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Kapitel 8 Hoher Besuch
ОглавлениеDr. Brandenburg fuhr wieder zurück in das Institutsgebäude der Rechtsmedizin. Erst einmal alles sacken lassen. Dann die üblichen Papiere: Aktenzeichen geben lassen, Eintrag in das Journal, Fotos auf den Server hochladen, bereinigen, ausrichten, umbenennen. Todesbescheinigung, Besprechungsnotiz, Leichenschaubericht, Formblätter ohne Ende. Was wurde wann und warum und wo mit wem besprochen? Dazu die Namen und Rufnummern. Untersuchungsanträge für das Spurenlabor und das chemisch-toxikologische Labor. Jeder Zettel wurde gescannt, alle möglichen Notizen im pdf-Format abgelegt, QM ließ grüßen, so täglich wie das berühmte Murmeltier. Es war zwar immer lästig, das alles klarzumachen, hatte aber den großen Vorteil, dass man sich dann zurücklehnen konnte und nichts Unerledigtes mit nach Hause nahm. Außerdem war damit eine nochmalige innere Zusammenfassung der wichtigsten Untersuchungen verbunden und manch ein guter Gedanke kam erst dann dazu.
›Wo steckt eigentlich mein eigenes Smartphone?‹, dachte er, nachdem er vom Mittagessen in der Mensa zurückgekehrt war. Er ertappte sich, wie sehr er sich an das Ding gewöhnt hatte, sonst würde er es jetzt auch nicht vermissen. Jackentasche, Hosentasche, nichts. Hastiger Blick über den Tisch, nichts. ›Also ruf ich mich selbst an.‹ Gedacht, getan. Es vibrierte unter einem Zettelstapel. Er nahm es in die Hand, wischte routiniert über das Sperrmuster und zog mit dem Finger vom oberen Rand des Displays nach unten. Eine Sammlung von Mitteilungen ging auf: E-Mails, die er später lesen wollte, die Erinnerung an eine Kalendernotiz: morgen Vormittag Vorlesung für das 9. Semester Medizin, morgen Nachmittag Amtsgericht Wismar, ein Alkoholtermin. Als Letztes eine englischsprachige Mitteilung: [LOG] Owner: Venter 65 found GC und dann eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die dem Code eines Geocaches entsprachen, den er vor sechs Monaten bei Glashagen angelegt hatte. Er blieb an dieser Nachricht hängen, ihm schoss das Blut in die Ohren. Eine Idee kreiste durch sein Hirn und ließ ihn nicht mehr los. ›Oh, shit!‹, sinnierte er, ›wenn das …‹ Ein leises Klopfen an seiner Zimmertür riss ihn aus seinen Gedanken. »Ja, bitte!«
»Karsten, draußen ist jemand, der dich sprechen möchte. Sie lässt sich nicht abwimmeln«, sagte die Sekretärin.
›Auch das noch! Ich kann jetzt nicht, ich will jetzt nicht. Und muss doch.‹ – »Kein Problem«, log er laut, »lass die Dame bitte einen Moment warten! Ich komme sofort.« Er stemmte sich aus dem Sessel, nahm sich einen kleinen Zettelblock, den nächstbesten Kuli, eine seiner Visitenkarten und ging in den Empfangsbereich des Institutes.
Dort traf er auf eine verschwitzte Matrone mit reichlich Handgepäck und einem überlangen, schwarzen Regenschirm, den sie zwischen ihren massigen Schenkeln hielt. »Guten Tag, mein Name ist Doktor Brandenburg. Sie möchten mich sprechen?«
»Ja, guten Tag, mein Name ist von Wenzlow. Können wir ungestört miteinander reden?«
Brandenburg lotste die Dame in den Seminarraum. Sie nahmen an den gegenüberliegenden Seiten eines Tisches Platz. »Bitte, jetzt sind wir ungestört.«
»Sehr schön«, entgegnete sie.
Der Arzt musterte ihr Gesicht. Auffälliges Make-up: knallrote Lippen und tiefschwarze Augenbrauen. Alles nicht unbedingt professionell aufgetragen, sondern ungeschickt wirkend. Langes, dunkles, leicht welliges Haar, eher ungepflegt.
