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Kapitel 2

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»Nach dreißig Metern rechts abbiegen.« Die Frauenstimme aus dem Navi klang so bestimmt wie immer, doch Jennifer blickte besorgt durch die Windschutzscheibe ihres roten Mini Coopers. Vor ihr lag ein Fluss, über den nur eine schmale Brücke führte, und die sah nicht besonders vertrauenerweckend aus. Vor allem hatte sie nicht mehr viel Abstand zum Flusswasser, so hoch, wie die Fluten angestiegen waren.

Jennifer mochte kein Wasser.

Mit Nick war sie einmal beinah ertrunken. An Silvester war er in den Pool ihrer Eltern gefallen, und sie hatte ihn retten wollen. Alkoholisiert, wie er war, hatte er sich so fest an sie geklammert, dass sie beide untergegangen waren. Sie hatte sich nur von ihm befreien können, indem sie ihn in den Magen trat, dann war sie an den Beckenrand gekrault und hatte von da aus helfend die Hand ausgestreckt. Sie wusste nicht, um wen sie mehr Angst gehabt hatte, um Nick oder um sich selbst.

»Nach dreißig Metern rechts abbiegen«, wiederholte die Stimme aus dem Navi.

Es half nichts, sie musste über die Brücke. Am liebsten hätte sie die Augen dabei geschlossen.

Wie gut war überhaupt die Idee, bei Tom über Weihnachten Ferien zu machen?

Sie waren im selben Stadtteil aufgewachsen, zusammen zur Schule gegangen, und Tom war stets in ihrer Nähe gewesen. Aber gefunkt hatte es zwischen ihnen nie. Tom war ein Freund. Dass er sie im vierten Schuljahr hatte heiraten wollen, änderte daran genau so wenig wie sein romantischer Auftritt, als er ihr einige Jahre darauf den Abendstern gezeigt hatte.

»Jenny, wenn der aufgeht, denke ich an dich.«

»Wie lieb von dir.«

»Jeden Abend.«

»Wirklich?«, hatte sie erstaunt gefragt.

»Willst du dann auch an mich denken?«

Der Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, musste ihre widerstreitenden Gefühle offenbart haben. Ihre Worte taten ein Übriges. »Was für eine schöne Idee. Aber jeden Abend? Würde einmal im Monat nicht reichen?«

Rückblickend hörte sich das hartherzig an, aber sie war freche vierzehn gewesen, er ein halbes Jahr älter.

Tom hatte sich in einen Hustenanfall gerettet und röchelnd hervorgebracht: »Ja, magst du denn keine Sterne?«

»Doch. Aber … Ach, Tom!«

Sie fuhr auf die schmale Brücke, spürte, wie sie unter ihrem Wagen vibrierte. Dunkle Wassermassen wälzten sich unter der Fahrbahn hinweg und trieben Schlamm und Unrat flussabwärts. Sie zwang sich, nur nach vorne zu schauen und nicht zur Seite.

Mit sechzehn war ihre Freundschaft mit Tom ins Gleichgewicht gekommen. Weil sie eine Ehrenrunde drehen musste, war Marie in ihre Klasse geraten, ein modeldürres Mädchen, das stets verträumt dreinschaute. Ihr nussbraunes Haar reichte ihr bis zur Hüfte, und weil sie wohl wusste, welche Anziehungskraft sie damit auf andere ausübte, hob sie die Wirkung noch hervor, indem sie nussbraune Kleidung trug. Tom hatte sein Zimmer mit ihren Fotos tapeziert. Er war bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen, und da sie seine romantischen Gefühle auf sich zog, waren für Jennifer Kameradschaft und Nähe geblieben.

Endlich, sie hatte das Ufer erreicht, die Brücke lag hinter ihr, und sie bog rechts ab. Eine Weile noch ging es an dem rauschenden Fluss entlang, dann führte die Straße vom Wasser weg. Noch ein Hügel, und eine grüne Weidelandschaft breitete sich vor ihr aus. Eine Herde Kühe sah ihrem dahinbrausenden roten Mini Cooper wiederkäuend hinterher. Sie zählte ein paar Bauernhöfe und erreichte schließlich Toms Dorf. Alte Häuser, enge Straßen. Ein Huhn, das gemächlich über das Kopfsteinpflaster stakste.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht!«, quäkte es aus dem Navi.

