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Kapitel 4

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Als Jenny am Morgen aufwachte, sah sie das ausgedruckte Stollenrezept und einen handgeschriebenen Zettel neben dem Sofa liegen. Ein Gähnen unterdrückend, fischte sie beides vom Boden. Die Anleitung für den Stollen erschien ihr übersichtlich, das umzusetzen sollte machbar sein. Auf dem Zettel stand: Unterwegs in ärztlicher Mission. Bis später, Tom.

Sie tappte in die Küche hinunter, um sich einen Tee aufzubrühen, und sah sich verschlafen nach dem Geschirr um. Öffnete hier und dort einen Schrank, bis sie schließlich alles gefunden hatte, was sie brauchte, sogar den Tee.

Was für ein seltsames Gefühl, in diesem alten, verlassenen Haus allein zu sein. Mit seinen vielen leeren Zimmern schien es sich ins Ungewisse auszudehnen. Seine Geräusche waren ihr fremd. Die Wasserleitung schnarrte, als sie den Kessel füllte. An der Hausecke schien ein Ast im Wind am Regenrohr entlangzuschleifen. Draußen auf der Fensterbank war ein Trippeln zu vernehmen. Hoffentlich nur eine Taube und kein Nagetier, dachte sie verzagt.

Sie putzte sich die Zähne im Eiltempo, schlüpfte in frische Kleidung und war fast froh, in ihren roten Mini Cooper steigen zu können. In gemäßigtem Tempo fuhr sie die Straßen entlang, neugierig nach links und rechts blickend.

Toms Dorf wirkte ganz so, als hätte die Geschichte es vergessen. Schiefe Balken und durchhängende Dächer zeugten davon, dass die Fachwerkhäuser von Menschenhand gebaut worden waren, aus krummen Baumstämmen, die gerade zur Verfügung gestanden hatten. Zwischen den Häusern blickte Jennifer immer wieder in enge Gassen, die im Nirgendwo endeten. Eine steinerne Mauer umfasste weite Teile des Ortes. Toms Gutshaus wirkte nahezu majestätisch neben den kleinen alten Gebäuden, nur das Wirtshaus, ein einzeln stehendes Gebäude mit verwunschen wirkenden Giebeln und einem einladenden Vorplatz, war auf seine Art ähnlich imposant.

Der Dorfladen, ein lang gestreckter flacher Trakt aus den sechziger Jahren mit einer Glastür, die offenkundig aus der Entstehungszeit stammte, war ein baulicher Fremdkörper im Dorf und schnell gefunden. Nach dem Eintreten fiel die Tür scheppernd ins Schloss, und da sie das sicherlich bei jeder Kundin tat, musste die betagte Ladnerin, die hinter der Kasse saß, Nerven wie Drahtseile haben.

Vielleicht war sie aber auch nur schwerhörig.

»Guten Morgen«, grüßte Jenny laut und deutlich.

Die weißhaarige alte Dame hob den Kopf. Ihren Locken sah man die Größe und Form der Wickler noch an. Mit Festiger und Haarspray fixiert, umkränzten sie ihr rundes Gesicht. Die Farbe ihrer Wangen fand sich in ihrem Pulli wieder, der rosafarben unter ihrem blütenweißen Kittel hervorlugte.

»Wohl nicht von hier?«, wollte sie wissen.

»Nein.«

»Etwa aus der Stadt?«

»Ja. Ich bin zu Besuch hier.«

»Über Weihnachten? Bei der Sandra?«

»Sandra?«, fragte Jenny.

