Читать книгу Das Haus in den Dünen - Ulrich Hefner - Страница 10
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ОглавлениеTrevisan nahm den Weg über die Ebertstraße zum Rechtsmedizinischen Institut. Kleinschmidt war schon bei der Arbeit, hatte Fingerabdrücke von der rechten Hand der Leiche abgenommen, sie digitalisiert und das automatische Vergleichsprogramm am Computer gestartet. Spätestens bis zum nächsten Morgen würde das Ergebnis vorliegen. Vorausgesetzt, es lagen identische Prints des Toten im Zentralcomputer des BKA vor. Doktor Mühlbauer, der Chefpathologe, hatte die Obduktion für den Mittag angesetzt. Obwohl ihm bereits der Magen knurrte, ließ Trevisan das Mittagessen ausfallen. Eine Leichenöffnung führte bei ihm immer noch zu einem lästigen Magendruck. Es gab Dinge, an die würde er sich nie gewöhnen.
Das rote Backsteingebäude lag im gleißend hellen Sonnenschein eines herrlichen Sommertages. Ein nahezu wolkenloser Himmel und Temperaturen um die dreißig Grad brachten selbst Trevisan, der gerade aus seinem Urlaub im heißen Griechenland zurückgekehrt war, ins Schwitzen. Nach einem stürmischen und verregneten Frühling war der Sommer nun doch noch ins Wangerland eingekehrt. Trevisan ließ seine dunkle Stoffjacke im Wagen zurück und ging den von Büschen und Sträuchern gesäumten Fußweg entlang.
»Ach, wenn das nicht unser Stammgast der letzten Monate ist«, begrüßte ihn Doktor Mühlbauer, der neben dem Eingang auf einem Gartenstuhl Platz genommen hatte und sein Gesicht der Sonne zuwandte. »Setzen Sie sich ein paar Minuten zu mir und erfreuen Sie sich am Sonnenschein. Ich habe noch zehn Minuten Mittagspause. Vielleicht bekomme ich etwas Farbe, bevor ich mich wieder in meinen dunklen Keller begebe. Waren Sie nicht in Urlaub?«
»In Griechenland, drei Wochen. War eine tolle Zeit. Und vor allem gab es keine Leichen.«
»Ah, Griechenland. Athen, Akropolis, die Ägäis, Kreta, auf den Spuren der Antike«, stöhnte Doktor Mühlbauer. »Da war ich vor zwei Jahren. In diesem Jahr will meine Familie nach Polen.«
»Polen?«, erwiderte Trevisan erstaunt. »Warum Polen?«
»Die Wurzeln der Familie meiner Frau liegen in Masuren. Vor ein paar Monaten lief darüber ein Filmbericht im Fernsehen, jetzt hat sich meine Frau in den Kopf gesetzt, auf den Spuren ihrer Vorfahren zu wandeln. Ausgerechnet jetzt, wo ich den Segelschein gemacht habe.«
Trevisan lächelte. »Und Sie können ihr das nicht ausreden?«
Doktor Mühlbauer erhob sich. »Frauen …!«, bemerkte er abfällig.
Trevisan fröstelte. Der lange, gekachelte Flur, der zu den Obduktionsräumen führte, war ausgefüllt von grellem Neonlicht. Er bemerkte eine Veränderung: Zwei überdimensionale Bilder zierten jetzt die Wand. Abstrakte Kunst in blau-rotem Farbengewirr.
»Hat mir meine Tochter geschenkt«, erklärte der Chefpathologe. »Sie studiert Kunst. Sie meinte, ich solle mir die Schinken in mein Büro hängen. Aber ich denke, hier unten sind sie besser aufgehoben. Und die Toten stören sich nicht daran.«
»Und was sagt Ihre Tochter dazu?«
Mühlbauer zog grinsend den Schlüssel aus seiner Hosentasche. »Gott behüte, wenn sie es erfährt. Aber da kann ich ganz beruhigt sein. Das hier wäre der letzte Ort, an dem sie auftauchen würde. Sie kann nämlich kein Blut sehen.«
Als Trevisan den dunklen Sezierraum betrat, spürte er wieder das beklemmende Gefühl in seiner Magengegend, das ihn von jeher in diesen Räumen begleitete. Vielleicht war es wie das Lampenfieber, vor dem auch erfahrene Schauspieler nach der hundertsten Aufführung nicht gefeit waren. Richtig mulmig wurde es Trevisan erst, als Doktor Mühlbauer in voller Montur im Sezierraum auftauchte und das weiße Laken zurückschlug, unter dem der Tote auf dem Seziertisch lag.
