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Die geheimnisvolle Schriftrolle
ОглавлениеKatsumi stand auf und ging in sein Haus. Nach einer Weile trat er wieder heraus. In seinen Händen trug er eine Truhe, die er vor Takeo stellte. Er öffnete sie und nahm zwei Schriftrollen heraus, die er auf der Decke ausbreitete. Takeo sah sie sich eine Weile an und stellte anschließend fest: „Diese beiden Rollen sind sehr unterschiedlich. Ich kann weder die eine, noch die andere lesen. Auf der kleineren stehen Schriftzeichen, wie die Mongolen sie verwenden. Solche Zeichen, wie diese auf der größeren Rolle, habe ich noch nie gesehen.“
Katsumi sprach voller Stolz: „Diese Schriftrollen sind von unschätzbarem Wert. Yuudai hat sie mir kurz vor seinem Tod anvertraut. Mehr als 300 Jahre lang befanden sie sich in seinem Familienbesitz. Einer seiner Vorfahren hieß Daiki. Er war ein Samurai im Dienste des japanischen Kaisers. Eines Tages starteten die Mongolen eine Invasion8 auf unser Land. Als der Kaiser erfuhr, dass eine große mongolische Flotte bereits in der Hakata-Bucht9 gelandet war, beauftragte er Daiki und einige andere erfahrene Samurai, die einheimischen Streitkräfte bei der Verteidigung des Landes zu unterstützten. Diese Krieger wandten eine besondere Taktik an: Sie gelangten nachts mit kleinen Booten in die Bucht, wo die mongolische Flotte lag. Unter dem Schutz der Dunkelheit schlichen sie sich auf die feindlichen Schiffe, töteten so viele Feinde wie sie konnten und zogen sich vor der Morgendämmerung wieder an Land zurück. Diese Vorgehensweise zwang die Mongolen zum Rückzug nach Tsushima10, wo sie auf Verstärkung warteten. Auch weitere Angriffe, sowie eine zweite mongolische Invasion einige Jahre später, konnten Japan nicht in die Knie zwingen. Die Kämpfe hätten allerdings auch einen anderen Ausgang haben können. In einer fast aussichtslosen Situation kam den Japanern ein gewaltiger Sturm zu Hilfe und vernichtete sehr große Teile der mongolischen Flotte verheerend.“
„Ich nehme an, diese Schriftrollen wurden von den Mongolen erbeutet.“ „Ganz genau, Takeo. Bei einem nächtlichen Überfall gelangten die Samurai zu einem Schiff, auf dem fast die gesamte Mannschaft schlief. Die wenigen Wachleute wurden von den Japanern lautlos ausgeschaltet, noch bevor sie Alarm schlagen konnten. Was sich danach ereignete, kann man kaum als Kampf bezeichnen. Die japanischen Samurai waren zwar zahlenmäßig unterlegen, konnten jedoch mühelos die völlig überraschten und unvorbereiteten Mongolen innerhalb kurzer Zeit töten. Bevor sich die Samurai wieder zurückzogen, durchsuchte Daiki die Kabine des mongolischen Kommandanten. Er entdeckte mehrere Truhen mit Kleidung und wertvollen Gegenständen. Er war überrascht, derartige Dinge auf einem Kriegsschiff zu finden. In einer der Truhen fand er Goldstücke, einige Edelsteine und die Schriftrollen. Diese Truhe nahm er mit. Nachdem sich die Mongolen vollständig aus Japan zurückgezogen hatten, kehrte Daiki zurück an den kaiserlichen Hof. Der Kaiser wollte Daiki für seine ruhmreichen Taten belohnen und fragte ihn, ob er einen Wunsch hätte. Daiki bat den Kaiser, die Truhe von dem Überfall behalten zu dürfen. Der Kaiser war damit einverstanden. Von dem Gold und einem Teil der Edelsteine kaufte sich Daiki ein großzügiges Anwesen. Die Schriftrollen bewahrte er gut auf. Sie wurden über Generationen weitervererbt, bis sie schließlich Yuudai bekam.“