»Ja, der gehört doch der Seelenhof hier im Dorf. Da findet jedes Jahr um diese Zeit der Flirtkurs statt. ›Weihnachtsflirt bei Tannenduft‹ heißt er.«

Jennifer unterdrückte ein Kichern. »Nein, nein, ich bin zu Gast bei Dr. Kramer.«

»Oh, der neue Arzt. Dann sind Sie wohl seine Verlobte. Wie schön. Herzlichen Glückwunsch.«

»Nein, auch das nicht. Wir sind nur gute Freunde.« So, jetzt hatte sie aber genug ausgeplaudert. »Ich brauche so einiges für das Weihnachtsfest. Darf ich mich mal umschauen?«

»Bitte, nur zu.«

Jenny nahm sich einen Einkaufskorb und lief die Regale entlang. Schon nach wenigen Metern kam ihr das Wort »Kolonialwarenladen« in den Sinn. Unglaublich, was hier alles herumstand. Es gab eine kleine Kühltheke mit Fleisch, Wurstwaren und Milchprodukten, vor allem aber Regale voller Konserven und haltbarer Lebensmittel wie Zucker, Rosinen, Mandeln, Mehl. Und gleich daneben Lichterketten, Christbaumständer, Haushaltsleitern, Klappstühle und Kuchenformen.

Die Ladnerin hatte auf jegliche Weihnachtsdekoration verzichtet, bot aber einschließlich glitzernder Lebensmittelfarben alles an, was man für das Christfest brauchen könnte. Jennifer fand das äußerst pragmatisch. An der rückwärtigen Seite des Ladens führte eine Tür in einen kleinen Hof mit Betonboden, gemauerten Wänden und einem Holztor, das vermutlich den Zugang zur anderen Straßenseite darstellte. Hier lehnten Tannenbäume an der Wand, hübsch aufrecht und eng in grüne Netze gezwängt. Ein paar kleine kugelrunde Tännchen lagen mitten im Hof.

»Ihr kommt später dran«, raunte Jennifer den Tannen zu. Die Frage nach dem richtigen Weihnachtsbaum für das Fest musste sie dringend mit Tom erörtern. Ein großer wäre schön, fand sie, aber die Familie würde sich die meiste Zeit in der Küche aufhalten, und dort nähme er zu viel Raum ein. Im Salon wiederum wäre genug Platz, aber dort stünde der Weihnachtsbaum die meiste Zeit so einsam und ungenutzt herum wie das Sofa.

Sie wollte eben wieder vom Hof in den Laden gehen, als ein rotbraun getigerter Kater auf sie zuspazierte und um ihre Beine strich. Dem üppigen Fell und dem buschigen Schweif nach zu urteilen, gehörte er zur Rasse der Maine Coon, die spitz zulaufenden Ohren mit den Haarbüscheln an den oberen Rändern konnten seine biologische Verwandtschaft mit Löwen und Wildkatzen nicht verleugnen.

»Na, mein Schöner.« Jennifer schätzte, dass der Kater locker sechs Kilo auf die Waage brachte. Sie ging in die Hocke, und der Bursche ließ es sich gefallen, dass sie ihn streichelte. Doch schon bald hatte er genug davon und wandte sich gelangweilt von ihr ab.

Zurück im Laden war ihre Begeisterung groß, als sie zwei Muffinformen aus Silikon entdeckte, die sie sogleich in ihren Korb bugsierte. Für Toms Familienstollen benötigte sie keine Form, das Rezept sah vor, ihn wie einen Laib Brot zu backen. Das Leidige daran war, dass er so lange brauchte, um anständig durchzuziehen. Dafür waren sie mit der Zubereitung viel zu spät dran. Wären Muffins da nicht viel unproblematischer? Sie suchte die Zutaten für den Stollen zusammen und griff auch noch zu weiteren Backzutaten, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Dann trug sie alles zur Kasse. Die alte Dame tippte die Preise so gemächlich ein, als kaufte Jenny für nächstes Jahr Weihnachten ein. Dann schob sie ihr eine mit einem bärtigen Weihnachtsmann bedruckte Tragetasche über den Tresen. »Macht eigentlich zwanzig Cent extra, aber da bald Weihnachten ist …«