»Wie gesagt, mein Name ist von Wenzlow.« Dabei betonte sie den Namen so, als ob sie ihn ihrem Gegenüber selbst einprägen und es nicht ihm überlassen wollte. »Ich gehöre zu den von Wenzlows, die seit Generationen in Westmecklenburg ansässig sind und in der Vergangenheit über einige doch beachtliche Besitztümer verfügten.« Dabei bohrte sich ihr psychiatrischer Blick in den seinen.
Brandenburg sagte sich: ›Nicht ausweichen, schau sie an und reiß Dich zusammen!‹ – »Verzeihen Sie, ich stamme nicht aus dieser Gegend und überblicke derzeit nicht die Adelsgeschlechter«, entgegnete er.
Seinen leise mitklingenden Spott formte Frau Wenzlow zu einem Kompliment und erzählte in gewähltem Ausdruck und nun leicht beklagendem Ton, dass leider nicht alle Nachkommen derer von Wenzlow sich dieser Historie als würdig erweisen.
»Das tut mir sehr leid, Frau von Wenzlow, aber was kann ich denn bei diesem von Ihnen offenbar sehr unglücklich empfundenen Status nun für Sie tun?«
»Ich verweise auf den sehr kurzen Polizeibericht im Netz, der gestern Abend veröffentlicht wurde. Wissen Sie, ich lebe schon lange in einem Dörfchen bei Schwerin und ein guter Freund von mir ist bei der Kripo dort. Hauptkommissar Thomas Berger meinte, ich könnte Sie vielleicht kurz dazu telefonisch befragen. Er hat mir aber auch gleich gesagt, dass Sie mir wegen der laufenden Ermittlungen sicherlich keine Auskunft erteilen würden. Deshalb dachte ich, ich fahre direkt zu Ihnen. Ich gebe zu, ich habe Thomas Berger etwas bedrängt, aber ich bin so aufgeregt, weil im Polizeibericht ja nur so wenig bekannt gegeben wurde …«, antwortete sie gehetzt.
Doktor Brandenburg war einigermaßen verblüfft, kannte er doch Hauptkommissar Berger nun auch schon ein paar Jahre. ›Wahrscheinlich hat sie sich nicht abwimmeln lassen‹, dachte er.
Die Frau fuhr ohne eine Reaktion abzuwarten fort: »… demnach habe man am Grundlosen Moor eine Leiche gefunden. Die Wälder dieser Gegend sind in der Blütezeit unseres Geschlechts in einem hervorragenden Zustand gewesen. So etwas hätte es damals nicht gegeben. Ich bin entsetzt und überlege mir, einige weitere Schritte zu gehen. Zudem habe ich allen Grund zu der Annahme, dass einige der von mir schon erwähnten, unrühmlichen Nachkommen unserer Linie dahinterstecken. Anders ist das nicht zu erklären.«
»Hochverehrte Frau von Wenzlow«, schraubte Brandenburg zurück, »ich habe allen Grund zu der Annahme, dass dieser Fall schnellstmöglich und mit aller Sorgfalt aufgeklärt wird. Sie haben natürlich die freibleibende Möglichkeit, den Polizeibericht bei der Polizei zu hinterfragen und ergänzende Angaben zu machen. Das würde ich Ihnen sogar ausdrücklich empfehlen. Meine ausgezeichneten Beziehungen dorthin bieten sich an, Sie zu avisieren.«
»Das würden Sie für mich tun?«
»Aber selbstverständlich. Ich schlage vor, dass wir diese fraglos sehr interessante Unterredung schnell beenden, damit ich dazu Gelegenheit habe.« Er stand auf und überströmte sie mit einem breiten Lächeln, als ob ihm ihr Besuch den Tag gerettet hätte.
Die Wirkung blieb nicht aus. Frau von Wenzlow erhob sich und war entzückt, so angenommen worden zu sein. Sie verließ unter sorgfältiger Mitnahme aller Gepäckstücke und sich wiederholenden Dankesbezeugungen das Institut.
Brandenburg war überrascht, aus diesem Gespräch schneller als erwartet herausgekommen zu sein und flüchtete zurück in sein Dienstzimmer. Sein Gedanke, der ihm beim Öffnen der E-Mail gekommen war, hatte geduldig auf ihn gewartet. Er spann ihn so lange zurecht, bis er ihn für mitteilenswert hielt.