Jenny hatte den Fuß längst vom Gas genommen, vor einem alten Herrenhaus kam der Wagen zum Stehen. Es war ein hellgraues Gebäude mit hohen weißen Sprossenfenstern. Wie in der Gegend üblich, lag bestimmt Fachwerk unter dem Putz. Der rötliche Sandstein des Sockels und der Fenstereinfassungen leuchtete mit den blutrot gestrichenen Fensterläden um die Wette. Der Größe nach musste das Haus gefühlt ein Dutzend Zimmer haben.

»Meine Güte, was für ein Kasten!«, flüsterte sie. Dafür also hatte sie Tom den Kredit besorgt. »Respekt, mein Guter!«

Ein Hauch von Ehrfurcht überkam sie. Wie viele Jahrhunderte mochte das Gebäude wohl schon hier stehen? Zwei, drei oder gar vier? Welcher Gutsherr hatte es einst erbaut, und wie viele Generationen hatten darin schon gelebt?

Sie zog ihre Reisetasche aus dem Kofferraum. Ein tiefes Durchatmen noch, und sie trat auf den Eingang zu.

Die Töne, die auf ihr Läuten hin hinter der schweren Holztür im Inneren des Hauses erklangen, ließen das Bild einer kleinen Kirchenglocke in ihr aufsteigen, die in einer weiten Halle unter einer hohen Decke hin und her schwang. Dann stand auch schon Tom vor ihr.

»Hey, alles gut gefunden?«

»Ging so. Diese winzige Brücke über den Fluss war beängstigend. Habt ihr keine größere, die weniger baufällig wirkt?«

Ein Grinsen legte sich auf Toms Gesicht. »Nein. Jeder, der zu uns will, muss über dieses Brücklein. Sollte es mal einstürzen, wird geschwommen. Das ist die Mutprobe, um in unser Dorf zu kommen.«

»Verstehe. Und den Kredit hab ich dir tatsächlich für dieses Anwesen verschafft?« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die Hausfront. Auf den Fotos, die dem Kreditantrag beigelegt waren, hatte es viel bescheidener gewirkt.

»Hast du. Sehr praktisch, dass du bei einer großen Bank arbeitest.«

»Finde ich manchmal auch.«

Tom hatte nicht viel auf der hohen Kante gehabt, und Jenny hatte ein paar Anläufe gebraucht, um ihrem Chef den Kredit für sein Landhaus abzuringen. Zum Glück waren ihr Toms Eltern eingefallen, und sie hatte ihm gut zugeredet, sie mit ins Boot zu nehmen. Danach war alles einfacher gewesen.

»Nun komm doch erst mal rein«, sagte Tom und zog die Tür weit auf. »Die Küche liegt gleich hier unten im Parterre und ist schon benutzbar. Und natürlich ist die Praxis fertig eingerichtet. Willst du sie sehen?«

»Na klar!« Die Praxis war schließlich der Grund, weshalb Tom dieses Haus erworben hatte. Er war hier heraus aufs Dorf gezogen, um ein Landarzt zu werden.

»Ich suche gerade eine Arzthelferin«, redete er weiter, »aber das ist nicht so einfach. Die meisten Mädels wollen lieber in der Stadt arbeiten. Magst du nicht umschulen?«

»Aber, Herr Doktor! Ich kann doch kein Blut sehen.«

»Ach, sei ehrlich, du hängst nur am Geld.«

Sie lachten.

Er ging voraus und durchquerte mit ihr im Schlepptau die Eingangshalle. Seine Absätze schlugen einen gemächlichen Takt auf dem Fliesenboden. Er öffnete verschiedene Türen.