»Fein. Was ist das da draußen für ein wundervoller Kater?«

»Ach, der Rote. Der will immer nur fressen.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Der alten Dame lag etwas anderes auf der Seele. »Eine junge Frau soll gestern die Leiche von Uta Möbius vor dem Landhaus des neuen Doktors gefunden haben, eine Fremde. Das waren Sie, nicht wahr?« Sie sah Jennifer mit wissendem Blick an und redete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Das muss doch furchtbar für Sie gewesen sein. Früher hätte es hier so was nicht gegeben, aber die Zeiten haben sich geändert. Selbst unser Dorf ist unwirtlich geworden.«

Jenny wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte. Schweigend verstaute sie ihre Einkäufe in der papierenen Weihnachtsmanntüte. Im Hinausgehen rief ihr die Alte noch etwas nach: »Passen Sie nur gut auf sich auf!«

***

In der Küche des Landhauses gönnte Jennifer sich vor dem spaltbreit geöffneten Fenster die erste Zigarette des Tages, penibel darauf achtend, den Rauch nach draußen auszustoßen. Dann türmte sie ihre Einkäufe auf dem Tisch auf und machte sich an das Christstollen-Projekt. Nach Toms Familienrezept rührte sie den Teig an, statt frischer Hefe nahm sie aber Trockenhefe, die funktionierte zuverlässiger. Im Dorfladen hatte es eh nichts anderes gegeben. Und statt einen Stollen zu formen, gab sie handliche Teigkugeln in der Größe von kleinen Schneebällen in die Muffinformen.

Sie hatte gerade die ersten fertig gebackenen Muffins aus dem Ofen gezogen, als Tom den Weg in die Küche fand. Obwohl er ihn offen über dunkler Kleidung trug, ließ sein weißer Arztkittel das Rotblond seiner Haare intensiver wirken, und mit seinem Stethoskop um den Nacken nahm man ihm den Mediziner sofort ab.

»Morgen, Jenny.«

»Hey, was machst du denn hier? Ich denke, du bist unterwegs in ärztlicher Mission.«

»War ich. Ich habe nach Bauer Lüders geschaut.«

»Ist das der, der sich ins Bein gehackt hat?« Über die Tote vor Toms Haustür hatte sie völlig vergessen, ihn nach seinem Patienten zu fragen.

»Ja. War Gott sei Dank nur eine Fleischwunde, wurde gestern im Krankenhaus geklammert. Heute habe ich den Verband gewechselt. Man muss sichergehen, dass sich nichts entzündet.«

»Und jetzt?«

»Jetzt wollte ich eigentlich in der Praxis weitermachen. Aber … Ach, Jenny, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Ist der Andrang im Wartezimmer denn so groß?«, fragte sie unsicher.

»Da wartet nicht einer«, meinte er düster, zog den Arztkittel aus und starrte dabei auf die Muffins, die sie auf dem Herd abgestellt hatte. »Sag mal, was gibt das denn? Ich denke, du backst Christstollen.«

»Tu ich doch auch.«

»Danach sieht es aber gar nicht aus.«

»Ist aber euer Teig. Ich meine, der Teig ist nach eurem Rezept. Allergrößtenteils jedenfalls.«

»Aber Jenny. Diese Dinger da haben nichts, rein gar nichts mit einem Christstollen zu tun.«

»Nicht? Mal probieren?«

»Ein Christstollen, sagt meine Mutter immer, versinnbildlicht das in Windeln eingeschlagene Christkind.«

»Wie bitte?«

»Der Stollen hat die Form eines Steckkissens, und der Puderzucker erinnert an weißes Tuch. Es mag ja komisch klingen«, räumte er ein, »aber es ist halt ein Symbol. Was du da gerade backst, sieht wenig symbolhaft aus. Was soll das darstellen?«

Jennifer zog einen Flunsch, während sie darüber nachdachte.