„Gab es jemanden, der diese Schriftrollen lesen konnte?“, fragte Takeo interessiert. „Ob Daiki oder einer seiner Nachkommen jemals erfahren hat, was in diesen Rollen steht, ist mir nicht bekannt. Yuudai konnte sie zwar nicht lesen, doch er kannte einige Aussagen der großen Schriftrolle. Eines Tages hatte er eine Begegnung mit zwei Fremden. Diese Männer kamen aus einem sehr fernen Land, von dort, wo die Sonne untergeht. Sie nannten sich Missionare und waren eigenartig gekleidet. Weil Yuudai hoffte, von ihnen etwas über den Inhalt dieser Schriften zu erfahren, gewährte er ihnen einen Blick in die Rollen. Sie schienen sich vor allem für die größere Rolle zu interessieren. Als er sie fragte, was darin geschrieben stünde, redeten sie nur herum. Sie meinten, es wäre nichts Bedeutendes und sie verständen auch nicht alles so genau. Die Rolle würden sie aber gerne in ihre Heimat mitnehmen. In ihrem Land gäbe es eine hohe Wertschätzung für derartige Schriftstücke, weil sie aus einer sehr frühen Zeit stammten. Die beiden bedrängten Yuudai, ihnen die Schriftrolle auszuhändigen. Doch er gab nicht nach und behielt die Rollen für sich.“
„Und woher wusste Yuudai, was in der Rolle stand? Die beiden Missionare hatten ihm doch nichts verraten.“ „Ein Jahr später begegnete ihm einer der Missionare erneut. Dieser war im letzten Gespräch zurückhaltender als der andere. Als er ihn erneut nach dem Inhalt der Schriftrolle fragte, wurde der Missionar ganz blass. Nach einigem Zögern begann er ängstlich zu berichten, was sich in der Zeit nach ihrer Begegnung zugetragen hatte. Der andere Missionar schrieb zunächst einen Brief an einen Oberen der Kirche.“ „Was ist Kirche?“, fragte Takeo unwissend. „Die Kirche ist eine Religionsgemeinschaft, die dennoch über weltliche Macht verfügt. Diese Kirche entsandte die Missionare in unser Land. Den Oberen, an den der Brief geschrieben wurde, nannte der Missionar Bischof.“
„Und warum war Yuudai in Gefahr? Hatte der Bischof besondere Kräfte oder verfügte er über eine große Armee? Wie hätte er ihm etwas anhaben können, wenn Yuudai doch genau wie Du unangreifbar war.“ „Nein, Takeo, um diese Dinge ging es hier nicht. Der Missionar erzählte Yuudai, dass der Bischof einen Antwortbrief schrieb. Darin stand, dass die Schriftrolle um jeden Preis in den Besitz der Kirche gebracht werden sollte. Er selbst würde im nächsten Jahr nach Japan reisen und sich der Sache persönlich annehmen. So war es dann auch. Der Bischof machte sich gemeinsam mit dem anderen Missionar und einem weiteren Begleiter auf die Suche nach Yuudai. Sie konnten leicht in Erfahrung bringen, wo er sich aufhielt: in der Goldenen Schule. Vielleicht hast Du sie sogar gesehen. Als die drei Männer Yuudai aufsuchten, befandest Du Dich im letzten Schulungsjahr.“ „Das stimmt, Katsumi. Eines Tages kamen drei Fremde in die Goldene Schule und sprachen mit Yuudai. Er redete kurz mit ihnen, ließ sie aber dann stehen und wandte sich uns wieder zu. Die Männer warteten in Sichtweite bis zum Abend. Am Ende des Schulungstages ging Yuudai zu den Fremden und unterhielt sich erneut mit ihnen. Als die Männer aufbrachen, machten sie einen ärgerlichen Eindruck. Ich vermutete, sie wollten etwas über unsere Kampfkünste erfahren und Yuudai hätte es abgelehnt, ihnen seine Geheimnisse darüber preiszugeben. Nun weiß ich, dass es in Wahrheit um die Schriftrolle ging.“ „Ja, Takeo, die drei Männer bedrängten Yuudai sehr und boten ihm viel Gold für die Rolle. Als das keinen Erfolg hatte, bedrohten sie Yuudai. Bliebe die Schriftrolle weiterhin in seinem Besitz, würde großes Unheil über ihn kommen.“
