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Kapitel 2

Gesundheitliche Aspekte und Verunsicherung durch einen Laufpapst

In jenen Tagen erschien in der regionalen Tageszeitung die Vorankündigung einer Veranstaltung, die mit der aufkommenden Begeisterung für den Langlauf zu tun hatte. Ein gewisser Dr. van Aaken war von der örtlichen Laufgruppe eingeladen worden und hielt im so genannten Katholischen Vereinsheim in Hof einen Vortrag über Laufen als Ausdauersport. Der Herr, der mir bis dato nicht aufgefallen war, galt als eine Art Laufpapst und bundesweite Koryphäe dieser neuen Laufbewegung. Es war also nicht nur in meinem begrenzten Nordostoberfranken etwas in Bewegung, sondern im ganzen Lande. Das war denn doch eine erstaunliche Entwicklung.

So machte ich mich – immer noch als nichtlaufender Laufinteressierter – auf, dem Vortrag dieses Dr. van Aaken zu lauschen. Ich ging davon aus, dass sich nur ein paar versprengte Idealisten und Esoteriker im tristen Saal des altehrwürdigen Katholischen Vereinsheims einfinden würden. Doch weit gefehlt. Es war gerammelt voll: Läufer, Nichtläufer, Noch-Nicht-Läufer, Dicke, Dünne, Junge, Alte. Allerhand. Ich war schwer beeindruckt von der versammelten Meute, die sich da dicht gedrängt ein Stelldichein gab. Einige der Anwesenden waren in Laufkleidung erschienen, so als ob sie gleich anschließend in die Nacht hinausrennen wollten. Ich fühlte mich leicht verloren, da ich selbst zu diesem Zeitpunkt immer noch kein ausdauernder Läufer war, noch nicht „für ein langes Leben programmiert“ und naturgemäß noch nicht so läuferisch lustig, wie das im Saal von schnatternden Sportlern lautstark propagiert wurde.

Ein paar lokale Laufgrößen, Vereinsvorsitzende und andere Bedeutungshuber begrüßten die Anwesenden. Dann kam Dr. Ernst van Aaken auf die Bühne. Im Rollstuhl. Er redete konzise und prägnant über die Vorzüge des Langlaufs und eine gesunde Lebensführung. Der Impetus des erfahrenen Arztes und Läufers war jederzeit spürbar, sein Vortrag war von einer deutlichen „No nonsense“-Attitüde durchdrungen. Allerdings, so kam es mir zunehmend vor, auch von einer etwas esoterischen, rigiden, nahezu rechthaberischen und missionarischen Haltung, die vom Läufer, oder vom potentiellen Läufer wie mir, so allerhand einforderte. Der Grundtenor dabei war, dass wirklich fast alle Menschen sich zu wenig bewegen, zu fett und zu süß essen, übergewichtig sind – und mit dieser bemitleidenswerten Haltung ihr Leben ruinieren.

Dr. van Aaken vertrat steile Thesen. Seiner Meinung nach müsste der Mensch jeden Tag laufen, mal schnell, meist aber eher langsam und sehr lange, morgens, abends und gegebenenfalls auch nachts, ohne Ausreden. Er sollte nicht nur Normalgewicht haben, sondern mindestens zehn Prozent unter Normalgewicht liegen. Einmal Essen am Tag war nach Meinung des Arztes genug, sonst würde der Appetit zu sehr angeregt. Hielte man das alles konsequent ein, dann würde man ein Leben lang gesund sein, zudem geistig und körperlich fit. Na bravo, dachte ich mir, wie soll der Mensch das leisten? Vor allem: Wie sollte ich das leisten? Würde ein solches prinzipientreues Leben überhaupt noch Spaß machen?

Bei den meisten Menschen im Saal spürte ich während des Vortrags ein gewisses Unbehagen aufkommen, fühlten sie sich doch anscheinend ob ihrer Unzulänglichkeiten in der Lebensführung ertappt, fast etwas blamiert. Einerseits schienen sie einzusehen, dass sie etwas an ihrem Leben ändern mussten, andererseits sollte das Leben doch wohl Freude bereiten und Essen ebenso, oder nicht? Ein liebes, langes Leben lang sich fordern, beim Laufen herumquälen und im Alltag kasteien, war das wirklich eine solch glänzende Idee? Dr. van Aaken jedenfalls war davon überzeugt und bei seinem Vortrag spürten alle, dass er seine Thesen ernst und ehrlich meinte. Wieso aber saß er im Rollstuhl? Eine Verletzung beim Sport?