»Mützchen fürs heilige Kind?«, schlug sie mit Unschuldsmiene vor. »Willst du nicht doch mal probieren?«

Tom schwieg und umfasste das Stethoskop, das um seinen Nacken lag, an beiden Enden mit seinen Händen. Es war, als müsste er sich irgendwo festhalten.

»Nun nimm es nicht so tragisch«, meinte sie.

Tom seufzte. »Das Anschneiden eines schönen Stollens ist für meinen Vater an Weihnachten ein Ritual, mit dem er die Feiertage einläutet. Wie soll er die Muffins feierlich anschneiden? Ich werde ihn bitten, sich dieses Jahr einen Stollen zu kaufen.«

»Jetzt spinnst du aber«, fauchte Jenny. »Bau lieber mal die Reisebetten auf. Ich werde mich hier nicht so schnell langweilen. Hab schließlich noch drei Bleche Christkind-Mützchen vor mir.«

Er lachte gequält. »Du bist so lieb und witzig, Jenny. Kannst du mir verzeihen, was ich gesagt habe? Das war echt blöd von mir.« Nun griff er doch noch nach einem Muffin. »Es ist im Moment alles sehr viel für mich. Der Umzug aufs Land, die erste eigene Praxis. Und nun kaum Patienten.« Er biss ab und kaute, bis seine Miene sich schließlich erhellte. »Danke, schmeckt tatsächlich sehr gut. Wenn auch anders als ein gut durchgezogener Stollen, irgendwie krustiger und nicht ganz so aromatisch. Wann backst du die Plätzchen?«

Jennifer, die sich gerade wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte, verdrehte die Augen. »Plätzchen auch noch? Tom, du bist schrecklich. Man könnte meinen, du seist ein verzogenes Einzelkind, dabei hast du eine Schwester.«

»Eine ältere Schwester«, gab er zu bedenken.

»Na klar, die hat dich mit deinen Eltern um die Wette verwöhnt. Ich will jetzt erst einmal unser Weihnachtsessen organisieren. Gibt es hier in der Nähe ein Lokal, das sich dafür eignet und am ersten Feiertag geöffnet hat?«

Tom schluckte den letzten Bissen Christstollen-Muffin hinunter. »Wenn du einen richtig zünftigen Landgasthof suchst, bist du im ›Dorfkrug‹ richtig. Er liegt neben dem Supermarkt, ist unser einziges Restaurant weit und breit und so beliebt, dass sogar Gäste von auswärts sich dort wohlfühlen.«

»Fein, das passt doch.«

***

Da das Kolonialwarengeschäft, wie sie den Supermarkt inzwischen in Gedanken nannte, nicht weit entfernt lag und das Gasthaus daran angrenzte, ging Jenny zu Fuß. Von außen präsentierte sich der Dorfkrug als historisches Gebäude mit steinernem Untergeschoss und aufgesetztem Fachwerkstock, innen empfing den Besucher ein modernes Ambiente. Die Wände waren vom Putz befreit worden, luftig-helle Gardinen bildeten einen interessanten Kontrast zum groben Gemäuer. Unter der Decke hingen schlichte Leuchten, und der Tresen, vor dem eine Reihe viereckiger Hocker mit Ledersitzen stand, hätte einer New Yorker Bar alle Ehre gemacht. Mitten im Raum prangte ein Tannenbaum. Er reichte bis an die Decke, und seine bunten Lichter blinkten im Rhythmus der leise dahinklimpernden Kneipenmusik.

Jenny ging auf die Frau hinter dem Tresen zu, die sie für die Wirtin hielt.

»Was kann ich für Sie tun?«, wurde sie freundlich gefragt.

»Ich möchte für den ersten Feiertag einen Tisch reservieren. Mittags, so gegen dreizehn Uhr. Für Dr. Kramer.«

»Einen Moment, bitte.« Die Wirtin zog ihr Bestellbuch hervor, blätterte darin, und Jenny sah sich unauffällig um. Fünf runde Tische standen im Raum, weiße Tücher fielen großzügig über die Ränder. Gestärkte Stoffservietten in Form von Bischofsmützen reckten sich auf jedem Platz in die Höhe. Unmittelbar in der Nähe des Tresens entdeckte Jennifer einen langen Tisch, der nicht eingedeckt war. Sein blankes Holz glänzte wie frisch abgewischt.

