Читать книгу Grundloses Moor - Ulrich Hammer - Страница 6
Kapitel 3 Falk und Mirko
ОглавлениеBad Doberans Ortsteil Althof galt seit dem späten zwölften Jahrhundert als Ursprung der Christianisierung Mecklenburgs. Das Kloster mit seinem Münster war ein Symbol für die norddeutsche Backsteingotik. Die Geschichte des ersten deutschen Seebades Heiligendamm, die Geologie der Endmoränen zwischen Doberan und Kühlungsborn – all diese Dinge waren Falk und Mirko, einundzwanzig und neunzehn Jahre alte Brüder, nicht gänzlich unbekannt, aber doch sehr fern. Sie gehörten zu denen, die sich als Verlorene sahen. Verlorene, weil sie mit zwölf und zehn aus dem Blick derer verschwunden waren, die sie hätten behüten sollen. Verschwunden, weil all das, was ihre Eltern einst ausmachte, sich über viele Jahre in einer Mischung aus Alkohol und anderen Drogen aufgelöst hatte. Eltern, die sich irgendwann einmal innig geliebt hatten, die aber sich und ihre Kinder ebenso wenig wie ihre Zuneigung hatten bewahren können, deren Lebensgefüge zerbrochen war und die ihre Zerbrechlichkeit an die Kinder weitergegeben hatten. Leben im Heim, Alkohol, immer Stärke demonstrierende Persönlichkeiten, die mit ihrem Willen nie dahin passten, wo sie gerade waren. Konflikte mit jedem und allem, was sie umgab. Die Brüder lebten nicht, sondern zerlebten ihre Zeit. Schulabbruch, Abbruch der Ausbildung, Fahren ohne Führerschein, Körperverletzungen, kleine Diebstähle und irgendwann ein Raub. Jugendstrafen, zunächst auf Bewährung, Bewährungswiderruf, Freiheitsstrafen in Neustrelitz und Bützow. Neues Wir-Gefühl unter strenger Administration. Haftbedingungen boten endlich ein festes Zeitgefüge, was sich aber in Freiheit ebenso auflöste, wie alles, was sie bisher versucht hatten.
Die Mollistraße in Bad Doberan hat einige Nebengassen. Die Schienen der Bahn und die uneben verlegten Gehwegplatten glänzten feucht. Von den Laternen tropfte es. Ein ungemütlicher Herbstwind trieb die kalte Feuchtigkeit durch die Straßen, als müsste er sie beatmen. Es wurde dunkel, Abendbrotzeit für die meisten, die von der Arbeit nach Hause gehetzt waren, die Einkaufsbeutel trugen und Kinderwagen schoben. Die Geschäfte in der Mollistraße und am Kamp gingen ins Finale des Tages. Abendbrotzeit für die, die Familie hatten, die vom Kalten und Ungemütlichen ins Warme konnten. Nicht für solche wie Falk und Mirko, die keinen Tagesrhythmus hatten, auf die keiner wartete, die aber trotzdem da waren, immer, jeden Tag. Nicht für die, die in kleinen Gruppen standen und tranken und deren kehlige Stimmen sich manchmal ins Gehör derer drängten, die mit ihnen lieber nichts zu tun haben wollten. Sie fanden sich auf dem Kamp zusammen, um sich gegen Kälte und fremde Blicke zu schützen, um das bisschen zu halten, was ihnen gemeinsam war.
Am Abend des 22. Oktober rollte die S-Klasse aus Richtung Rostock kommend und hielt sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeit, um nicht aufzufallen. Das Fahrwerk schluckte elegant jede Bodenwelle. Am östlichen Ortseingang von Bad Doberan eine Ampelkreuzung, links und rechts Gewerbegebiete. »Da hinten ist eine Tanke, fahr da mal ran!«
Der Wagen bog rechts ab, um gleich wieder links auf das Gelände einer Tankstelle einzuschwenken. Er hielt zwischen den Luftsäulen und der Waschanlage. Der Fahrer und seine zwei Begleiter stemmten ihre trainierten Körper aus dem Wagen, stellten sich zusammen und ließen ihre von einiger Routine getriebenen Augenpaare einen Stadtplan absuchen, den sie auf dem Autodach ausgebreitet hatten. Sie hielten nach einem Gebiet Ausschau, das am ehesten ihrem Vorhaben entgegenkam.