»Die Wohnküche befindet sich hier rechts im Parterre, früher wurde sie allein vom Personal benutzt. Die Herrschaften hielten sich von Küchengerüchen gern fern. Daneben gibt es einen Wirtschaftsraum und eine Tür weiter dein Gästezimmer. Und hier im linken Trakt haben wir die Praxisräume.«

»Mit einem behindertengerechten zweiten Eingang an der Seite des Hauses.« Jennifer sah die Architektenpläne vor sich.

»Richtig. Aber du kannst dich auch von der Halle aus reinschleichen.« Er öffnete die Tür, an deren Innenseite die Aufschrift PRIVAT den Durchgang untersagte, und ließ sie in ein Empfangsbüro, ein Wartezimmer und einen Behandlungsraum schauen. »Da fehlt noch das Ultraschallgerät, das kann ich erst nächstes Jahr anschaffen. Ist leider sehr teuer.«

»Brauchst du noch einen Kredit?«, neckte Jenny. Ihr Blick glitt über sein blasses Gesicht, in dem sie die Sommersprossen hätte zählen können, so nah, wie er jetzt bei ihr stand, und blieb an seinen hellen Iris hängen.

»Nein, nein. Alles gut.« Er konnte mit den Augen lachen. »Ich stehe bereits tief genug in deiner Schuld. Ohne dich wäre ich nicht so schnell zu einer Landarztpraxis gekommen, und schon gar nicht zu diesem grandiosen Landhaus.«

»Vergiss deine Eltern nicht«, erinnerte ihn Jenny. »Wenn sie nicht für dich gebürgt hätten …«

»Schon klar. Zu meinen Eltern kommen wir später noch.« Auf seiner Stirn bildeten sich ein paar Sorgenfalten. »Ich zeige dir erst einmal den Rest des Hauses. Darf ich dir dein Gepäck abnehmen?«

»Danke, nett von dir.« Sie schälte sich aus ihrem Parka und überließ ihm ihre Reisetasche, in der sich alles befand, was sie für die Weihnachtstage brauchen würde: Jogginganzug, Lauf- und Wanderschuhe, dicke Socken, Schlabberpulli, Kuschelpyjama.

Es würde das erholsamste Weihnachtsfest aller Zeiten werden.

Tom trug ihre Tasche in das Gästezimmer, an das ein kleines Bad angrenzte.

»War früher das Dienstmädchenzimmer«, erklärte er. »Der Vorbesitzer hat für das Duschbad vom Wirtschaftsraum nebenan etwas Platz abgetrennt und sogar eine Terrassentür eingebaut. So kommst du von hier aus direkt an die frische Luft. Schau.« Er hob die Gardine an, sodass sie in den parkähnlichen Garten sehen konnte. »Sollte wohl ein Zimmer für seine Tochter werden, aber mit der hatte er sich verkracht, noch bevor alles fertig war. So erzählt man sich jedenfalls im Dorf.«

Jenny sah sich zufrieden um. »Es ist wirklich wunderschön. Ich bin froh, dass ich deine Einladung angenommen habe, ich hätte ja echt was versäumt.«

»Na, dann pass mal auf, die Besichtigung ist noch nicht beendet!« Er führte sie durch ein Treppenhaus, das nahezu ein Viertel des Gebäudes einzunehmen schien, und sie gelangten in einen Raum, zu dem ihr spontan nur das Wort »Salon« einfiel. Eingerichtet war hier noch nichts, lediglich ein Sekretär mit einem Stuhl davor zierte die Wand, und ein Sofa verlor sich mitten im Raum. Dennoch konnte man sich bereits vorstellen, wie beeindruckend es einmal aussehen würde.

Jennifer trat vor eins der hohen Fenster mit den weiß gestrichenen Sprossengittern. Sie gaben den Blick auf die Landschaft frei, die sich grün und weit vor der Terrasse ausbreitete. Der Fluss, den sie bei ihrer Herfahrt über die kleine, baufällig wirkende Brücke überquert hatte, glitzerte in einiger Entfernung, und der Horizont schien endlos weit weg zu sein.