Interessiert fragte Takeo nach: „Wusste Yuudai zu diesem Zeitpunkt etwas über den Inhalt dieser Rolle? Hatte der andere Missionar ihm vorher etwas darüber verraten? Warum war er bei diesem Gespräch nicht anwesend?“ „Yuudai hatte in der Tat vom Missionar einiges über die Schriftrolle erfahren. Die drei Männer berichteten, dass er inzwischen verstorben war. Yuudai ahnte, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Hatten die Männer etwas über das Gespräch zwischen Yuudai und dem Missionar herausbekommen? Beseitigten sie diesen aus Angst, dass er etwas preisgeben könnte? Der Missionar hatte Yuudai gegenüber deutlich gemacht, dass er sich nicht an Gewaltmaßnahmen der Kirche beteiligen würde, weil sie sich nicht mit seinem Glauben und seinem Gewissen vereinbaren ließen. Vermutlich hatte er diese Haltung auch seinen Oberen gegenüber zum Ausdruck gebracht und sie wurde ihm zum Verhängnis. Was in der Schriftrolle steht, muss so bedrohlich für die Kirche sein, dass ihre Oberen vor nichts zurückschrecken.
Weil Yuudai seinen bevorstehenden Tod erahnte und es in seiner Familie keine männlichen Nachkommen gab, vertraute er die Rolle mir an. Nun bin ich auch nicht mehr der Jüngste. Deshalb gab er mir die Anweisung, Dich in die Geheimnisse der Schriftrolle einzuweihen und Dich alles zu lehren, was ich weiß. Wenn das geschehen ist, sollst Du die Rollen an Dich nehmen und Deiner Berufung folgen. Fortan wird sich nicht nur Dein Leben völlig verändern, sondern auch das Leben aller Menschen, die mit Dir in Verbindung stehen. Es kommt eine Zeit, in der sich die Geheimnisse der Schriftrolle mit anderen Geheimnissen verbinden werden und dadurch sogar die ganze Welt verändert wird. Das wird allerdings nicht mehr zu unseren Lebzeiten geschehen, sondern erst viele Generationen nach uns.“
„Woher wusste Yuudai, dass ich berufen bin, diese Veränderung voranzutreiben?“ „Yuudai spürte, dass Du der Auserwählte bist. Er besaß die Gabe, ins Innerste der Menschen zu schauen. Er erkannte, dass Du offenen Herzens bist und das Besondere suchst.
Nun will ich Dir die Geheimnisse der Schriftrolle anvertrauen. Bevor ich zum Inhalt komme, erzähle ich Dir einige Hintergründe, die Yuudai vom verstorbenen Missionar erfuhr: Geschrieben wurde die Rolle vor sehr langer Zeit von einem weisen Mann. Er berichtete von einem Meister, der über unglaubliche Kräfte verfügte. Zum einen war dieser Herrscher über die Elemente. Er konnte Wasser in Wein verwandeln, über einen See laufen, Kranke heilen und sogar Tote auferwecken. Darüber hinaus lebte er die Liebe wie kein zweiter. Diese Liebe machte er zum Zentrum seiner Botschaft an die Menschen. Jeder, der sein Herz für diese Liebe öffnete, wurde von ihr erfüllt und verwandelte sich selbst ebenfalls in einen Liebenden. Vieles wurde über das Leben des Meisters und seine Lehren niedergeschrieben. Wenige Schreiber kannten ihn noch persönlich, die meisten allerdings nicht mehr. Später wurden einige dieser Schriften ausgewählt und zu einem heiligen Buch zusammengefasst. Die vorhin genannte Kirche wurde vor langer Zeit gegründet. Zu diesem Zeitpunkt lebte niemand mehr, der den Meister noch persönlich kannte. Anfänglich besaß die Kirche noch keine weltliche Macht. Die Nachfolger des Meisters wurden in früher Zeit verfolgt und oft sogar getötet. Einige Generationen später wurde die Verfolgung durch den Kaiser untersagt und weniger als 70 Jahre danach sogar zur Staatsreligion erklärt. Die Kirche gewann im Laufe der Zeit zunehmend an Einfluss und war irgendwann sogar mächtiger als Kaiser, Könige und Fürsten einer großen Anzahl von Ländern.“
