siebten Grad vermag.“

Katsumi kniff seine Augen leicht zusammen und sagte nun etwas Überraschendes: „Du irrst Dich, Takeo. Was Du gerade erlebt hast, hat nichts mit dem sechsten und dem siebten Grad zu tun. Das Ausweichen vor allen Angriffen hatten wir bereits gelernt, bevor uns Yuudai in den fünften Grad erhob.“

Nun war Takeo völlig verwirrt. Was er sah, hätte er niemals für möglich gehalten. Und es sollte sogar noch etwas Größeres geben? Er resignierte bei dem Versuch herauszufinden, was ihn erwartete. Nicht einmal ansatzweise konnte er es erahnen. Katsumi sprach Worte, die erhaben klangen: „Ich sehe, Du bist endlich offen für das große Geheimnis. Nun zeige ich Dir die Möglichkeiten, die sich im sechsten Grad eröffnen. Ich werde meine Augen schließen und nach kurzer Zeit meine rechte Hand erheben. Das soll das Zeichen für Deinen Angriff sein.“

Katsumi nahm einige tiefe Atemzüge. Mit geschlossenen Augen hob er seine Hand. Takeo griff ihn mit seinem Schwert an. Doch diesmal wich Katsumi nicht vor den Hieben aus. Obwohl das Schwert sehr gezielt auf den Kopf Katsumis zu schnellte, traf es eigenartigerweise nicht. Es verfehlte sein Ziel, als würde eine unsichtbare Kraft die Schläge in eine andere Richtung lenken. Takeo machte noch einige weitere Versuche, doch es war immer das Gleiche. Was war das? Magie? Zauberei? Takeo bekam ein Schaudern am ganzen Körper. Er fühlte sich, als würde er in eine andere Welt eintauchen.

„Kommen wir zum siebten Grad“, sagte Katsumi, während seine Augen auch weiterhin geschlossen blieben. „Wenn ich wieder meine Hand erhebe, sollst Du mich erneut angreifen.“ Katsumi gab das Zeichen. Takeo wollte gerade sein Schwert zum Angriff erheben und dabei seinen rechten Fuß einen Schritt nach vorne setzen. Doch was war das? Es war nicht möglich. So sehr er sich auch bemühte, er konnte weder seinen Arm erheben noch sein Bein bewegen. Wie erstarrt stand er da. Arme und Beine gehorchten seinen Befehlen nicht mehr. Er trat einen Schritt nach hinten, ging anschließend ein wenig zur Seite um dann erneut vorwärts zu gehen. Er tat zwei Schritte auf Katsumi zu und erstarrte erneut. Völlig gleich, von welcher Seite er sich Katsumi näherte, war er etwa drei Schritte von ihm entfernt, konnte er sich nicht weiter nach vorne bewegen. Ein unsichtbares Energiefeld zog sich wie ein Kreis um Katsumi und verhinderte, dass irgendetwas an ihn herankam.

Takeo nahm einen Stein und versuchte ihn auf Katsumi zu werfen. Auch das schlug fehl. Befand sich Takeo in der Nähe des Energiekreises, dann verließ der Stein seine Hand nicht, so sehr er sich auch anstrengte. Trat er zurück, konnte er zwar werfen, doch der Stein senkte sich kurz vor dem Energiefeld zu Boden.

Takeo rief überwältigt: „Was bist Du? Ein Zauberer? Ein Gott?“ Katsumi öffnete seine Augen: „Gewiss bin ich kein Gott. Es sind auch keine magischen Kräfte auf mich niedergefallen und haben mir übersinnliche Mächte verliehen.“ Takeo erwiderte skeptisch: „Wie kann so etwas geschehen, wenn das keine übernatürlichen Kräfte waren und alles nichts mit Magie zu tun hat? Kein Sterblicher ist zu solchen Wundern fähig.“ „Nun Takeo, es waren sicherlich besondere Kräfte, allerdings nicht so, wie Du denkst. Es hat mit dem Geheimnis des Lebens zu tun.“