»Unser Stammtisch«, sagte die Wirtin, die ihrem Blick gefolgt war. Und wie aufs Stichwort kamen fünf Männer herein und ließen sich am Stammtisch nieder.

»Gilla, wir wollen Mittag essen. Kannst schon mal eine Runde Bier machen, bitte?«

»Kommt sofort.«

Die Wirtin stellte fünf Gläser zurecht und begann, Bier zu zapfen. »Wie viele Personen darf ich denn eintragen?«, fragte sie Jennifer, ohne aufzuschauen.

Jennifer schlüpfte aus ihrem Parka und legte ihn auf einem der Barhocker ab. Sie zuckte zusammen, als sich zu ihren Füßen etwas bewegte. Der Rote hatte es sich unter dem Barhocker gemütlich gemacht und sah mit einer gewissen Arroganz zu ihr hoch, als wollte er sagen: »Typisch Mensch, dich so zu erschrecken. Wenn deine Nase nur halb so gut wäre wie meine, hättest du mich längst gerochen.«

»Das ist doch der Kater aus dem Lebensmittelgeschäft«, bemerkte Jennifer erstaunt.

Die Wirtin zapfte weiter Bier. »Tja, der Lebensmittelladen ist nun mal gleich nebenan. Trotzdem sollte der Casanova gar nicht hier sein, verzeihen Sie bitte, den trag ich gleich raus. Ist doch klar, dass ein Kater nicht in einen Gastraum gehört.«

»Sie hat absolut keine Ahnung«, sagten die Blicke des Katers. »Am besten, du ignorierst sie einfach.«

»Wie viele Personen sind Sie, haben Sie gesagt?«, hakte die Wirtin nach.

Jennifer hatte noch gar nichts gesagt, holte dies aber gern nach und zählte auf: »Sieben. Drei Personen in meinem Alter, ein älteres Paar und zwei Kinder, zehn und dreizehn Jahre.«

»Am preiswertesten ist das Menü.«

»Und das wäre?«

»Wildpastete mit Preiselbeersoße, Gänsekeule mit Klößen und Rotkraut. Und als Dessert Lebkuchenparfait.«

Jenny lief das Wasser im Mund zusammen. Dann dachte sie an Finn und fragte sich, was er wohl gern essen würde. »Wie sieht es mit Pommes aus?«

»Mit Mayo, mit Ketchup oder rot-weiß?« Die Wirtin blieb sachlich. »Sie können auch à la carte essen. Dann wählt halt jeder, was er so mag, und die Kinder können gern Pommes haben.«

»Was gibt es denn sonst noch?«

»Rehrücken mit Birnen und Kartoffelplätzchen. Ente à l’Orange. Oder wie wäre es mit einem schönen Karpfen?«

Jennys Magen begann zu knurren, als hätte sie drei Tage nichts gegessen.

Die Wirtin hatte das Bier für die Stammtischler fertig gezapft, stellte die Gläser auf ein Tablett und brachte sie ihren Gästen. »Der Karpfen reicht für vier Personen. Drei, wenn es gute Esser sind«, nahm sie das Gespräch wieder auf, als sie hinter den Tresen zurückkehrte.

Jenny konnte sich nicht so schnell entscheiden.

»Sie wissen sicherlich, woher die Tradition mit dem Karpfen an Heiligabend kommt?« Ihr Schweigen wurde von der Wirtin mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit überbrückt. »Früher reichte die Fastenzeit, in der Fleisch streng verboten war, exakt bis zum 25. Dezember. Deshalb musste es am 24. Dezember Fisch geben. In manchen Gegenden hat sich der Brauch bis heute gehalten, obwohl kaum noch jemand weiß, warum.«

»Aha.« Jennifer versuchte ein höfliches Lächeln.