„Hat die Kirche immer noch diese gewaltige Macht?“ „Die Kirche, die später den Beinamen ‚die katholische’ bekam, das bedeutet ‚die allgemeine’, ist zwar immer noch mächtig, gerät jedoch zunehmend in Bedrängnis. Sie befindet sich nun in einer Krise, die der weise Mann in der Schriftrolle prophezeite. Eines Tages wird die katholische Kirche eine zweite Krise erleben, die ihren Untergang bedeuten könnte.“
„Die Schriftrolle prophezeit also eine schwierige Zukunft für die katholische Kirche, die sogar ihr Ende bedeuten kann. Nun wollen ihre Oberen unbedingt vermeiden, dass diese Worte bekannt werden.“ „Das ist längst noch nicht alles, Takeo. Die Krisen der katholischen Kirche bilden nur einen kleinen Teil der Aussagen der Schriftrolle. Es stehen dort viele weitere Dinge geschrieben, die einen Machtverlust bedeuten würden. Jahrhunderte lang hat die Kirche den Menschen vorgeschrieben, wie sie zu glauben, zu denken und zu handeln haben. Sie hat die Leute von sich abhängig gemacht und konnte dadurch Macht erlangen. Nun fürchtet die Kirche, dass die Worte der Schriftrolle zu den Menschen gelangen. Wenn diese ihren Sinn begreifen, dann benötigen sie keine Vorschriften mehr und niemanden, der ihnen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Sie brauchen keinen Priester mehr, denn sie selbst sind ihr eigener Priester. Wichtige Erkenntnisse über das wahre Glück und das Geheimnis des Lebens werden durch die Schriftrolle offenbar. Ich durfte bereits etwas von diesen Geheimnissen erleben, denn wir haben einiges von dem, was wir aus der Schriftrolle erfahren haben, in unserem Leben angewandt.“
„Du sprichst von ‚wir’. Meinst Du damit Yuudai und Dich?“ „Takeo, erinnerst Du Dich, dass neben mir noch zwei weitere Samurai in den vierten Grad erhoben wurden? Wir drei ergründeten gemeinsam mit Yuudai die Geheimnisse der Schriftrolle. Manches erschien uns fremd, weil uns die Kultur des Schreibers unbekannt und seine Weisheiten sehr unterschiedlich von den unseren ist. Ein Abschnitt kam uns dennoch vertraut vor. Wir ließen diese Worte in uns wirken und erinnerten uns an eine bekannte Schöpfungsgeschichte. Vor langer Zeit entstand in China die Lehre des Daoismus11, die später auch bei uns in Japan verbreitet wurde. Nach daoistischer Vorstellung entstand die Welt aus dem ursprünglichen Qì12. Bei uns ist es auch als Ki oder Tao bekannt. Am Anfang waren Yin und Yang13 noch vermischt. Himmel und Erde bildeten sich erst durch Trennung des einen: Yang stieg hell und klar empor und wurde Himmel, während Yin dunkel und schwer wurde und zur Erde sank. Qì, Yin und Yang haben bei uns während früherer Meditationen bereits eine Rolle gespielt. Doch was wir durch die Schriftrolle kennengelernt hatten, war überraschend für uns. Nun sollst Du eine Unterweisung bekommen. Das wird der Beginn für Dich sein, die Geheimnisse des Lebens kennenzulernen, die in der Schriftrolle geschrieben stehen. Du kannst wählen, ob die erste Übung im Stehen oder im Sitzen geschehen soll.“
