Читать книгу Leise rieselt der Tod - Uli Aechtner - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеJennifer hatte Weihnachten immer gern gefeiert. Den Tannenbaum hatte sie als Kind mit dem Vater aus dem Wald geholt, wo sie den Förster kannten. Nur den schönsten durfte er für sie fällen. Sie erinnerte sich noch an das Piken der Nadeln, wenn sie mit der Hand an der Spitze hinter dem Vater, der den Baum geschultert hatte, durch den Schnee gestapft war. An den Adventssonntagen hatte sie mit der Mutter Plätzchen gebacken. Die fertigen fielen in der großen Keksdose im Keller stets einem geheimnisvollen Schwund anheim, sodass sie ständig Nachschub produzieren mussten. Später, als Jugendliche, hatte ihr die familiäre Enge an Weihnachten missbehagt, und sie war nach der Bescherung in die Dorfdisco verschwunden, um ihre Freunde zu treffen. Dazu galt es zuvor den Gabentisch zu plündern und in ihre neuen Klamotten zu schlüpfen.
Als erwachsene Frau hatte sie das gemütliche Beisammensein mit den Eltern wieder zu schätzen gewusst. Die Mutter ließ es sich nie nehmen, das Festmahl selbst zuzubereiten: Karpfen an Heiligabend, Rehbraten am ersten Weihnachtstag, Gänsekeulen am zweiten. Ihr lief jetzt noch das Wasser im Mund zusammen, wenn sie nur daran dachte.
Diese Weihnachten würden anders sein als alle bisher erlebten, und das machte Jennifer Angst. Die paar Tage, die sie sich noch an ihrem Arbeitsplatz in der Bank aufhalten würde, kamen ihr wie eine Gnadenfrist vor. Ihr Blick glitt über ihren Schreibtisch hinweg aus dem Fenster, hinter dem sie die Gebäude auf der anderen Straßenseite nur erahnen konnte. Auf dem nachtdunklen Hintergrund warfen die Scheiben ihr Spiegelbild zurück, und sie sah in ihre eigenen großen, dunklen Augen. Ihre Hand fuhr in ihren schokobraunen Bob und zupfte eine widerspenstige Strähne zurecht.
Jemand rief: »Jennifer, bist du so weit?«
Hinter sich hörte sie die Kollegen fröhlich lachen. Der allgemeine Aufbruch zur Weihnachtsfeier der Bank ins Foyer hatte begonnen. Man unterhielt sich darüber, wohin man reisen würde, wer welches Geschenk bekam.
»Ja gleich, geht schon vor, ich komme jeden Moment nach.«
Sie griff zu der Schneekugel, die auf ihrem Schreibtisch stand. Ein niedlicher Tannenbaum befand sich darin, inmitten von weißen Schneekristallen. Nick hatte ihr die Kugel vergangene Weihnachten geschenkt, sie hatte es noch nicht übers Herz gebracht, sie zu entsorgen. Nun schüttelte sie die Schneekugel ein wenig und sah gebannt zu, wie der kleine Baum in durcheinanderwirbelnden weißen Flocken verschwand.
Letztes Jahr hatte Nick mit ihr bei ihren Eltern Weihnachten gefeiert, kurz darauf hatte er sie im Streit verlassen. Sie sei ihm zu langweilig, so seine Version des Trennungsgrunds. Er hatte sich in eine andere verliebt, lautete ihre. Anfangs hatte Nick nur ein paar persönliche Dinge aus Jennifers Wohnung mitgenommen. Ein Freund hatte ihm ein Zimmer überlassen, und da gab es nicht viel Platz. Doch nun hatte er ein Apartment gefunden und vergangene Woche alles aus Jennifers Wohnung ausgeräumt, was ihm noch gehörte. Seitdem bewohnte sie ein seltsam leeres Zuhause. Helle Flecken an den Wänden, wo seine Bilder gehangen hatten. Ein schmutziger Rand über der Stelle, die Nicks Designersofa eingenommen hatte. Am schlimmsten war dieser hallende Ton, den der Fernseher verbreitete, weil die Akustik wegen der fehlenden Möbel unangenehm verändert war.
Konnte man in einer so deprimierenden Umgebung Weihnachten feiern?