Zur selben Zeit kam ein Treffen mit den Eltern von Hannes Köster zustande. Der Erstkontakt, das Überbringen der traurigen Gewissheit, dass ihr Sohn nicht mehr lebte, war Kommissarin Kerstin Semlock zugekommen, erste Sachbearbeiterin im Fachkommissariat 1. Ihre Kollegen schätzten ihr Einfühlungsvermögen und ihre fachliche Expertise. Sie war seit vielen Jahren eine extrem engagierte Polizistin, Kriminalhauptkommissarin. Eine schlanke, attraktive Frau und Mutter, die sich daran gewöhnt hatte, immer mal Avancen zu parieren, die sie als Ausgeburt der Männerdominanz in ihrem Beruf bezeichnete. Sie konnte sie weglächeln, ebenso wie die zugegeben nur anfänglichen Vorbehalte, die dieselben Kollegen ihr gegenüber hervorbrachten. Als unverzichtbare Leistungsträgerin hatte sie sich mit ihrer direkten und fokussierten Art längst durchgesetzt und den Respekt erarbeitet, den ihre männlichen Kollegen viel einfacher gewinnen konnten. Also schauten wie immer alle auf sie. Aus dieser Situation kam sie nicht heraus.
Die Eltern von Hannes Köster waren an diesem Donnerstagmorgen nach einer langen Nachtfahrt aus ihrem Urlaub in der Eifel zurückgekehrt und hatten ihren Sohn nicht zu Hause angetroffen. Ungewöhnlich war das keineswegs, da er meistens schon gegen sechs Uhr in die Tischlerei fuhr. Nichts ahnend öffneten sie am frühen Nachmittag Kerstin Semlock und einer sie begleitenden Psychologin die Tür. Von der freundlichen Begrüßung bis zum sprachlosen Nicht-fassen-können vergingen Sekunden. Den Schrecken und das Aufnehmen der schlimmen Nachricht konnte man den Eltern nicht ersparen. Die beiden Frauen ließen sich und ihnen aber Zeit, in der sie die Verfassung der Unglücklichen einzuschätzen lernten und in der sie auch merkten, zu welchem Zeitpunkt sie etwas sagen oder fragen konnten. Dabei konnte Kerstin Semlock ihre, für viele ihrer Kollegen beeindruckende situative Kompetenz ausspielen.
Das Elternpaar wollte man danach nicht allein lassen und man bot ihnen an, mit auf die Dienststelle zu fahren, um eine erste Vernehmung durchzuführen. Es erschien etwas heikel, so schnell vorzupreschen, und vielleicht unzumutbar. Letztlich erwies sich die Entscheidung aber als richtig. In der Dienststelle erschien das sonst benutzte Vernehmungszimmer zu kalt und ungemütlich, sodass die beiden in den Videoraum geführt wurden. Der war wohnlich eingerichtet und sah nicht so büromäßig aus. Hier wurden auch Kinder und Jugendliche gehört, wenn sie zu vernehmen waren.
Kerstin Semlock bot beiden etwas zu trinken an, hatte etwas Gebäck gereicht und bemühte sich redlich, um die Atmosphäre so erträglich wie möglich zu gestalten. So schwierig die Vernehmung der älteren Leute war, so unergiebig war sie auch. Die Kommissarin hatte nach einer Stunde längst nicht alles angesprochen, was sie sich zurechtgelegt hatte, spürte aber, dass es für die beiden genug war. Sie beendete das Gespräch mit der Ankündigung eines zweiten Treffens und entließ Hannes’ Eltern in den mittlerweile späteren Nachmittag, der sie draußen mit der gleichen Schwere empfing, die sich auch um ihre Herzen gelegt hatte.
Die Kriminalbeamtin hatte nichts wirklich Substanzielles erfahren. Demnach hatte ihr Sohn Hannes kürzlich eine Ausbildung bei einem bekannten Tischlermeister begonnen. Er hatte zurzeit keine Freundin, traf sich unregelmäßig mit ehemaligen Klassenkameraden, war kein Diskogänger. Alkohol und Drogen hätten für ihn nie eine Rolle gespielt. Er sei sehr häuslich und besorgt gewesen. Alle reagierten freundlich auf ihn. Alles fast auffällig unauffällig. Mehr war in der ersten Vernehmung nicht zu erfahren.