Die Musik im Hintergrund wechselte zu »Jingle Bells«, und der Tannenbaum in der Mitte des Raums blinkte etwas schneller.

»Kannst die Luft aus ein paar weiteren Gläsern lassen, Gilla«, schallte es vom Stammtisch herüber. »Mit der ersten Runde sind wir gleich fertig.«

Keine Frage, der Gerstensaft floss im Dorfkrug schon am Mittag reichlich. Die Wirtin griff zum nächsten Glas und ließ Bier einlaufen.

»Schön schräg halten, Gilla!«, meinte jemand lachend.

»Als wenn sie das nicht wüsste«, mischte sich ein anderer Gast ein. »Die Gilla ist nicht doof. Die würde sich jedenfalls von niemandem vergiften lassen!«

Jennifer horchte auf.

»Möchten Sie einen bestimmten Tisch reservieren?«, wollte die Wirtin wissen.

»Gern einen am Fenster, geht das?«

»Aber klar. Wir tun für unsere Gäste, was wir können.«

»Erst flieht sie aus dem Dorf, dann taucht sie plötzlich auf und will wieder zu uns gehören«, klang es aus der Männerrunde.

»Und nun ist die Uta tot.«

»Als Nikolaus gestorben.«

»Als Weihnachtsmann verkleidet.«

»Sag ich doch.«

»Verkleiden bringt Unglück, außer an Karneval.«

»Nein, das ist Aberglaube.«

»Wieso? Hat das Kostüm sie vor dem Tod bewahrt?«

»Du wirfst da was durcheinander. Trink lieber dein Bier aus.«

Jenny beugte sich zu der Wirtin vor. »Haben Sie die Verstorbene auch gekannt?«

Gilla strich mit einem Spatel etwas Schaum von den Gläsern und füllte weiter nach, bis eine schöne Krone entstand. »Die Uta Möbius? Ja, sicher.«

»Und weiter?«, bat Jenny.

»Die Uta war lange in der Welt unterwegs«, erzählte die Wirtin, ohne den Zapfhahn aus den Augen zu lassen. »Die war sogar in Indien im Aschram. Hat sie hier jedenfalls mal zum Besten gegeben. Aber gefallen hat es ihr da nicht. Immer nur Fasten, Meditieren und im Morgengrauen aufstehen war dann wohl doch nicht so ihr Ding. Sie hat später in Südfrankreich gelebt. Und da«, sie schnalzte zum Zeichen ihrer Missbilligung mit den Fingern, »will sie ein Restaurant geführt haben, in Toulouse.«

»Two twos to Toulouse.« Der dumme Spruch ging schneller über Jennys Lippen, als sie ihn sich verkneifen konnte.

Die Wirtin sah sie fragend an.

»Zwei Fahrkarten für zwei Personen nach Toulouse. Sorry, das fiel mir nur gerade so ein.«

Ein knappes Nicken, freundlich, aber desinteressiert, was Fahrkarten nach Toulouse anging. »Die Uta hatte, soweit ich weiß, gar keine Ausbildung in der Gastronomie. Wie will man da ein Restaurant aufmachen? Ein veganes noch dazu?«

»Vielleicht hat sie später noch eine entsprechende Lehre gemacht«, wandte Jennifer ein. »Oder sie hat dafür Personal eingestellt.«

»Mag sein. Zuletzt hat sie jedenfalls im Seelenhof ausgeholfen, und die Sandra war wohl auch ganz zufrieden mit ihr. Ist ja keine leichte Aufgabe, der Sandra zur Hand zu gehen. Sie sitzt seit einem halben Jahr im Rollstuhl und leitet dennoch ihre Kurse weiter.« Ein kleiner Seufzer. »Gott sei Dank, sage ich nur, ihre Seminarteilnehmer würden mir schon fehlen. Die übernachten ja alle für gutes Geld bei mir.«