Takeo entschied sich für eine bequeme Sitzposition mit gerader Haltung seines Oberkörpers. Katsumi begann mit der Einführung:14 „Schließe Deine Augen und nimm Deinen Körper wahr. Nun richte Deine Aufmerksamkeit auf den Strom der Kraft, der sich in Deinem Körper befindet. Dieser Strom ist das Qì. Stell Dir nun vor, wie das Qì leicht wird und aufsteigt.“ Katsumi wartete einen Moment und fuhr dann fort: „Was nimmst Du wahr?“ Takeo antwortete mit geschlossenen Augen: „Ich kann tatsächlich fühlen, wie das das Qì leichter wird und nach oben steigt.“ „Lasse nun das Qì ganz bewusst weiter aufsteigen und spüre, was dabei in Deinem Körper geschieht. Achte besonders auf Dein Gesicht, Deinen Brustbereich und Deinen Bauch. Was geschieht nun mit Dir?“ „Mein Gesicht entspannt sich, meine Brust wird leicht und im Bauch spüre ich eine schöne Kraft. Alles fühlt sich weit und frei an.“
„Nun lasse das Qì sinken und schwer werden.“ Wieder wartete Katsumi eine Zeitlang und stellte danach die gleichen Fragen nach dem Körpergefühl. Takeos Antwort klang diesmal beklommen: „Mir ist, als ob meinem Körper die Lebenskraft entzogen wird. Die Muskeln unter meinen Augen und meine Mundwinkel ziehen nach unten. Mein Brustkorb ist eingeengt und auf meinem Bauch liegt ein unangenehmer Druck. Je mehr mein Qì nach unten sinkt, desto größer wird dieser Druck. Nun scheint alles dunkler zu werden. Was geschieht mit mir? Es wird tatsächlich dunkel.“ „Halt ein! Lass nicht zu, dass Du weiter hinunter sinkst, Takeo! Sorge dafür, dass Dein Qì wieder leicht wird und aufsteigt.“ Takeo tat, wie ihm gesagt wurde. Während er seine Energie wieder hochzog, veränderten sich sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung.
Katsumi erläuterte ihm einige wichtige Dinge: „Als wir diese Übung zum ersten Mal durchführten, ging es uns ähnlich. Bei mir begann es dunkel zu werden und ich habe daraufhin mein Qì sofort wieder aufsteigen lassen. Einer von uns zog jedoch noch weiter hinunter und alles in ihm wurde völlig dunkel. Er fiel daraufhin in Ohnmacht. Wir waren sehr besorgt, weil wir nicht wussten, was geschehen war. Nach einer Weile kam er wieder zu sich. Er ließ sein Qì sofort aufsteigen und sein Körper wurde nach kurzer Zeit wieder mit Kraft erfüllt. Wir waren froh, dass er keinerlei Schaden erlitten hat. Seitdem haben wir unser Qì nie wieder so weit hinabsinken lassen, denn wir wollten nicht die Kontrolle verlieren. Nach einiger Zeit gelang es uns, das Qì absinken zu lassen, ohne diese Enge und Dunkelheit zu erleben. Auf diese Weise führt es zur Ruhe und ist sehr entspannend. Mit dieser Übung werde ich Dich in den nächsten Tagen vertraut machen. Zunächst ist es wichtig, dass Du die Unterschiede zwischen der aufgestiegenen Weite und der hinabgestiegenen Enge kennenlernst. Nun lass es noch weiter aufsteigen, diesmal noch schneller und kräftiger als vorher.“