„Das Geheimnis des Lebens?“ „Ja, Takeo. Unser Leben ist wie ein Traum. Wenn Du träumst, empfindest Du alles so, als würde es wirklich geschehen. Du fühlst Freude oder Trauer, Du lachst oder hast Schmerzen. Alles ist für Dich Realität. Dann wachst Du auf. Nun bist Du in einer anderen Wirklichkeit und lässt die Welt des Traumes zurück. Du erlebst den Zustand des ‚Erwacht seins’ anders als das Erleben Deines Traums. Auch stehen Dir andere Möglichkeiten offen. Du kannst Dinge planen und Deine Vorhaben langfristig umsetzen, während Du im Traum aus dem Moment heraus lebst. Manche Dinge, die Dir im normalen Leben verwehrt sind, kannst Du wiederum nur im Traum erleben. Viele Menschen träumen manchmal davon, wie sich ihr Körper vom Boden löst und in die Lüfte erhebt. Manche schweben sachte über der Erde und andere fliegen schnell in die Wolken.“

„Das ist wahr“, warf Takeo ein. „Ich habe auch schon des Öfteren geträumt, dass ich in der Luft über sonnige Landschaften schwebe. Ich sehe dann herrliche Wälder, schöne Wiesen und erblicke Menschen und Tiere unter mir, die mir nicht viel größer als ein Reiskorn erscheinen. Aber was hat das mit dem Geheimnis des Lebens zu tun?“ Katsumi entgegnete gelassen: „Ich werde Deine Frage gleich beantworten. Leg Deine Waffen ab und komm mit zur Feuerstelle! Dort werde ich für uns etwas Tee zubereiten und wir können auf einer Decke Platz nehmen.“

Nachdem Katsumi seine Vorbereitungen getroffen hatte, griff er die Frage Takeos auf: „Unser Leben ist wie ein Traum, aber anders, als wenn wir schlafen. Es gibt im Leben auch ein Erwachen. Normalerweise kennen wir nur zwei Zustände: Entweder wir träumen oder wir sind wach. In unserem Leben scheint es jedoch mehrere Stufen des Erwachens zu geben. Wahrscheinlich werden wir während unseres irdischen Lebens nie vollständig wach. Nehmen wir an, es gäbe sieben Stufen der Erwachens, genau wie es unsere sieben Grade gibt. Viele Menschen werden zu Lebzeiten keine dieser sieben Stufen erleben, einige erfahren die erste Stufe, manche die zweite, einige wenige vielleicht noch weitere. Ich bin davon überzeugt, dass ein gewisser Teil des Menschen niemals stirbt. Um unserem unsterblichen Teil einen Namen zu geben, nenne ich ihn ‚Geistseele’. Sterben wir, dann verlässt unsere Geistseele unseren Körper und existiert in einer anderen Daseinsform weiter. Wie diese Daseinsform aussieht, vermag ich nicht zu sagen. Die Geistseele ist unser wahrhaftes Wesen und kann niemals ausgelöscht werden. Manche glauben, dass wir im Himmel weiterleben, einige sprechen vom Ruhen im Totenreich6 und andere sind davon überzeugt, dass wir nach einer gewissen Dauer erneut auf der Erde inkarnieren.7 Was davon zutrifft, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass wir nach unserem Ableben dieses vollständige Erwachen erfahren werden.“

„Wenn es sieben Stufen des Erwachens gibt, dann kann man aber doch zumindest die ersten sechs noch zu Lebzeiten erfahren.“ „Genauso ist es, Takeo. Das mit den ‚sieben Stufen’ solltest Du allerdings nicht wörtlich nehmen. Es können genauso gut auch drei, fünf oder zwölf Stufen sein. Dieses Bild hilft uns Menschen, die Dinge besser zu verstehen. In Wahrheit gibt es diese Einstufung nicht.“