»Ich mag es, wenn man den Besuch sehen kann, während er anrückt.« Sie warf Tom einen verschmitzten Blick zu. »So kann man rechtzeitig flüchten, bevor er eintrifft.«

Tom räusperte sich. »Apropos Besuch –«

»Du wolltest mir noch etwas über deine Eltern sagen«, erinnerte sie ihn fast zeitgleich.

»Genau«, meinte Tom trocken. »Sie kommen uns nämlich besuchen.«

Jenny sagte erst mal nichts dazu.

»Sie wollen mein erstes Weihnachten auf dem Lande gern zusammen mit mir erleben«, fuhr er etwas zögerlich fort.

Jenny sagte immer noch nichts.

»Und mit Anne. Sie ist doch frisch geschieden, und mein Vater meint, ein einsames Weihnachten täte ihr nicht gut.«

»Kommt sonst noch wer?«, platzte Jennifer heraus. In ihrer Frage schwangen Ernüchterung und eine Prise Zynismus mit, doch entweder schien Tom das nicht zu bemerken, oder er ging bewusst darüber hinweg.

»Meine Schwester hat die Kinder dabei«, antwortete er. »Leonie ist inzwischen in der Pubertät und manchmal ganz schön schwierig, aber an Weihnachten sei sie in einer intakten Familie am besten aufgehoben, findet Anne. Und Finn. Er ist zehn und glaubt längst nicht mehr an den Weihnachtsmann. Aber das Credo meiner Mutter lautet immer noch: ›Ohne Kinder wie Finn, die an den Weihnachtsmann glauben, ist Weihnachten ein verlorenes Fest.‹«

»Und jetzt?«, fragte Jenny tonlos.

Tom fuhr sich in einer Geste der Ratlosigkeit über das kurze Haar. »Jetzt weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll. Die Praxis, meine Patienten … Du siehst ja selbst, wie unfertig es hier noch ist. Platz genug gibt es, aber alles andere …«

Sie spürte Groll in sich aufsteigen, während sie ihre perfekten Weihnachten wie Schnee in der Mittagssonne dahinschmelzen sah. Dann fing sie Toms treuherzigen Blick auf, und ihr Ärger ebbte ab. Unmöglich konnte sie von ihm verlangen, seine Eltern abzuweisen, die gerade erst den Kauf dieses Anwesens mit ihrer Bürgschaft ermöglicht hatten. Sie stellte sich Toms Nichte und seinen Neffen inmitten einer Schar Kinder vor, die noch an den Weihnachtsmann glaubten und mit leuchtenden Augen Geschenke auspackten. Und musste lachen.

»Das ist doch alles kein Ding. Ich helfe dir einfach, gemeinsam wuppen wir das ganz locker.«

»Meinst du wirklich?« In Toms Miene zeichneten sich Erleichterung und Dankbarkeit ab.

»Aber sicher. Ist doch deine Familie. Zeig doch mal die Zimmer, in denen du sie unterbringen willst. Hast du denn überhaupt genug Betten?«

»Ich habe zwei Reisebetten und ein paar Matratzen. Aber wo sollen wir feiern? Tisch und Stühle gibt es bisher nur in der Küche.«

»Dann feiern wir eben in der Küche. Du wirst sehen, das wird saugemütlich. Wann werden denn alle anreisen?«

»Leonie würde am liebsten früher kommen, denn am Montag beginnen die Ferien. Aber meine Eltern und Anne haben einen Tag vor Heiligabend im Blick.«

»Also haben wir noch reichlich Zeit. Kein Grund zur Aufregung.«

»Es gibt da noch ein kleines Problem.« Tom schaute verlegen auf seine Hände, die sich ineinander verkrampft hatten. »Das schönste Weihnachtsgeschenk für meinen Vater ist ein Christstollen nach unserem Familienrezept. Den hat meine Mutter früher gebacken, bis es ihr zu viel wurde und meine Schwester diese Tradition übernahm. Aber wegen ihrer Scheidung und der vielen Anwaltstermine ist sie dieses Jahr nicht dazu gekommen.«

»Und?« Ganz kurz bereute Jenny ihre spontane Hilfsbereitschaft. Tom konnte manchmal wirklich kompliziert sein.