Nach dem Vortrag standen die Leute im Katholischen Vereinsheim herum und diskutierten heftig, mit und ohne Dr. van Aaken. Einige Läufer und selbst einige Läufer in spe waren begeistert, andere hegten Zweifel an den strikten Thesen, die der Doktor präsentiert hatte. Richtig lustig, so wie es von den Mitgliedern der Lauftruppe des Dr. Laubmann gerne gesehen wurde, waren die Läufer hier im Saal jedenfalls nicht.

Wieso saß der gute Mann nun wirklich im Rollstuhl? Ein knorriger Läufer konnte mir Auskunft geben und schilderte mir, dass Dr. van Aaken ein schlimmes Schicksal erlitten hatte, das schlimmste, das einen Läufer erwischen konnte. Im Jahre 1972 war er beim abendlichen Laufen von einem Auto umgefahren worden, als er eine Straße überqueren wollte, und es mussten ihm beide Beine amputiert werden. Ein furchtbares Los für jeden Menschen, ein niederschmetterndes für einen Läufer und Lauftrainer. Mir fehlten die Worte. Umso bemerkenswerter war, dass er sich nicht in sein Schicksal ergab, sondern sein Leben meisterte, mit Prothesen wieder Radtraining und Gymnastik absolvierte, Vorträge hielt, junge Sportler coachte, herumreiste und Bücher über Laufen, aerobes Training und gesundes Leben schrieb und publizierte. Alle Achtung vor diesem Mann, auch wenn seine gestrengen Lebensentwürfe und Laufthesen für mich unerreichbar schienen.

Ich kaufte mir eines seiner Bücher. Es hieß „Programmiert für 100 Lebensjahre“, umfasste weit über 300 kleingedruckte Seiten und es war harter Stoff, meiner Meinung nach etwas zu moralinsauer und detailversessen. Dr. van Aaken ließ den Leser spüren, dass dieser keine Ahnung hat, er selbst aber von allen sportlichen, medizinischen, physischen, physiologischen und läuferischen Aspekten eine ganze Menge. Das war einerseits beeindruckend, andererseits nervig, vor allem wenn er sich in uferloses Detailwissen erging. Ich las also über maximale Sauerstoffaufnahme ohne Anwachsen einer initialen Sauerstoffschuld, die Vermeidung der Milchsäurebildung, gesteigerte Fermentaktivität und generell über die Vorteile des lebenslangen Laufens, also seiner Meinung nach über Schutz vor Herzkrankheiten, Prävention von Diabetes, Verringerung des Krebsrisikos, Reduktion des Depressions- und Demenzrisikos, antientzündliche Effekte, Reduzierung des Bauchfetts, Optimierung des Fettstoffwechsels, Anti-Aging-Effekt.

All das sind Dinge, die heute in den Medien omnipräsent sind. Damals, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, hatte kaum einer von ihnen gehört oder gelesen. Mir als Nichtläufer, aber potenzieller Laufkandidat schienen die Ausführungen durchaus stringent.

Doch der Doktor verzettelte sich im Buch meiner Meinung nach im luftleeren intellektuellen Raum. Er lästerte über sinnloses Mittagessen aller Art und fachsimpelte über die Vermeidung lästiger Darmgase durch gesundes Essen. Menschliche Willensschwäche verachtete er grundsätzlich und er empfahl neben dem täglichen langen Laufen die abendliche Lektüre eines guten Buches oder wissenschaftlichen Werkes oder die Hingabe an die Kunst, vor allem die Musik. Das war natürlich sehr schön gedacht, aber wer war denn hier die Zielgruppe? Menschen im täglichen Rattenrennen gaben sich kaum immer abends noch dem Guten, Wahren, Schönen hin, oder?