Es musste wohl sein. Jennifer hatte ihre Eltern besuchen wollen, die ihr Ferienhaus in Mallorca vor einigen Monaten in ein ständiges Domizil umgewandelt hatten, und deshalb eigens Urlaub genommen. Doch im letzten Moment hatte sie es sich anders überlegt. Sie mochte sich von den Eltern nicht über Nick ausfragen lassen. Wollte ihre mitleidigen Blicke nicht sehen. Und an ihren letzten gemeinsamen Urlaub, den sie mit Nick bei den Eltern auf Mallorca verbracht hatte, wollte sie erst recht nicht erinnert werden.
Sie gab der Schneekugel einen Schubs. Ein paar Flocken stoben scheinbar widerstrebend auf.
Nick! Er hatte sein Snowboard im Keller vergessen. Sie sah ihn vor sich, wie er einen schneebedeckten Hang hinabsauste. Wie er lachte und sein dunkles Haar schüttelte, nachdem er den Helm abgesetzt hatte. Oft hatte sie ihn nur begleitet, um ihm zuzusehen, und im Tal auf ihn gewartet. Er stand einfach besser auf dem Brett als sie, fuhr rasanter und war mutiger. Wieso brauchte er sein Snowboard dieses Jahr nicht? Fuhr er an Weihnachten nicht in die Berge? Was machte er wohl an den Feiertagen?
Sie wählte seine Nummer.
»Ho, ho, ho! Wir treffen Santa Claus an Weihnachten in der Karibik. Drückt uns die Daumen, dass wir nicht zu oft vom Surfbrett fallen. Bis nächstes Jahr, ihr Lieben! Und hey, Leute, nicht versuchen, bei mir zu Hause einzubrechen, während ich weg bin. Ich habe da nämlich zwei Männer einquartiert. Dobermänner, ha, ha.«
Genau Nicks billiger Humor, dachte Jennifer und knallte den Hörer auf die Gabel. Hoffentlich pellt sich die sonnenverbrannte Haut von seinem fitnessgestählten Körper und er fällt alle paar Sekunden vom Surfbrett.
»I wish you a merry Christmas!«, intonierte eine dunkle Stimme neben ihr, und Jennifer wandte den Kopf zum Urheber der Gesangseinlage. Ihr Chef war an ihren Schreibtisch getreten. Eine rote Zipfelmütze saß keck auf seinem modisch kahl rasierten Schädel und wollte nicht so recht zu seinem dunkelblauen Businessanzug passen. Auch sein Dreitagebart wirkte für einen Weihnachtsmann irgendwie kläglich.
»Sie kommen doch ins Foyer zur Weihnachtsfeier? Oder wollen Sie die Lobeshymne verpassen, die ich eigens für Sie geschrieben habe?«
»Lobeshymne?«
»Sie führen dieses Jahr die Liste an, Frau Meyer. Sie haben die meisten Kredite eingefädelt und dazu die beste Bewertung von unseren Kunden eingeheimst. Das werde ich in meiner diesjährigen Weihnachtsansprache natürlich erwähnen.«
»Ach so. Ja, danke.« Jennifer spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Öffentliches Lob war nicht so ihr Ding.
»Dass Sie mir bloß nicht kneifen! Ich rechne mit Ihnen.« Ihr Chef drohte ihr spielerisch mit dem Finger und lief zur Tür. »Bis gleich im Foyer!«
Jennifer wollte sich ihm eben anschließen, als ihr Telefon klingelte. Nick, dachte sie. Nick ruft zurück. Sie grapschte nach dem Hörer.
»Nick, du –«
»Ähm. Hier ist Tom.«
»Oh, hallo, Tom.« Mit einem kleinen Lachen kaschierte sie ihre Enttäuschung darüber, dass anstelle von Nick ihr bester Kumpel seit Kindertagen anrief.
»Ich wollte mich bloß noch mal für den Kredit bedanken, den du mir für mein Landhaus verschafft hast.«
»Unsinn«, wehrte Jennifer ab. »Das Geld kam von der Bank, und mein Chef hat den Deal abgesegnet. Ich hab nur den Papierkram erledigt.«
»Was heißt hier: nur? Ohne dich wäre ich nie auf die Idee gekommen, und eure Konditionen sind einfach klasse.« Seine Stimme klang warm. Wie sie ihn kannte, fuhr er sich gerade mit der Hand über das raspelkurze rotblonde Haar.