»Meine Großmutter hat lange mit dem Rezept experimentiert«, holte er aus. »Mal mehr Rosinen, mal sehr viel mehr Mandeln. Mal weniger Zitronat. Das ging so lange, bis der Stollen jedem einzelnen Familienmitglied schmeckte. Und jedes Jahr hat sie die Veränderungen des Rezepts minutiös notiert.«

»Magst du mir das Rezept geben?«, versuchte Jenny die Geschichte abzukürzen. »Die minutiös notierte letzte Version? Denn wenn ich das richtig verstehe, fällt uns dieses Jahr die Aufgabe zu, den Stollen zu backen.« Wäre doch gelacht, wenn sie so einen blöden Stollen nicht ebenso gut hinkriegte.

»Aber ein Christstollen muss ruhen«, wandte Tom ein, »besonders unser Familienstollen. Mindestens drei Wochen, wenn nicht vier, und die fehlen uns jetzt.«

Sie blies die Wangen auf. »Wenn uns weiter nichts fehlt als ein bisschen Zeit, sollten wir zufrieden sein. Ich kann uns ja einen Quarkstollen backen. Der geht einfach und muss nicht durchziehen.«

»Nicht doch!« Tom sah sie erschrocken an. »Dann könnten wir genauso gut irgendeinen Stollen kaufen. Einen Dresdener zum Beispiel. Der gilt ja als Klassiker. Oder einen rheinischen Mandelstollen, der ist mit gerösteten Mandelblättern umhüllt. Wusstest du, dass es auch Weihnachtsstollen mit einer Marzipanrolle in der Mitte gibt? Wenn du den aufschneidest, lacht dich aus jeder Scheibe Stollen ein runder Klecks pures Marzipan an.«

»Interessant.« In Jennys Stimme hatte sich Spott geschlichen. »Du warst nicht zufällig in deinem ersten Leben ein Stollenverkoster?«

»Nein, nein.« Toms Miene blieb ernst. »Meine Kenntnisse rühren daher, dass wir in der Familie all diese Stollen durchprobiert haben.«

»Und? Wie lautet das Testergebnis?«

Tom überging ihr provozierendes Grinsen. »Es geht nichts über unseren Familienstollen.«

Jetzt reichte es ihr. »Gib mir einfach das Rezept«, verlangte sie bestimmt. »Mir fällt schon eine Lösung ein.«

Er blickte einen Moment misstrauisch drein, dann gab er nach. »Okay, ich drucke es dir nachher im Büro aus.«

»Prima, mach das. Ich kümmere mich gleich morgen um den Stollen. Versprochen.«

Sein Handy läutete.

Er nahm das Gespräch an und redete eine Weile beruhigend auf den Anrufer ein. Dann verschwand das Telefon wieder in seiner Hemdtasche, und er sah Jennifer an. »Es gab einen Unfall auf einem Bauernhof in der Nähe. Ich muss rasch dorthin.«

»Was ist denn passiert?«

»Der Bauer hat sich beim Tannenbaumfällen ins Bein gehackt. Womöglich muss ich ihn ins Krankenhaus bringen lassen, das kann etwas dauern. Wenn du Hunger hast: Im Kühlschrank findest du Butter, Blutwurst und Bier. Frisches Landbrot ist im Brotkasten.«

»Danke. Vor dem Abendbrot wollte ich eigentlich noch eine Runde joggen.«

»Kein Problem, ein Haustürschlüssel hängt in der Diele am Schlüsselbrett. Nimm ihn einfach für die nächsten Tage an dich«, rief er ihr im Gehen aus dem Treppenhaus zu.

Sie eilte im Salon ans Fenster und sah gerade noch, wie er die Arzttasche ins Auto schob, einstieg und losfuhr.