Deutlich mitgenommen lehnte sich Kerstin Semlock zurück in ihren Sessel, als das Telefon klingelte. »Semlock.«
»Brandenburg.«
»Na, Doc, heute mal keinen Spruch?«
»Ich habe da etwas Anderes für Sie.«
Kerstin Semlock hatte Schwierigkeiten, am Telefon so unvermittelt umzuschalten. Der Doc klang nicht so locker wie sonst, wobei das im Moment auch nicht in den Nachklang der gerade beendeten Vernehmung gepasst hätte. »Sie haben doch gerade obduziert und noch immer nicht genug? Dann raus damit, höre mit Füneff.«
Die Frau war immer wieder gut für eine kleine Überraschung, dachte Brandenburg. »Füneff«, den Begriff kannte er noch aus DDR-Zeiten: GST, Nachrichtensport, Ausbildung zum Sprech- und Tastfunker. So wurde die »Fünf« im Sprechfunk ausgesprochen, um sie unverwechselbar zu machen. Unverwechselbar, um nicht zu sagen einmalig, wie eben diese Frau. »Haben Sie schon mit der Staatsanwältin telefoniert, Frau Semlock?«
»Ja, sie hat mir das Obduktionsergebnis zusammengefasst.«
»Wie schade, dass Sie nicht selbst kommen konnten. So muss ich etwas weiter ausholen.«
»Tun Sie das, aber bitte konzentriert und nicht so viel Prosa.«
»Ja, ja, es geht mir nur um das Smartphone von Hannes Köster, weil es am Tatort nicht in einer seiner Taschen steckte, sondern unter seiner rechten Hand lag. Daraufhin habe ich in meinem Büro erst mal mein eigenes gesucht.«
»Klingt spannend, Doc.«
»Ich habe meine am Vormittag eingegangenen Mitteilungen gecheckt.«
»Gratuliere, sind Sie jetzt auch schon digital?«
Ohne ihre Lässigkeit zu kommentieren, redete er weiter. Er kannte die Kommissarin nun schon seit etwa vier Jahren und hatte gelernt, ihre manchmal etwas zu kumpelige Art einzuschätzen. »Die letzte Mitteilung beziehungsweise Mail lese ich Ihnen mal vor: [LOG] Owner: Venter 65 found GC.Dann folgt eine Kombi aus Zahlen und Buchstaben. Und weiter Glashagen (Traditional Cache).«
»Ich kann auch deutsch.«
»Ja, kann mich erinnern, aber hier steht es so.«
»Sie würden mich nicht anrufen, wenn Sie diese kryptische Botschaft nicht entschlüsselt hätten.«
»Die Erklärung ist tatsächlich ganz einfach und vielleicht tatrelevant. Ich bin seit einigen Monaten Geocacher.«
»Geo-was?«
»Geocacher«, wiederholte er. »Ich habe mich bei geocaching-international.com registrieren lassen und eine App runtergeladen, über die ich geocachen kann.«
Kerstin Semlock wurde ungeduldig. Wenn der Doc ihr alle seine Hobbies aufzählen wollte, dann sollte er sich vielleicht eine andere Gelegenheit suchen. »Nun erzählen Sie schon, was das ist und was das mit unserem Fall und mit mir zu tun hat!«
Er spürte ihre Ungeduld, überlegte kurz, ob er es weiter spannend machen sollte, entschied sich aber, schnell sachlich voranzukommen. »Also, Geocacher sind mit einem selbst gewählten Spielernamen über eine Datenbank vernetzt. Wenn jemand meint: ›Mensch, tolle Gegend hier, die alte Schlossruine, dazu noch ein herrlicher Blick übers Land, das möchte ich anderen zeigen‹, dann geht er online und reicht die Geokoordinaten sowie eine kurze Beschreibung des Ortes bei geocaching-international.com ein. Die prüfen, ob die Spielregeln eingehalten werden und schalten den Eintrag frei. Am Ort selbst hinterlässt der ›Owner‹ in einer wasserdichten Box oder in einem verschraubten Röhrchen ein kleines Logbuch, das andere Mitspieler über die Geokoordinaten