»Warum nehmen wir nicht einfach Google Maps?«
»Damit nicht irgendwann einer auslesen kann, dass ich jetzt und hier auf Google Maps was gesucht habe.« Dann wandte sich der Fahrer wieder dem ausgefalteten Stadtplan zu. »Lass es uns hier versuchen!« Er zeigte auf ein grünes Dreieck, einen Park oder eine Grünanlage, die offenbar von drei Straßen umgeben war. »Es wird hier so sein, wie überall. Die Penner hängen da drinnen irgendwo ab. Keiner sieht sie, schon gar nicht jetzt im Dunkeln. Dort können wir uns bewegen.«
»Du wirst recht haben«, meinte einer der beiden Mitfahrer, »aber wir sollten vielleicht sehen, dass wir an Typen kommen, die dann auch funktionieren. Hab keine Lust, in diesem Kaff Geld in den Sand zu setzen.«
Die Männer setzten sich in Bewegung, fuhren die B105 bis zum Alexandrinenplatz und bogen nach rechts in Richtung Kamp. Sie rollten langsam durch die August-Bebel-Straße, dann nach links in die Severinstraße.
»Die haben sogar ein Kino hier. Scheiße, da sitzen noch welche am Bier. Lass uns weiter rum fahren, da sind nur noch Geschäfte. Bieg da vorne wieder links ab! An der Apotheke vorbei und dann hältst du!«
»Da, seht ihr?« Der Fahrer deutete auf zwei dunkle Gestalten. »Die an dem Pavillon da. Ich gehe von der Westseite rein«, bestimmte er, »und ihr beiden kommt mir entgegen. Wir nehmen sie zwischen uns. Haltet erst mal Abstand, das Übliche dann auf mein Zeichen.«
Sie verteilten sich wie besprochen, kreisten das Innere der Parkanlage ein und bemerkten schon nach wenigen Metern zwei Männer, die sich lautstark unterhielten. Die Stimmen kamen von einem schwach beleuchteten, roten Pavillon. Die Männer standen unter dem Dachüberstand und sprachen relativ sauber, zumindest nicht sinnlos betrunken. Als sich die Kontur des Fahrers im Gegenlicht der Straßenlampen abzeichnete, drehten sie sich zu ihm und verstummten.
»Alles okay, kein Stress!«, bemühte der sich in lässigem Ton. »Brauche zwei verlässliche Leute, viel Geld für wenig Arbeit.«
»Was soll das? Wir sind hier am Schluck aber nicht bescheuert. Verpiss dich, Locke!«
»Zweitausend auf die Hand. 500 gleich, den Rest danach.«
Stille. Die Angesprochenen waren verunsichert. Sie sahen sich scheu um. Niemand in der Nähe, der etwas mitbekommen würde. Das klang zu direkt und zu gewaltig, als dass sie ein neues »Verpiss dich!« ausgerufen hätten. Das war einfach zu viel und gleichzeitig unglaublich, weil noch nie so gehört.
»Wer bist du?«, traute sich Mirko die breitschultrige Gestalt vor ihm zu fragen.
»Nicht das Arbeitsamt«, entgegnete diese.
»Wer dann?«
»Wer will das wissen?«
»Wir beide!«
»Ich bin der, den ihr nach dem Job vergessen dürft, aber erst dann. Vorher überzeugt ihr mich, dass ich die Richtigen gefunden habe.«
»Warum suchst du deine Leute im Dunkeln?«
»Ganz einfach …« hörten Falk und Mirko ihr Gegenüber noch sagen, als dieser ein Handzeichen gab und sich aus dem Nichts hinter ihnen zwei weitere Gestalten lösten, die die beiden ahnungslosen Kleinstadtganoven mit katzengleicher Gewandtheit und trainierten Griffen und Hebeln nach hinten rissen, sodass sie mit einem dumpfem Rums zu liegen kamen. Die Angreifer knieten jeweils neben dem Brustkorb und pressten ihn mit Schenkeldruck zusammen, ihre Unterschenkel lagen über den gespreizten Beinen der Überwältigten, man hielt ihnen den Mund zu, riss die Oberbekleidung auf, tastete die Jackeninnen- und die Taschen der Hosen ab und fingerte mit geübten Bewegungen die Geldbörsen heraus. Nachdem das Gesuchte zur Inspektion nach oben gereicht worden war, lockerte man die Griffe.