Es sollte im Buch noch besser kommen, wie man so schön sagt, also eher schlimmer. Dr. van Aakens fixe Idee war, dass das Körpergewicht unbedingt drastisch reduziert werden musste, wobei er bei mir offene Türen einrannte, denn dieser Meinung war ich schon lange, allerdings erfolglos. Er schreckte nicht davor zurück, konkrete Ratschläge zu geben, wie man am besten abnimmt. Seine Empfehlung einer Einsteigerdiät zu diesem Thema gestaltete sich wie folgt:

Tag 1: 5 Eier in Abständen von 3 Stunden und 1 Liter Apfelsaft

Tag 2: 500 g Magerquark und 1500 g Äpfel

Tag 3: 300 g Reis und Tee

Tag 4: 200 g Kalbsschnitzel und 200 g Vollkornbrot mit 20 g Butter, dazu Tee oder Kaffee

Tag 5: 1 Liter Milch und 1 Liter Fruchtsaft

Tag 6: 200 g Pellkartoffeln, 200 g Vollkornbrot, 20 g Butter, ½ Liter Milch, 100 g Gouda, 250 g Magerquark

Tag 7: 200 g Schweineleber, 200 g Pellkartoffeln, 20 g Butter, 100 g Salat, 100 g Tomaten, ½ Liter Milch, ½ Liter Apfelsaft

Generell verdammte er Kakao, Süßigkeiten und Kuchen. Eier allerdings lobte er über den grünen Klee und empfahl ausdrücklich eine Eierkur.

Dass zu viel Zucker, Süßigkeiten und Alkohol schädlich sind, akzeptierte ich. Das war ja allgemeines Wissen und galt schon ewig. Ansonsten war mir das alles zu pingelig und kleinkariert. Ohne mich.

Eine Überlegung wert war sicherlich seine Abgrenzung des von ihm favorisierten Ausdauertrainings vom bis dahin üblichen und populären Intervalltraining. Denn Intervalltraining bedeutete Ausdauererwerb durch kurze Strecken mit relativ großer Intensität und häufiger Wiederholung, nur kurzen Pausen und damit unvollständiger Erholung. Das von Dr. van Aaken propagierte reine Ausdauertraining überzeugt hingegen durch kontinuierliches Steigern des aeroben Stoffwechsels. Man trainierte also, ohne sonderlich zu schnaufen, immer im Sauerstoffbereich.

Kaum war ich einen Moment lang vom Gelesenen überzeugt, erlitt ich wieder einen Rückschlag. Da hieß es bei der praktischen Anwendung des Lauftrainings zum Beispiel: Empfohlen wird bei Mittel- und Langstrecken ein kontinuierlicher Waldlauf oder Straßenlauf von 10–20 Kilometer in wechselndem Gelände, im Tempo nicht schneller, als dass man sich dabei bequem unterhalten kann.

Fein. 10–20 Kilometer, haha. Ich selbst musste erst einmal einen einzigen Kilometer schaffen und erst danach konnte ich an längere Strecken denken. So waren meine theoretischen Anfänge als künftiger Läufer hin- und hergerissen vom Laubmannschen Ansatz eines freudvollen, gesunden, „lustigen“ Laufens, ohne viele Hintergrundreflexionen und dem mit Theorie überfrachteten Laufen Dr. van Aakens.

Was ich hier formuliere, ist natürlich eine verkürzte und damit ungerechte Darstellung, aber sie entsprach meinem Grundgefühl zum damaligen Zeitpunkt. Die Situation erinnerte mich an meinen Einstieg ins Tennisspielen. Ich hatte zwei Tennistrainer: einen Tschechen und einen Amerikaner. Mit dem Tschechen kam ich praktisch nie zum richtigen Spielen, weil er sich liebend gerne in der Theorie des Spiels erging. Er predigte die hohe Kunst eines ästhetischen Ablauf des Tennisspiels und gab permanent Befehle: „In die Knie, weit ausholen, vorlaufen, richtig durchziehen! So nicht, sondern Schläger vor dem Körper runter, seitlich stehen, dann schwungvoll in den Topspin“ und so weiter. Das mochte alles richtig sein, machte mich aber ganz verrückt, weil immer etwas mit dem Schlag, der Spielanlage und dem Timing nicht stimmte. Der Amerikaner hingegen zeigte mir kurz, wie er sich das Tennisspielen vorstellte und meinte dann: „So, jetzt spiel einfach mal los, lauf und schlag.“ Während wir spielten, korrigierte er kurz und bündig ab und zu die Schläge, learning by doing sozusagen. Das „tschechische“ Spiel war ästhetischer, eleganter, jedoch für mich im Match erfolgloser, weil ich zu viel dachte. Ähnlich war es jetzt beim Laufen: ein wissenschaftlicher und hochkarätig theoretischer Ansatz kollidierte mit dem praktischen Vorschlag, einfach mal loszulaufen und dann zu sehen.