»Viel ist nicht mehr übrig.« Der Doktor betrachtete die Leiche. »Kopf, Oberkörper und die linke Körperhälfte sind verkohlt. Er war offenbar starker Hitze ausgesetzt. Die rechte Körperhälfte ab dem Musculus rectus abdominis ist bis zur Fußspitze angeschwärzt, aber weitestgehend erhalten. Und, für die Polizei sehr hilfreich, auch der rechte Arm weist nur leichte Verbrennungen auf. Wenn Sie mich fragen, dann ist er unter einen brennenden Balken geraten und wurde eingeklemmt.«
»Wir müssen wissen, wodurch er starb«, erklärte Trevisan. »Vielleicht wurde der Brand zur Verschleierung der wahren Todesursache gelegt.«
»Dann wollen wir einmal in die Materie vordringen.« Der Chefpathologe griff zur Säge.
»Es macht Ihnen wohl nichts aus, wenn ich mich da drüben auf einen Stuhl setze.«
Doktor Mühlbauer schüttelte den Kopf. »Wo die Toiletten sind, brauche ich ja nicht zu sagen.«
Die Autopsie dauerte über eine Stunde. Trevisan vermied allzu tiefe Atemzüge, der Geruch wurde beinahe unerträglich. Als Doktor Mühlbauer die Handschuhe abstreifte, erhob sich Trevisan und eilte zur Tür. »Ich warte draußen.«
»Ja, ja, gehen Sie nur. Ich komme gleich nach. Genießen wir noch etwas die Sonne und befreien wir uns von dem Geruch.«
Als Trevisan durch die gläserne Schwingtür hinaus ins Tageslicht trat, atmete er erst einmal tief durch. Er setzte sich auf einen der Gartenstühle neben dem Treppenaufgang und wartete. Es dauerte nicht lange, bis sich Doktor Mühlbauer mit einem Seufzer auf dem freien Stuhl niederließ.
»Zu neunundneunzig Prozent ein Opfer der Flammen und des Rauches«, sagte er. »Rauchgasvergiftung, Ohnmacht, Verbrennungen, das war der Gang der Dinge. Zwar müssen wir noch auf das toxikologische Gutachten warten, aber es würde mich wundern, wenn sich da eine andere Diagnose einstellt. Nein, Trevisan, Sie können davon ausgehen, dass der Tote ein klassisches Brandopfer ist.«
»Eigentlich habe ich das nicht anders erwartet«, murmelte Trevisan.
»Tut mir leid, dass ich keinen anderen Befund liefern kann«, entschuldigte sich Doktor Mühlbauer. »Ein Projektil oder so etwas hätte vielleicht ein wertvoller Hinweis sein können. In diesem Fall: Fehlanzeige.«
Trevisan seufzte. Es gab neben all den Zufällen und den möglichen Zeugenbeobachtungen im Prinzip zwei Schlüssel zur Lösung eines Falles. Der eine führte über das Opfer selbst, seine Persönlichkeit, seine Geschichte und seine Beziehungen. Der zweite Schlüssel führte über die Tat. Über die Art und Weise der Begehung, über die Vorgehensweise des Täters und über Spuren, die der Täter hinterlassen hatte. Im Fall Baschwitz gab es keine verwertbaren Spuren. Trevisan wusste, dass viel Arbeit vor ihm und seinem Team lag.
*
Monika Sander war der Verzweiflung nahe. Sie saß zusammen mit Anne Jensen im Verwaltungsbüro der Stadtverwaltung.
»Wir haben die Freiwilligen Wehren aus den einzelnen Stadtteilen«, sagte der Sachbearbeiter, »dann kommen da noch die Hafenfeuerwehr und einige Werksfeuerwehren hinzu. Weiterhin müssen wir unterscheiden zwischen Mitgliedern und aktiven Wehrmännern. Und vergessen Sie nicht, in den umliegenden Gemeinden sind ebenfalls Frauen und Männer in freiwilligen Verbänden organisiert. Natürlich können wir Ihnen die Listen für Wilhelmshaven besorgen, aber das wird eine Weile dauern. Um die Betriebsfeuerwehren und die Hafenwehr, die Bundeswehreinheiten, die sich mit Brandbekämpfung beschäftigen, und die Freiwilligen Feuerwehren der Umlandgemeinden müssen Sie sich selbst kümmern, da kann ich leider nicht behilflich sein.«
»Was glauben Sie, wie viele Personen kommen da zusammen?«, fragte Monika.