„Das ist erstaunlich, Katsumi. Jetzt wird alles ganz hell und mein Körper ist erfüllt mit Frische, Freiheit und Kraft. Es ist, als würde sich mein Brustkorb nach vorne ausweiten und alles fühlt sich frei, weit und liebevoll an. Und nun muss ich lächeln, obwohl ich mir das gar nicht bewusst vorgenommen habe. Es geschieht einfach so. Du sagtest am Anfang, ich könne bei dieser Unterweisung stehen oder sitzen. Ist es auch im Liegen möglich?“ „Probier es aus!“ Takeo legte sich auf die Decke und schloss erneut seine Augen. Nach einiger Zeit begann er zu reden: „Es geht nicht. Das Qì steigt nicht nach oben – doch halt – jetzt spüre ich, dass es möglich ist, jedoch nicht so, wie ich dachte: Beim Liegen muss ich es nicht zum Himmel aufsteigen lassen, sondern zu meinem Kopf hin und darüber hinaus.“ Katsumi sagte erfreut: „Du entdeckst vieles selbst, ohne dass ich Dich unterweise. Wenn Dein Qì nun wieder aufgestiegen ist, dann gestatte Deinem Herzen, sich zu öffnen.“ „Wie soll ich das tun, Katsumi?“ „Wenn Du es nicht genau weißt, dann stelle Dir einfach vor, dass Dein Herz sich öffnet.“
Nach einiger Zeit meldete sich Takeo erneut zu Wort: „Ich habe getan, was Du gesagt hast. Während ich mir vorstellte, wie sich mein Herz öffnet, habe ich zunächst nichts Besonderes vernommen. Nun aber spüre ich, wie mein Herz leicht und frei wird. Das geschieht ganz wie von selbst. Ich fühle Liebe.“ „Das ist sehr schön, Takeo. Nun lasse Dein Qì wieder hinabsteigen und nach einer kurzen Weile erneut hoch.“ „Gern würde ich es jetzt nur noch aufsteigen lassen. Hinuntersteigen ist nicht angenehm.“ „Für Deine weiteren Schritte ist es wichtig, dass Du den Unterschied in Deinem Inneren spürst. Mach ein wenig weiter damit! Du wirst merken, es lohnt sich für die lebensverändernde Kraft, die Du noch erfahren wirst.“
Das ließ sich Takeo nicht zweimal sagen. Diese Aussicht beflügelte ihn ungemein. Er ließ das Qì noch einige weitere Male hinuntersteigen und anschließend wieder hoch, bis ihn Katsumi schließlich unterbrach: „Öffne nun Deine Augen und zerstreue ein wenig Deine Gedanken. Denke danach an etwas, das Dir in der Vergangenheit schlechte Gefühle bereitete, Dir aber nicht allzu viel bedeutet. Es sollte sich also nicht um Deinen größten Schmerz handeln.“
Takeo erinnerte er sich an eine Begebenheit aus seiner Zeit, als er seinen Dienst als Samurai beim Shōgun Toyotomi Hideyoshi antrat. Am Hof gab es einen älteren Samurai, der ihn eines Fehlers bezichtigte. In Wahrheit hätte dieser ihn jedoch selbst zu verantworten gehabt. Takeo wäre dem Samurai am liebsten offen entgegengetreten und hätte seine Rechtfertigung verlangt. Da er noch sehr jung und neu in seinem Dienst war, ließ er die Angelegenheit auf sich beruhen und schwieg dazu. Er wollte nicht riskieren, sich durch eine Auseinandersetzung möglicherweise Nachteile bei seinem Dienstherrn einzuhandeln. Sobald er an diese Situation dachte, war er innerlich aufgebracht über diese Ungerechtigkeit. Er konnte seine negativen Gedanken jedoch auch wieder abstellen und war imstande, diesem Samurai freundlich zu begegnen. Später zahlte sich dieses Verhalten für ihn aus. Eines Tages wurden Takeo und der ältere Samurai beauftragt, sich um einen Aufstand in der japanischen Hauptstadt Heian-kyō15 zu kümmern. Die beiden wurden von einigen bewaffneten Bediensteten des Shōgun unterstützt. Der Versuch, die Aufständischen zu besänftigen, schlug fehl. Ein Mann aus der Menge griff Takeo plötzlich hinterrücks mit einem Speer an. Blitzschnell schob der ältere Samurai Takeo zur Seite und zerstörte den Speer mit seinem Schwert. Der Angreifer wurde daraufhin sofort gefangen genommen, während die übrigen Aufständischen flohen. Der Samurai hatte Takeo das Leben gerettet. Von da an verrichteten beide ihren gemeinsamen Dienst in freundschaftlicher Verbundenheit.