Nach dieser Tirade wusste Jennifer nicht, wo sie zuerst nachhaken sollte. »Was muss ich mir denn unter einem Seelenhof vorstellen?«, begann sie zögernd. »Das klingt nach einem esoterischen Zentrum.«

Ein paar Flyer wurden über den Tresen geschoben. »Hier, sehen Sie selbst. Ach, übrigens, darf ich Ihnen etwas anbieten?«

Jennifer nickte dankbar. »Ein Espresso wäre schön. Sehr nett von Ihnen.«

Die Wirtin machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, und sie blätterte einen der Flyer auf. Weihnachtsflirt bei Tannenduft, las sie. In klarer Winterlandschaft auf dem Lande treffen Sie auf Persönlichkeiten, die wie Sie an den schönsten Feiertagen des Jahres nicht allein sein mögen.

»Das ist so eine Art Partnerbörse.« Die Wirtin stellte den Espresso vor sie hin und deutete mit einem Kopfnicken auf die Flyer. »Wenn wir die Einsamkeit vergessen, bei einem Glas Wein und gutem Essen, mit lieben Menschen zusammen lachen, gehört das zu den schönsten Sachen«, zitierte sie lächelnd. »Das hat die Sandra für mich in den Flyer geschrieben. Die Teilnehmer aus dem Seelenhof essen und trinken natürlich auch hier bei mir.«

»Ach ja? Und das Programm geht wie lange?«

»Der ›Weihnachtsflirt bei Tannenduft‹ dauert eine knappe Woche, den gibt es in der Adventszeit. Über die Feiertage wird eine Weihnachtsfreizeit für Singles angeboten: ›Weihnachtsglück auf dem Lande.‹«

»Gilla, machst du mal eine Runde Korn, bitte«, schallte es vom Stammtisch herüber.

»Und dann dieser Treppenwitz der Weltgeschichte«, amüsierte sich jemand aus der Gruppe. Der ältere Mann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob beide Daumen unter die breiten Hosenträger über seinem karierten Hemd. »Da stirbt die Uta in ihrem Heimatdorf, wo sie es doch so viele Jahre gemieden hatte.«

Jennifer rutschte vom Barhocker und wäre Casanova dem Roten um ein Haar auf den buschigen Schweif getreten. »Uta Möbius ist hier aufgewachsen?«

Ein bierseliges Lachen. Der Stammtischler mit den Hosenträgern kam zu ihnen an den Tresen.

»Klar, sie war eine von uns«, sagte er. »Bis sie Hals über Kopf von hier weg ist. Mit neunzehn. Kurz nach Weihnachten war das.«

Gilla stellte Schnapsgläser auf ein Tablett, goss großzügig ein, trug sie zum Stammtisch, kam zurück. »Ich war noch zu jung, um das alles so genau mitzukriegen. Das meiste weiß ich nur aus Erzählungen.«

Über den Gastraum hatte sich ein akustischer Teppich aus Weihnachtsliedern gelegt. Ein instrumental arrangiertes Medley ließ bekannte Melodien erklingen und ineinander übergehen, und in Jennifers Kopf verschwammen auch die Texte.

Ihr Kinderlein, kommet alle Jahre wieder.

Oh Tannenbaum, wie grün rieselt der Schnee.