Draußen schwand schon das Tageslicht, und sie begriff, dass sie sich mit dem Joggen beeilen musste. Die Vorstellung, in der Dunkelheit durch eine fremde und verlassene Gegend zu irren, behagte ihr wenig.

Irgendwo im Haus knackte es. Holz, das sich in der Wärme ausdehnt, dachte Jennifer. Dielen oder ein alter Schrank. Ihr Blick fiel auf den Sekretär, der einsam an der Wand stand. Tom hatte ein halbes Dutzend kleine Schaukästen mit Schmetterlingen darauf abgestellt. Sie erkannte einen Feuerfalter, dessen Färbung ins Blutrote reichte, einen Kohlweißling mit kaum wahrnehmbarer, zarter Zeichnung und einen blassgelben Zitronenfalter. Im Holzrahmen zwischen zwei Glasscheiben gepresst, konnten sie sich länger als hundert Jahre halten, ohne zu verwesen.

In der Oberstufe war das Sammeln von Faltern Toms Hobby gewesen, einige Exemplare hatte er sogar selbst präpariert. Man brauchte dazu ein Tötungsglas, aus einem Marmeladenglas mit Schraubverschluss war es rasch gebaut. Hinein kam ein Wattebausch, darüber eine Schicht Gips. Noch bevor sie ganz durchgetrocknet war, bohrte man in die Gipsschicht ein winziges Loch, durch das man später etwas Zyankali in die Watte geben konnte. Zum Sterben brauchten die Flügeltiere nicht viel von den aufsteigenden Gasen, und die Gipsschicht sorgte für die richtige Dosierung. Außerdem nahm sie Feuchtigkeit auf, was verhinderte, dass die zarten Schmetterlingsflügel zusammenklebten. Das Präparieren der Falter erforderte viel Geschick und Geduld. Sie hatte Tom ein paarmal dabei zugesehen, wie er die Insekten mit Pinzette und Skalpell auf einem Spannbrett zurechtgelegt hatte, und ganz flüchtig dachte sie nun, dass er bestimmt auch ein guter Chirurg geworden wäre.

Mit dem ausgestreckten Zeigefinger fuhr sie über einen der kleinen Schaukästen, dann über die gemaserte Holzoberfläche des Sekretärs. Kulis und Bleistifte lagen auf der aufgeklappten Schreibunterlage, daneben ein leeres Blatt Papier. Ein Foto, aufgestellt in einem Alurahmen. Sie nahm es an sich und betrachtete es. Eine schlanke Frau mit schulterlangem grauen Haar war darauf zu sehen, Toms Mutter. Eine jüngere und etwas größere Version der Frau, Anne, stand mit ernstem Blick daneben. Der Mann hinter ihnen überragte die Frauen um einen Kopf. Toms Vater trug sein Haar so kurz wie Tom, nur war es nicht rotblond, sondern schlohweiß. Im Vordergrund machten Annes Kinder Faxen, verzogen die Münder. Das Mädchen hatte zwei Finger zum Victory-Zeichen erhoben, und der Junge, der so viele Sommersprossen hatte wie die Milchstraße Sterne, streckte dem Betrachter die Zunge raus.

»Ihr seid mir ja eine lustige Bande«, murmelte Jenny.

Sie kannte Toms Familie, nur hatten die Jahre alle verändert. Die Kinder waren älter und größer geworden, seit sie sie zuletzt gesehen hatte. Und Anne, Toms ältere Schwester, war nun eine reife Frau. Früher war sie eine echte Nervensäge gewesen. Jüngere hatte sie ständig herumkommandiert, und Jenny war ihr auf dem Schulhof nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Es berührte sie, die Ähnlichkeit zwischen Toms Vater und Tom in diesem Foto festgehalten zu sehen, und in seinem Neffen erkannte sie Tom als Kind.

Sachte stellte sie das Foto zurück.

Und nun rasch raus an die frische Luft!

Leise rieselt der Tod

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