finden können, aber doch so versteckt, dass zufällig vorbeikommende Spaziergänger, im Sprachgebrauch übrigens sehr treffend als ›Muggels‹ bezeichnet, den Cache nicht entdecken. Der Finder hinterlässt handschriftlich einen Eintrag mit Datum und oft auch Uhrzeit des Auffindens. Viel mehr Platz bietet das Logbuch nicht. Damit der Fund auch offiziell registriert wird, wiederholt der Finder das Loggen online, nun auch mal mit einem Dankeschön oder sogar ausführlichen Beschreibungen, wie er den Cache gefunden hat und dergleichen.«
»Schön, Doc! Neues Spiel neues Glück? Hat die Geschichte außer ihrem Neuigkeitswert noch irgendeine Finesse, die Ihren Anruf bei mir rechtfertigt?«
»Frau Semlock, das Smartphone von Hannes Köster. Nehmen wir mal an, er hat es benutzt, während er vom Schlag getroffen wurde, dann könnte er einen Cache gesucht haben.«
»Das kann er uns nicht mehr sagen. Vielleicht wollte er auch nur telefonieren.«
»Aber sein Handy könnte uns das sagen.«
»Okay, die IT-Forensiker haben das Gerät schon im LKA, wie Sie wissen.«
»Schön und gut, selbst wenn Sie herausfinden, dass er solch eine App hatte und die auch gestartet war, bekommen sie keinen Zugang, weil sie Muggels sind.«
»Ah, Herr Doktor, ich ahne, dass Sie Ihre Unersetzlichkeit über ein Alleinstellungsmerkmal demonstrieren wollen?«
»Na ja, ich würde mich zur Verfügung stellen, wobei der Konjunktiv hier falsch gesetzt ist, denn ich habe es bereits getan.«
»Sie haben das Handy doch gar nicht!«
»Richtig, aber ich habe die sicher unersetzlichen Kompetenzen der IT-Forensiker flankiert, in dem ich selbst online gegangen bin.«
»Ja, und? Macht das Spielen Spaß?«
»Ich höre da so eine Mischung aus Spott und Sarkasmus, Frau Semlock. Gänzlich unangebracht an dieser Stelle.«
»Nun reden Sie schon weiter, mein Gott und nehmen Sie mich bitte mit auf Ihre geoakademischen Höhenflüge!«
»Mit dem größten Vergnügen. Nehmen Sie Platz und halten Sie sich fest! Ich habe mir die Umgebung des Tatortes mappen lassen. Da befinden sich fünf Caches in einem Vier-Kilometer-Radius.«
»Holger, die Waldfee, lassen Sie mich raten!«, rief Frau Semlock nun tatsächlich begeistert. »Die Koordinaten des Tatortes sind mit den Koordinaten eines Caches identisch?«
»Yep, ein Cache mit dem beziehungsreichen Namen ›Grundloses Moor‹ und der Kennung GC7PCQW.«
»Herr Doktor, das ist ja wirklich mal was. Grundloses Moor klingt ja schön schaurig, passt zu einem Tatort. Wir wollen nun natürlich wissen, wer sich da in letzter Zeit eingeloggt hat.«
»Ja, kann ich ihnen sagen, mit Datum und Uhrzeit.«
»Hä?«
»Yep, kein Problem, nur dass sich die Namen lesen wie aus dem Telefonbuch vom Melmac. Will sagen: Das sind Spielernamen! Und will weiter sagen, was Sie mir sicher auch gleich sagen, dass Sie jetzt ein prozessuales Problem bekommen. Wie wollen Sie an die Klarnamen herankommen?«
»Wie ich Sie kenne, schwebt die Antwort schon im Äther.«
»Nö.«
»Was, nö?«
»Na eben nö oder nee oder niente. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, welcher Spielername etwa dreißig Minuten vor der von uns geschätzten Sterbezeit eingeloggt wurde.«
»Wie bitte?« Jetzt schrie sie fast in den Hörer. »Damit kommen Sie jetzt erst? Nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Koloss.«
»Bitte?«