Takeo überlegte einen Moment und fragte dann neugierig: „Was erfährt man denn beim Erwachen und wie geht das vor sich?“ „Nun Takeo, es ist so, als wenn sich ein Schleier von Deinem Auge entfernt und Du erkennst Dinge, die Dir zuvor verborgen waren. Was Du genau erfährst und wie das vor sich geht, darauf kann ich Dir keine umfassende Antwort geben. Er gibt eine Fülle von Erfahrungen, die uns auf vielfältige Weise begegnen können. Viele neigen dazu, ein Ereignis, das ihr eigenes Leben bereichert und verändert hat, anderen als Allheilmittel anzupreisen. Wenn ich jemandem ein Kleidungsstück von mir gebe, dann wird es ihm jedoch nur dann passen, wenn dieser Mensch ungefähr die gleiche Größe und den gleichen Körperumfang hat wie ich. Ist das nicht der Fall, ist ihm meine Kleidung entweder zu groß oder zu klein. Genauso lassen sich unsere Erfahrungen auch nicht beliebig auf andere übertragen. Doch es gibt göttliche Gesetze, denen wir allen unterworfen sind. Diese Prinzipien gelten jederzeit und sind für jeden Menschen anwendbar. Wenn ich mit diesen Gesetzen in Einklang lebe, dann verändert sich mein Leben zum Guten.“

„Ich verstehe immer noch nicht, Katsumi. Ich habe gerade erlebt, dass Du unangreifbar bist. Es war eine unglaubliche Macht, die Dich beschützt hat. Über eine solche Macht würde ich auch gerne verfügen. Nun sprichst Du vom Geheimnis des Lebens, von Träumen, von Erfahrungen und von göttlichen Gesetzen. Mir ist noch nicht klar, was diese Dinge miteinander zu tun haben.“ Katsumi lächelte und sprach freundlich: „Du hast eine Macht gesehen, die mich beschützte und das hat Dich fasziniert. Aber glaub mir, Macht erfüllt unser Leben nicht, obwohl jeder Mensch danach strebt, mächtig zu sein. Nur ist es nicht allen bewusst, weil einige es nicht ‚Macht’ nennen, sondern ‚Einfluss’. Den Wunsch nach Einfluss trägt jeder Mensch in sich. Übten wir diesen nicht aus, gäbe es keinen Fortschritt und keine Verbesserungen. Auch würden wir nicht mit anderen verhandeln um unser Anliegen durchzusetzen. Allerdings sind manche Menschen so besessen davon, Macht zu erlangen, dass sie dem alles andere unterstellen. Doch am Ende müssen auch sie erkennen, dass ihre Macht sie nicht glücklich werden lässt.“

„Und worin liegt dann unser Glück?“, fragte Takeo ein wenig enttäuscht. „Du findest nie auf Dauer Dein Glück im Außen, Takeo. Wenn Dir Dein Glück nicht im Innen begegnet, ist Deine Suche vergeblich.“ „Ich begreife einfach nicht, was Du sagst, Katsumi. Soll ich allem Irdischen abschwören? Als Junge lernte ich einige Mönche kennen. Sie hatten sich genau danach ausgestreckt. Ist das der Weg?“ „Das ist ein möglicher Weg, Takeo, jedoch ein sehr beschwerlicher. Wenn die Mönche ihr Glück auf diese Weise anstreben, mögen sie das tun. Ich rate Dir einen anderen Weg.“ „Wo finde ich ihn und wohin führt er?“, fragte Takeo ungeduldig. „Du möchtest viel wissen, Takeo. Das ist gut so und Du wirst Deine Antworten bekommen. Aber übe Dich in Geduld! Wir haben viel Zeit. Du kannst eine Weile bei mir bleiben und ich werde Dir das Geheimnis des Lebens näher bringen. Warte hier einen Augenblick. Ich will Dir etwas sehr Kostbares zeigen.“

Das Geheimnis des Lebens

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