Die ungerechtfertigte Beschuldigung hielt Takeo für geeignet, sie in die Übung einzubauen. Wenn er sich die Situation vorstellte, bekam er sofort schlechte Gefühle. Katsumi forderte ihn nun auf, das Qì wieder sinken zu lassen. Als sich Takeo heruntergezogen hatte, sagte Katsumi zu ihm: „Denke nun an die schmerzhafte Situation, die Du Dir vorhin vorgestellt hast. Wie geht es Dir dabei?“ Takeo antwortete bedrückt: „Alles fühlt sich schwer an. Ich bin sehr wütend und würde dem Samurai am liebsten etwas Verletzendes sagen. Ja, ich habe wirklich die Absicht, ihn zu verletzen. Wenn ich jedoch an die möglichen Folgen denke, komme ich mir machtlos vor. Ganz egal, wie ich mich entscheide, jeder Weg ist falsch. Das bekümmert mich und ich fühle mich kraftlos. Ich bin wie gelähmt, unfähig etwas Sinnvolles zu tun und ergebe mich in mein Schicksal.“
„Nun denk nicht mehr an diese Situation, sondern an etwas anderes! Lass anschließend Dein Qì hochsteigen!“ Takeo benötigte einige Minuten, um die Gedanken an die ungerechte Behandlung loszuwerden. Als er wieder hochgezogen hatte, bat ihn Katsumi, erneut an das Problem zu denken. Kurze Zeit später rief Takeo überrascht: „Das ist eigenartig. Obwohl ich mir dasselbe Ereignis vorstelle, habe ich nun keine schlechten Gefühle. Die Ungerechtigkeit ist zwar nach wie vor da, doch sie macht mir nichts mehr aus. Mir kommt der Gedanke, dass der Samurai vielleicht selbst große Angst hatte und deshalb auf diese Weise handelte. Er war sehr unsicher und hat aus seiner Schwachheit heraus so reagiert. Ich fühle mich nun als der Stärkere, weil ich es nicht auf einen Streit anlegte. Dadurch konnte auch er sich mit der Zeit sicherer fühlen. Als er innerlich wieder stark war, rettete er mir sogar das Leben und wurde mein Freund. Alles hat sich zum Guten gewendet. Was geschehen ist, war also gar nicht schlimm. Ich hatte es nur immer als schlecht beurteilt. Mir kommen noch weitere Gedanken, wie ich mich damals hätte verhalten können. Vielleicht mit ihm offen über den Vorfall sprechen, doch so, dass er dabei sein Gesicht nicht verliert. Mir kommen noch so viele Möglichkeiten in den Sinn, was ich sonst noch alles hätte tun können. Das ist unglaublich, Katsumi!“
„Takeo, Du siehst, nicht die Dinge an sich sind gut oder schlecht, sondern unsere Einstellung zu den Dingen. Ich habe einmal miterlebt, wie zwei sehr wohlhabende Männer durch einen Überfall mit Brandstiftung ihr ganzes Hab und Gut verloren. Ihr Haus brannte nieder und sie standen mit leeren Händen da. Du kannst Dir vorstellen, dass die Männer sehr betroffen waren. Einer von beiden ist an dem schweren Verlust verzweifelt. Er hatte 30 Jahre seines Lebens daran gearbeitet, so weit zu kommen. Nun war alles umsonst. Er sah keinen Sinn mehr in seinem Leben. Er verlor jeden Antrieb und vegetierte jahrelang nur noch so dahin. Täglich trank er berauschende Getränke, die ihn schließlich ganz gefangen nahmen. Nach wenigen Jahren starb er ohne Mut und Lebenssinn.