Der Sachbearbeiter wiegte zögernd den Kopf. »Grob 350 Mann bei den Aktiven, und etwa tausend sonstige Mitglieder. Musikkapellen, Fördervereine, und so weiter. Aus dem Umland, damit meine ich den engen Kreis, kommen wohl noch einmal 250 Mann hinzu. Wenn Sie alle überprüfen müssen, dann haben Sie eine Menge Arbeit vor sich.«
Monika Sander zog ihre Stirn kraus. Mit dieser ungeheuren Zahl hatte sie nicht gerechnet. »Bis wann können Sie mir eine Liste für Wilhelmshaven zusenden?«
Der Sachbearbeiter schaute auf den Kalender, der neben ihm an der Wand hing. »Vor drei, vier Wochen war schon einmal ein Kollege von Ihnen hier. Es müsste noch eine Auflistung im Computer gespeichert sein. Ihr Kollege fragte aber nur nach der Kernstadt. Für eine Gesamtzusammenstellung brauche ich mindestens eine Woche. Wobei ich einen offiziellen Antrag benötige. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob ich die Daten so einfach weitergeben darf.«
»Und wenn es um Totschlag oder Mord geht?«, erwiderte Monika Sander.
»Sie meinen wegen des Toten heute Morgen am Südwestkai?«
Monika Sander nickte.
»Unter uns gesagt, hat dieser Brandstifter bislang nützliche Arbeit geleistet«, flüsterte der Sachbearbeiter. »Verstehen Sie mich nicht falsch, nicht, dass ich die Sache gutheiße – und seit es einen Toten gab, sieht es sowieso ganz anders aus. Aber aus städteplanerischer Sicht war er mitunter ganz hilfreich. Die meisten Gebäude, an denen er sich vergriff, waren von maroder Bausubstanz und hätten früher oder später abgerissen werden müssen. Sie glauben gar nicht, auf welchen Widerstand wir stoßen, wenn wir mit Firmen in Kontakt treten und die Sanierung eines Gebäudes fordern. Plötzlich wird aus einer Ruine wieder ein wertvolles Lagergebäude.«
»Das heißt aber nicht, dass wir auch noch eine Liste der Bediensteten des Rathauses brauchen …?«, unkte Monika.
Abwehrend hob der Verwaltungsbeamte die Hände. »Selbstverständlich nicht. Ich werde Ihnen die Liste baldmöglichst übersenden.«
Monika erhob sich lächelnd und reichte dem Mann die Hand. »Ich verlasse mich auf Sie.«
Sie ging mit Anne zu ihrem Dienstwagen zurück und stieg ein. »Das heißt«, sagte sie, während sie den Gurt anlegte, »dass wir uns noch um die Umlandgemeinden und die Firmen kümmern müssen, die Betriebsfeuerwehren unterhalten. Bei all der Arbeit, die vor uns liegt, hoffe ich nur, dass wir auf dem richtigen Weg sind.«
»Das klingt allerdings nicht nach einer schnellen Lösung«, antwortete Anne.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Und wenn wir die Listen haben, müssen wir sie erst auswerten. Viele der aktiven Feuerwehrmänner sind zwischen achtzehn und vierzig Jahre alt. Ich frage mich, ob unser Netz nicht zu grob ist.«
»Also, irgendwie klingt das alles nicht sehr erfolgversprechend«, bemerkte Anne.
»Hast du eine andere Idee?«
*
»Jens Baschwitz, geboren am 2. März 1971 in Cuxhaven, geschieden und seit knapp fünf Jahren wohnsitzlos. Er hat noch Familienangehörige in Emden. Seine Exfrau und zwei Söhne.« Dietmar blätterte die Computerausdrucke durch. »Diebstähle, Beleidigungen, Schlägereien und sogar ein Raub unter Tippelbrüdern.«
»Ein Raubüberfall?«, fragte Till Schreier.