An Gegenwehr war überhaupt nicht zu denken. Zum einen waren die zwei Brüder keine routinierten Straßenkämpfer, zum anderen ließen die körperliche Dominanz der Angreifer und das Überraschungsmoment sowie die eigene Alkoholisierung keinen derartigen Gedanken zu. Als man die bis eben zugepressten Münder wieder freigab, keuchten diese ihre Angst, ihren Schmerz und ihren Schock heraus und ihre Gehirne veranlassten, dass die eingetretene Sauerstoffschuld nachgeatmet wurde. Sie lagen völlig wehrlos auf dem Sand eines Weges, den Stadtplaner sorgfältig durch eine Grünanlage hatten legen lassen und auf dem morgen wieder Mütter ihre Kinderwagen schieben würden. Aber jetzt lief noch das Kontrastprogramm, von dem niemand in der näheren Umgebung etwas mitbekam, weil es bereits dunkel war.
»Nun habt ihr die Antwort. Die Fragen stellen wir, denn wir müssen wissen, ob unser Geld gut angelegt ist und der Gegenwert auch geliefert wird.« Dabei leuchtete er mit einer Taschenlampe auf die Ausweispapiere. »Ihr seid also Falk und Mirko?« Dann steckte er die Papiere ein.
Beide wurden an ihren Jacken wieder nach oben gezerrt und auf die Füße gestellt. Sie sagten nichts und warteten ergeben auf den Fortgang der Aktion.
»Hört zu, wenn ihr das könnt! Wir behalten eure Papiere, bis der Job erledigt ist. Was ihr zu tun habt? Hier steht alles drin.« Er reichte den beiden einen Briefumschlag, den er aus der Brusttasche seines edlen, aber sportlich wirkenden Jacketts gezogen hatte. »Darin findet ihr die Anzahlung. Wir wissen jetzt, wo ihr wohnt. Wenn ihr euch mit der Anzahlung verpissen wollt oder rumquatscht, wird’s euch nicht mehr lange geben. Eure scheiß Assi-Bude wird zusammen mit euch in Rauch aufgehen. Unfall beim Zigarettenrauchen, oder so. Denkt nicht daran, uns anzuscheißen! Wir behalten euch im Blick.«
Daraufhin entfernten sich die drei Männer ins Dunkel der kleinen Parkanlage und ließen die Brüder völlig überrumpelt und eingeschüchtert zurück.
»Das war ja eine nette Überraschung.« Mit diesen alkoholbedingt etwas vernuschelten Worten rappelte sich Mirko als Erster auf und klopfte sich den Staub von den Sachen.
Dann erhob sich Falk, um sich an einen der großen Bäume zu lehnen. Vielmehr sackte er in sich zusammen und nestelte den Briefumschlag hervor. »Was wollen die Säcke?«, fragte er in die Dunkelheit.
»Weiß ich doch nicht«, antwortete Mirko, wobei seine Stimme fast weinerlich klang. »Die haben uns am Haken, Mann«, rief er aus. »Fleppen weg, Perso weg – Scheiße! Ich will so etwas nicht!«
Falk nahm 500 Euro und ein Blatt Papier aus dem Umschlag. Er las im Flackerlicht seines Feuerzeuges vor: »Treffpunkt Dienstag, 23 Uhr, Walkenhagen.«
»Walkenhagen? Wo is dat denn?«, rief Mirko.
»Bei der Jet-Tankstelle, die Straße raus, wo die Abwasseranlage is.«
»Hört sich doch an wie ’n Dorf.«
»Dat is keen Dorf, dat is een Teil von Doberan, Mann.«
»Die Dörfer heißen hier doch alle so: Nienhagen, Admannshagen, Bargeshagen …«
»Halt die Klappe, Mann!«, fiel ihm Falk in seine Aufzählung. »Walkenhagen is da, wo ich gesagt hab, wo auch früher die alte Chemiefabrik war.«
»Bist du hier auf einmal der Geschichtsprofessor, du Penner?« Mirko riss ihm den Zettel aus der Hand und drehte und wendete ihn. »Dienstag? Dat is morgen?! Wat soll der Scheiß?«
»Die werden uns nich’ fürs Hinfahren 2000 Euro bezahlen. Wir sollen da irgendwat machen, jedenfalls irgendwat, wat die nich’ selber machen wollen.«
»Und wenn wir da einfach nich’ hingehen?«, fragte Falk.
»Mann, die ziehen uns hoch, die machen uns alle, wir müssen da hin, sonst is dein und mein beschissenes Leben vorbei!«
»Eben, beschissen ist sowieso allet, da kommt’s nich’ mehr drauf an.«
»Vergiss es, Junge! Wir gehen da erst mal hin, wir beide, und dann können wir vielleicht immer noch sehen, wat geht.«
Mit dieser bescheidenen Aussicht, dass vielleicht doch noch etwas gehen würde, trollten sich die beiden Richtung Kammerhof in ihre Wohnung. Auf dem kurzen Weg schwieg jeder vor sich hin.