»Koloss um 12:30 Uhr. Das ist der Spielername, eine E-Mail-Adresse ist auch dabei, die schicke ich Ihnen mit meiner Dankesmail für das freundliche Telefonat, dann brauchen Sie nur noch draufklicken. Ich könnte Ihnen übrigens noch mehr schicken.«
»Ich bin schon reichlich beschenkt, Doc, obwohl es bis Weihnachten noch ein paar Tage hin ist.«
»Ich habe trotzdem noch etwas für Sie. Die E-Mail-Adresse des Owners von Grundloses Moor.«
»Was für ein Owner?«
»Das ist der, der den Cache angelegt hat. Weiterhin habe ich die Spielernamen von den Cachern, die sich in die Logbücher der anderen Caches in der näheren Umgebung des Tatortes eingeloggt haben. Da sind zwei, offenbar am Vormittag desselben Tages, im selben Wald, wenn auch nicht direkt am Grundlosen Moor, aber doch potenzielle Zeugen, oder? Die Namen und E-Mail-Adressen schicke ich Ihnen auch. Jetzt sind Sie dran, machen Sie was daraus und dabei wünsche ich Ihnen maximale Erfolge. Ach übrigens, grüßen Sie Ihre Tochter von mir.«
Sie verabschiedete sich, klickte zeitgleich in ihrem E-Mail-Postfach auf Senden/Empfangen, in der Hoffnung, Brandenburg hätte schon ein paar Fakten geschickt, und legte den Telefonhörer auf. ›Was hat der noch gesagt?‹ Erst jetzt waren die letzten Worte des Rechtsmediziners in Kerstin Semlocks Kopf angekommen. ›Ich soll meine Tochter grüßen? Ach, du ahnst es nicht!‹, dachte sie, ›hat sie es doch wahrgemacht und sich für das Wahltertial in der Rechtsmedizin angemeldet?‹ Die Zeit war eben vorbei, in der man alles über seine Kinder wusste.
Keine neuen Nachrichten. »Nun mach schon, mach schon!« Wenig später und es ploppte ein Signal für eingehende Post auf. Sie las: Spielername Koloss, dazu eine E-Mail-Adresse. Zwei weitere Namen: Vesta und Poweron. Schnell setzte sie an Koloss einen Text auf, in dem sie sich als Kriminalbeamtin vorstellte, der aber keine Abwehr erzeugen sollte. Schließlich brauchte sie diese Geocacher. Möglicherweise waren Koloss und die anderen Geocacher Zeugen. Sie aktivierte also alle Formulierungskünste, ohne auf den eigentlichen Hintergrund der beabsichtigten Vernehmung zu kommen. Sie gab als Vernehmungsgrund nur die Klärung eines Sachverhaltes an und drückte auf Senden. Die gleiche E-Mail schickte sie an die zwei anderen Cacher.
Nun galt es, den Cache am Tatort zu finden, der den Kriminaltechnikern am Vorabend offenbar entgangen war. Also ein wirkliches Versteck und sie musste sich zusammen mit ihren Kollegen damit abfinden, dass sie eben wirkliche Muggels waren und an einem Tatort etwas Wichtiges übersehen hatten.
geocaching-international.com. Ideal wäre, an den Klarnamen von Koloss zu kommen und damit an seine ladungsfähige Anschrift. Sie ging sofort online und suchte sich die Kontaktadresse zu der Geocaching-Zentrale heraus, stellte sich in einem Anschreiben vor, erklärte kurz die Situation und bat um die Übermittlung des Klarnamens und der Anschrift von Koloss. In einem Nachsatz versuchte sie, Bedenken bezüglich des Datenschutzes auszuräumen, sprach von höherem Rechtsgut wegen der Ermittlungen zu einem Tötungsdelikt und führte prophylaktisch andere mögliche Wege an, die sie gehen könnte, über ein schriftliches Herausgabeverlangen der Staatsanwaltschaft bis zu einem Gerichtsbeschluss. Ihre Begeisterung über diesen ungeahnten Ermittlungsweg war so groß, dass sie all das tatsächlich in eine E-Mail packte und versendete.