»Das Weihnachten, an dem Uta verschwand«, wollte sie wissen, »wann genau war das?«

Gilla zuckte mit den Schultern. »So genau weiß ich das nicht. Ist jedenfalls lange her.«

»Damals hatten sich Utas Eltern scheiden lassen«, erzählte der Stammtischgast mit den Hosenträgern. Er war älter als die Wirtin und schien sich besser an das zu erinnern, was damals vorgefallen war. »Utas Mutter war ausgezogen, der Vater über die Feiertage mit seiner neuen Frau verreist. Die Uta war allein zu Haus und hat Party gemacht. Das war ihr letzter Auftritt hier.«

Der Espresso war längst ausgetrunken, und die kleine Tasse wurde von der Wirtin mit einer zügigen Bewegung vom Tresen geräumt. »Noch einen? Oder etwas anderes?«

»Nein danke. Aber Uta Möbius lebte doch zuletzt wieder hier im Dorf?«

»Erst vor einem halben Jahr kam sie zurück. Und nicht alle waren darüber begeistert.« Die Wirtin hatte sich zu Jennifer vorgebeugt und flüsterte jetzt. Ihre lange Halskette baumelte über dem Tresen. Eine billige Goldlegierung, hübsch gedreht wie eine Kordel, aber ziemlich angelaufen, stumpf und matt. Sie passte so gar nicht zu der adretten Blondine in ihrer weißen Bluse. Vielleicht ein heiß geliebtes Erinnerungsstück, dachte Jenny. Nun fasste die Wirtin auch noch nach der schmutzigen Kette und fingerte daran herum.

»Über Tote nichts Schlechtes«, sagte der Stammtischler. »Die ganze Geschichte ist eh Schnee von gestern.« Er schien wieder zu seinen Freunden zurückgehen zu wollen.

»Und der Seelenhof war schon früher ihr Zuhause?« Jennifer wollte, dass die beiden weiterredeten.

Die Wirtin richtete sich auf und straffte ihren Körper, die Goldkette rutschte an ihren Busen zurück. »Das Landhaus, das nun Ihrem Herrn Doktor gehört, das war Utas Elternhaus, liebe Frau …«

»Meyer, Jennifer Meyer.«

»Haben Sie das nicht gewusst?«

Nein, das hatte Jennifer nicht gewusst. Tom hatte ihr nichts davon erzählt, und dass diese fremde Frau so viel mehr wusste als sie, störte sie gewaltig. Sie schwieg betroffen.

»Sie tun mir leid«, fuhr die Wirtin leise fort. »Nicht dass Ihrem Freund, dem Herrn Doktor, jetzt auch noch die Patienten wegbleiben.«

»Wieso sollten sie?«, erwiderte Jennifer schroff.

»Die Leute im Dorf fragen sich halt, ob der junge Herr Doktor bei der Uta Möbius alles richtig gemacht hat«, wiegelte der Stammtischler ab. Selbstbewusst präsentierte er seine Leibesfülle, die Daumen wieder hinter die Hosenträger geklemmt. »Womöglich hat der Herr Doktor ja was übersehen. Absichtlich oder unabsichtlich. Einen Herzfehler oder so. Wer weiß.«

»Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« Vor Empörung klang Jennifers Tonfall pampig.

»Gilla, was hast du denn heute für eine Essensempfehlung?« Der Stammtisch wieder. »Jetzt, wo wir gelöscht haben, muss was in den Magen.«

Die Wirtin nahm einen kleinen Stoß Speisekarten auf. »Komme!« Und zu Jenny meinte sie: »Also einen runden Tisch am Fenster, für den ersten Feiertag, à la carte. Bis dahin eine gute Zeit und schon mal einen schönen Heiligen Abend.«

»Danke. Darf ich den Flyer mitnehmen?«

»Gern zwei, wenn Sie wollen. Der Herr Doktor möchte vielleicht auch einen haben? Grüßen Sie ihn freundlich von mir.«

Jennifer zwang sich zu einem Lächeln, die Flyer stopfte sie unbesehen in eine Tasche ihres Parkas. Casanova der Rote saß immer noch unter dem Barhocker, sie bückte sich, strich ihm zum Abschied über sein seidiges Fell. Genüsslich reckte er seinen Hals, damit sie ihn dort kraulen konnte, und sah sie innig an. »Mach dir nichts draus«, sagte sein Katerblick. »Ist nur zu menschlich.«

Leise rieselt der Tod

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