»Er hat gemeinsam mit einem Komplizen vor acht Wochen einen Zechbruder um seine Tageseinnahmen aus der Fußgängerzone erleichtert. Angeblich hatte der Beraubte Schulden bei ihm und der Fall war nicht so ganz eindeutig, weil alle Beteiligten alkoholisiert waren. Deswegen wurde das Verfahren eingestellt. Gesessen hat er auch schon. Von April 1996 bis Juli 1997 verbüßte er eine Freiheitsstrafe wegen wiederholter Körperverletzung. Ein ganz übler Bruder offenbar.«
»Kann das vielleicht ein Motiv sein?«
Dietmar warf die Aufzeichnungen auf den Schreibtisch. »Glaube ich nicht. Ich bin sicher, er ist nur zufällig zum Opfer geworden. Wahrscheinlich war er besoffen und hat gar nicht bemerkt, wie die Bude langsam über ihm abfackelte.«
»Wer war damals der Beraubte, beziehungsweise der Komplize von Baschwitz?«
Dietmar durchsuchte die Papiere auf dem Schreibtisch. »Der Komplize heißt … Moment … hier hab ich’s … Schmitt, ganz einfach Schmitt, Vorname Uwe. Auch so ein Penner, genauso wie der Überfallene. Das Opfer war ein DDRler, Karl Ammann ist sein Name, auch ohne festen Wohnsitz.«
»Die DDR gibt es nicht mehr«, erwiderte Till. »Dann machen wir uns mal auf den Weg.«
»Wohin willst du?«, fragte Dietmar überrascht.
»In die Stadt, in die Fußgängerzone. Heute ist ein schöner Tag, da werden wir schon ein paar von ihnen in den Straßen finden.«
»Du willst wirklich nach den Tippelbrüdern suchen?«
Till verzog genervt das Gesicht. »Natürlich. Wir sollen alle Möglichkeiten ausloten, bevor wir uns allzu schnell auf eine Version stürzen.«
»Aber bei den Pennern …!« Dietmar schüttelte den Kopf. »Da kriegen wir doch nie was raus.«
Till zuckte die Schultern. »Sagen wir mal so: Es kommt immer darauf an, wie man fragt.«
*
Hans Kropp schlug die Plane zurück und befestigte den Lederriemen in der Schlaufe der Bordwand. Zufrieden streifte er die Arbeitshandschuhe ab und warf sie in die Fahrgastzelle seines LKW. Es war kurz vor siebzehn Uhr. Die Hitze des Tages trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Dreißig Grad zeigte das Thermometer an der Frachthalle und es war nahezu windstill.
Er kontrollierte noch einmal die Ladepapiere. Dann schwang er sich in seinen Laster und rangierte ihn geschickt in den Schatten des Verwaltungsgebäudes. Für heute hatte er genug. Seine Kehle war ausgetrocknet und sein rotes Muskelshirt vollgesogen wie ein Schwamm.
Als er hinüber zur Werkstatt schlenderte, befiel ihn ein eigenartiges Gefühl. So, als würden sich die Blicke lauernder Augen in seinen Rücken bohren. Er wandte sich um und schaute über den Betriebshof, doch keine Menschenseele war zu sehen. Wie eine Glocke lag die flirrende Hitze über dem Asphalt und brachte jede Bewegung im Industriegebiet zum Erliegen.
Zögerlich ging er weiter. Bevor er die Werkstatt betrat, blickte er sich noch einmal um, doch niemand war zu sehen.
»Hallo, Hans«, begrüßte ihn der Mechaniker, der in der Werkstatthalle an einem offenen Getriebe arbeitete. »Deine Kiste schon beladen?«
Hans Kropp nickte und ging hinüber zum Waschbecken. »Alles klar.«
»Wenn du von deiner Tour wieder zurück bist, dann ist dein Laster dran. Die Inspektion ist fällig.«
»Das wird eine Weile dauern«, erwiderte Kropp. »Bis Donnerstag in einer Woche werde ich schon brauchen. Der Weg nach Barcelona ist lang.«
Der Mechaniker folgte ihm und wischte seine öligen Finger an einem noch öligeren Lappen ab. »Gehst du ins Stadion?«
»Wenn Barca spielt, dann bin ich dabei, das ist doch klar.«
Neidisch lächelte der Mechaniker. »Das nächste Mal will ich auch mit«, sagte er. »Trinken wir noch ein Bier?«
Kropp schaute auf die Uhr mit dem Pepsi-Cola-Schriftzug, die über dem Waschbecken hing. »Eins geht immer. Ich fahr erst morgen früh.«
Es wurden drei Flaschen, bevor Hans Kropp kurz nach neunzehn Uhr nach Heppens aufbrach. Bevor er in den Wagen stieg, schaute er sich noch einmal um. Das sonderbare Gefühl, das ihn vor einer Stunde draußen im Betriebshof überfallen hatte, war zurückgekehrt.