Auch der andere Mann hatte anfangs großen Kummer. Doch nach einigen Tagen sagte er sich, dass es keinen Sinn hätte, die ganze Zeit zu trauern. Besser, er würde jetzt etwas unternehmen. Seinen gesamten Besitz hatte er verloren. Nun überlegte er, was ihm noch geblieben sei. Er stellte fest, er hatte zwei gesunde Hände zum Arbeiten, einen klugen Kopf, Tatendrang und die Liebe seiner Familie. Das sah er als ausreichend an, um einen Neubeginn zu wagen. Die ersten Wochen mussten er und seine Familie im Freien schlafen. Dann hatte er eine kleine Hütte fertig gestellt, die ihnen Schutz vor Regen und Kälte bot. Er arbeitete hart und er konnte wenigstens soviel erwerben, dass seine Familie überlebte. Mit der Zeit ging es ihm immer besser. Schließlich erlangte er erneut einen ansehnlichen Wohlstand. Diesmal benötigte er nicht 30 Jahre, wie beim ersten Mal. Nun gelang ihm das Gleiche in nur fünf Jahren. War das erste Jahr noch schwierig, schien ihm danach einfach alles zu gelingen. Ihm begegneten zur rechten Zeit die richtigen Menschen, die ihm weiterhalfen und hilfreiche Verbindungen herstellten. Auch nach den fünf Jahren wuchs sein Reichtum weiter an. Das war aber nicht mehr das Wichtigste in seinem Leben. Er war innerlich reich und dankbar für alles, was sich in seinem Leben zugetragen hatte. Einen großen Teil seines Vermögens nutze er, um Menschen in Not zu helfen. Früher hatte er trotz seines Wohlstandes ständig Angst, diesen zu verlieren. Dieser Furcht musste die Lebensfreude weichen. Heute ist er glücklich.“
Takeo hatte aufmerksam zugehört und sagte er überzeugt: „Ich verstehe, dass mich kein Ereignis an sich dauerhaft glücklich oder unglücklich machen kann. Es kommt immer darauf an, was ich daraus mache.“ „Du lernst sehr schnell, mein Freund. Du hast erlebt, wie Du mit einem aufgestiegenen Qì etwas als gut beurteilen kannst, das Dir zuvor noch schlechte Gefühle machte. Die Ungerechtigkeit ist nach wie vor da. Sie bereitet Dir nun aber kein Unbehagen mehr. In nächster Zeit wirst Du lernen, selbst schmerzhafteste Erfahrungen aus vergangenen Tagen zu verwandeln. Bald wirst Du in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit in jeden gewünschten Gefühlszustand zu gelangen. Dann wird es Dir auch möglich sein, die Dinge in Deinem Leben zu verändern. In der Schriftrolle ist von der ‚Kraft des Glaubens’ die Rede, mit der man sogar Berge versetzen kann. Damit ist es uns gelungen, Kraftfelder zu errichten, die uns unangreifbar machen. Wenn Du eines Tages dazu fähig bist, versetze aber bitte nicht die Berge um uns herum. Das ist schließlich meine Heimat, in der ich mich sehr wohl fühle und die Berge gehören dazu.“ Katsumi lachte und auch Takeo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
So begann für Takeo die Einweihung in die Geheimnisse des Lebens. Er erlernte in der folgenden Zeit Dinge, die er nie für möglich gehalten hatte. Takeo hatte den richtigen Platz gefunden, um für seine Berufung vorbereitet zu werden. In den folgenden Jahren veränderte sich sein Leben völlig und das übertrug sich auf sein gesamtes Umfeld.
Yuudais Prophezeiung hatte sich erfüllt. Immer wieder erklangen in Takeo die Worte Katsumis: „Es kommt eine Zeit, in der sich die Geheimnisse der Schriftrolle mit anderen Geheimnissen verbinden werden und dadurch sogar die ganze Welt verändert wird.“ Wann würde das geschehen? Andere Geheimnisse würden sich mit den Geheimnissen der Schriftrolle verbinden. Welcher Natur würden diese Geheimnisse sein? Er wusste es nicht. Seine Lebenszeit war nicht dazu bestimmt, eine Antwort auf diese Fragen zu bekommen. Was Takeo versagt blieb, sollten andere Berufene erleben, viele Generationen nach ihm.