»Wie geht es dir denn so hinter den sieben Bergen?«, wechselte sie das Thema.
»Bei den sieben Zwergen, meinst du?« Er legte eine kleine dramaturgische Pause ein. »So richtig eingewöhnt habe ich mich bisher nicht. Im Haus herrscht noch gähnende Leere, und bevor ich Möbel reinstellen kann, muss einiges renoviert werden. Es ist noch furchtbar viel zu tun. Zwischen den Jahren will ich ein paar Zimmer streichen, sofern nicht zu viele Notfälle reinkommen. Meine Praxis ist nämlich mit Bereitschaftsdienst dran.«
»Heißt das, du besuchst deine Familie nicht an Weihnachten?« Jennifer klang entsetzter, als sie wollte. Dabei war sie eigentlich nur neugierig.
»Diesmal nicht. Ich werde ganz in der Rolle des Landarztes aufgehen und den Arztkittel ab und an gegen einen Blaumann tauschen.«
»Ambitioniert, der Herr Doktor.«
»Danke. Und du, Jenny?«
»Ja, ich …« Sie dachte an die hellen Flecken auf ihren Wänden, an den Schmutzrand, der an Nicks nicht mehr vorhandenes Sofa erinnerte. »Ich werde wohl ziemlich spartanische Feiertage haben. Meine Eltern sind auf Mallorca, und Nick hat seine Möbel geholt.«
Schweigen.
Tom hatte die hässliche Trennung von Nick mitbekommen, mehrmals hatte er sie in den Monaten danach getröstet.
»Bei mir könntest du Möbel einräumen.« Er schaffte es, den Satz in seiner Beiläufigkeit irgendwo zwischen einem Scherz und einer Einladung anzusiedeln.
»Als Möbelpackerin bin ich eine Katastrophe«, hörte Jennifer sich sagen. »Ich kann aber gern vorbeikommen und dir ein bisschen bei der Deko helfen.«
»Oder du kommst einfach so. Hier kann man wunderbar spazieren gehen«, legte Tom nach. »Gesunde Luft, so viel die Lunge fassen kann, gelegentlich gewürzt mit dem Duft eines Kuhfladens. Ich könnte dich als meine Untermieterin aufnehmen, du bekommst das Zimmer mit Bad im Parterre und kannst hier tun und lassen, was du willst.«
»Hm. Und wie stellst du dir die Feiertage vor?«
»Bis auf ein paar Noteinsätze völlig entspannt.«
»Also ganz ohne Gans, Baum und Gedöns?«
»Genau. Wir köpfen eine Flasche Champagner und schauen uns ein paar Weihnachtsfilme an. ›Kevin allein zu Haus‹ und ›Stirb langsam‹. Oder lieber ›Tödliche Weihnachten‹?«
Jennifer spürte, wie ein Adrenalinstoß durch ihre Adern rauschte. Von wegen nackte Wände anstarren! Das schrägste aller Weihnachten fiel soeben für sie vom Himmel. »Tom, wenn das passt, komme ich gern zu dir.«
»Mach das, ich freue mich auf dich. Wann genau wirst du hier sein?«
»Mal sehen, ich muss jetzt zur Weihnachtsfeier und rufe später noch mal an. Tödliche Weihnachten!« Sie hörte ihn lachen und den Gruß erwidern, dann legte sie auf.
Ein letztes Schütteln der Schneekugel, und das weiße Zeug darin schwebte wieder um den mickrigen Plastikbaum herum. Leckte das Teil etwa, oder wieso waren ihre Finger nass und klebrig? Ihr blieb keine Zeit, die Hände zu waschen. Wenn sie die Lobrede ihres Chefs noch hören wollte, musste sie sich beeilen. Hastig schob sie ihren Schreibtischstuhl zurück und zog im Aufstehen den Saum ihres dunkelgrauen Kostüms in Richtung der Knie.
Nicks Schneekugel segelte in den Papierkorb.