Egal. Jetzt musste ich endlich einen Startpunkt setzen und laufen, nicht nur in Theorie herumschnüffeln. Da ich ja nicht in Fußballschuhen laufen konnte, ging ich in den Keller, um Turnschuhe zu holen. In einem Regal fand ich ein paar steinharte Uraltturnschuhe. Es war nahezu unmöglich, sie anzuziehen, es war vollends unmöglich, darin zu laufen. Meine unsportliche Vergangenheit ließ grüßen.

Ich wusste, dass in meiner Heimatstadt zwischenzeitlich ein kleiner Lauf-Shop am Rande der Innenstadt eröffnet hatte. Eine Premium-Lage war für solche Läden damals noch nicht denkbar. So machte ich mich zu dem Laufladen auf und traf dort auf eine sympathische Mittvierzigerin, die Ladeninhaberin. Sie war offensichtlich selbst Läuferin, jedenfalls schien sie sich mit Laufschuhen auszukennen. Viel anderes hatte der kleine Laden im Gegensatz zu heutigen auf das Laufen spezialisierten Sportshops auch nicht zu bieten. Lediglich ein paar Laufshirts und Shorts hingen an den Wänden, ein Karton mit Energieriegeln lag auf dem Tresen.

„Hallo, ich möchte gerne ein paar Laufschuhe kaufen“, sagte ich brav.

„Hallo, ja, prima. Haben Sie da an etwas Spezielles gedacht?“, fragte die freundliche Frau.

„Also, nicht wirklich. Halt so zum Laufen.“

„Welche Strecken laufen Sie denn so?

„Äh, tja, eigentlich laufe ich noch gar nicht. Ich wollte mit dem Laufen erst anfangen.“

„Prima, gute Idee. Laufen ist Klasse. Macht echt Spaß.“

Dieser kleine Motivationsschub freute und bestärkte mich.

„Na, zeigen Sie mir mal, was Sie so für Laufschuhe im Angebot haben“, sagte ich.

„Sind Sie ein Normalläufer, ein Pronierer oder ein Supinierer?“

„Äh, wie bitte?“

„Na, laufen Sie normal oder nach innen oder nach außen?“

„Ein Orthopäde hat mir mal gesagt, ich habe Senk-, Knick- und Spreizfuß. Oder so ähnlich.“

„Tja, die Orthopäden. Als ich es mal im Kreuz hatte, hat mir einer geraten, mich möglichst wenig zu bewegen, mich hinzulegen und nicht zu laufen. So ein Trottel. Seit ich laufe, sind alle meine Rückenprobleme weg.“

„Das ist ja fein. Und was nehmen wir jetzt?“

„Laufen Sie mal geradeaus in den Laden hinein.“

Ich lief geradeaus in den Laden hinein. Sie stand hinter mir und beobachtete meine Füße.

„Ganz klarer Fall von Pronierer. Starker Pronierer, würde ich sagen.“

„Was war das noch mal?“

„Sie laufen extrem nach innen. Sie brauchen Laufschuhe mit einer Art Fußbrücke.“

„Und so was haben Sie?“

„Klar. Viele Läufer laufen nach innen. Da gibt es hervorragende Laufschuhe. Schauen Sie mal.“

Ich probierte ein paar recht schick aussehende Laufschuhe eines japanischen Herstellers an, mit denen ich angeblich nicht mehr nach innen laufen würde. Sie passten gut, schienen mir aber vorne an den Zehen zu groß.

Ich lief ein bisschen im Laden herum.

„Nicht schlecht. Aber die sind vorne mindestens ein bis zwei Zentimeter zu lang.“

„Wenn Sie erst mal lange Strecken laufen, werden Sie dafür dankbar sein. Laufschuhe dürfen nicht zu knapp sitzen. Sonst gibt es Blutblasen.“

„So so. Was heißt denn ‚lange Strecken‘‘ für Sie?“

„Na so fünfzehn, zwanzig Kilometer oder mehr.“

„Sie sind lustig. Ich muss erst mal einen Kilometer schaffen.“

„Das werden Sie nach kurzer Zeit. Mit diesen Schuhen laufen Sie wie auf Wolken, versprochen.“

Ich wollte die gute Frau nicht enttäuschen, zahlte einen meinem Empfinden nach erstaunlich hohen Preis für diese Wunderschuhe, klemmte den Schuhkarton unter die Arme und spazierte davon. Zuhause lief ich mit meinen neuen Laufschuhen in der Wohnung herum. Sie trugen sich wirklich sehr komfortabel.

Jetzt gab es endgültig keine Ausrede mehr.

Lustige Läufer leben länger - oder zumindest besser

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