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Kapitel 3

Runden auf dem Sportplatz und zunehmende Freude beim Laufen im Gelände

Los ging es morgens an einem sonnigen Spätfrühlingstag. Ich zog es vor, meine ersten Laufversuche nicht abends mit einer Laufgruppe zu absolvieren, um mich als Anfänger nicht zu blamieren und weil ich den anderen Läufern kein Klotz am Bein sein wollte. Zwar hatte man mir erzählt, dass jeder, wirklich jeder, in der Gruppe mitlaufen könne, dass es Gruppen mit unterschiedlichen Niveaus gebe, also welche für Anfänger, Fortgeschrittene und Schnelle, aber beim ersten Mal wollte ich lieber eigenbrötlerisch allein sein.

Doch wohin? Raus ins Grüne fahren und dann vom geparkten Auto weglaufen wollte ich nicht, denn wer weiß, vielleicht übernahm ich mich und konnte dann schauen, wie ich wieder zurückkam. Am simpelsten erschien mir die, Idee einen geeigneten Sportplatz zu finden. Dort konnte ich einfach Runden laufen und notfalls zwischendurch mal ein paar Meter gehen. Das Auto wäre als Zufluchtsort vor dem Tor geparkt und ich könnte jederzeit abbrechen. Ich überlegte und erinnerte mich an einen etwas heruntergekommenen Sportplatz in meiner Heimatstadt, auf dem wir als Schüler früher gelegentlich Sportunterricht hatten, zumindest hätten haben sollen, denn meistens fiel er aus oder wir machten nur Blödsinn. Ab und zu hatten einige Freunde und ich dort in der Freizeit Fußball gespielt. Das war die Idee, dort konnte ich laufen. Es würde kaum jemand auf dem Sportplatz sein, denn es waren gerade Pfingstferien. Somit würde ich meine Ruhe haben.

An jenem herrlichen Morgen betrat ich also den Platz, ging am alten, barackenähnlichen Sportheim vorbei und ein paar Stufen hinab zur Laufbahn. Hervorragend! Es war niemand da, keine Jugendlichen, keine Zuschauer, die mich veralbern konnten, noch keine Vereinsmitglieder beim Frühschoppen vor der Sportgaststätte. Nur ein alter, grummeliger Platzwart schlich herum, aber dem war ich egal. Er ging seinen Aufgaben nach und kratzte irgendwo mit einem Rechen in einer Ecke des Platzes herum.

Also Junge, rief ich mir in Erinnerung, mach langsam, ganz langsam. So begann ich äußerst gemächlich auf der Aschenbahn zu traben. Ich konzentrierte mich darauf, wirklich keinen Deut zu schnell zu laufen, denn, das wusste ich ja inzwischen, das war der Kapitalfehler vieler Anfänger. Erst mal die Längsseite des Spielfeldes entlang, dann die erste Kurve, dann hinter dem Tor vorbei, dann die Gegengerade und am anderen Tor vorbei wieder auf die Ausgangsgerade, die sonst als 50-Meter- oder 75-Meter-Bahn genutzt wurde. Das ging ziemlich problemlos. Ich schwitzte nicht, ich schnaufte nicht. Also weiter, zweite und dritte Runde. Unmerklich schien ich etwas an Tempo zugelegt zu haben, denn schon auf der Gegengeraden der dritten Runde fiel mir das Laufen etwas schwerer. Dummerweise hatten sich in der Zwischenzeit ein paar Vereinsmitglieder oder sonstige Trunkenbolde mit ihren Bieren vor das Vereinsheim gesetzt. Da sie bereits die Weltpolitik geklärt und nichts Sonstiges zu bereden hatten, schauten sie zu mir herüber. Jetzt nur nicht schwächeln, dachte ich mir und lief zügig weiter. Zu zügig, viel zu zügig. Als ich wieder am Vereinsheim vorbeikam, riefen die Stammtischbrüder aufmunternd oder eher spöttisch „hepp, hepp, hepp“. Das empfand ich als lästig, aber ich ignorierte die Zuschauer souverän, tat, als ob ich nichts hörte, und lief weiter. Das wurde leider immer schwieriger. Eigentlich konnte ich nicht mehr so richtig, doch ich durfte mir jetzt keine Schwäche anmerken lassen und lief. Inzwischen schnaufte und transpirierte ich schon bedenklich. Das konnte nicht gesund sein. Die Stammtischbrüder beobachteten mich, hoben die Gläser, prosteten sich zu und feixten. Sie riefen „schneller, schneller, hopp, hopp, hopp“ und warteten offensichtlich auf meinen bevorstehenden Kollaps. Blödmänner! Ich war nun ziemlich außer Atem und musste mir dringend etwas einfallen lassen, um aus dieser Nummer unauffällig herauszukommen und diesen Deppen vor dem Vereinsheim keine Munition für weitere Schadenfreude zu liefern.

Inzwischen wusste ich gar nicht mehr, ob ich schon fünf oder sechs Runden getrabt war, was ich im Grunde als keine zu schlechte Leistung für einen Anfänger empfand. Ich beschloss in meiner zunehmenden Atemlosigkeit, die Gegengerade einfach langsam zu gehen. Damit meine Erschöpfung nicht so auffiel, ruderte und wedelte ich ein bisschen mit den Armen und machte allerhand seltsame gymnastische Bewegungen, damit gar nicht der Verdacht aufkommen konnte, dass ich nicht mehr konnte. Mit hochrotem Kopf gerierte ich mich als Allroundsportler, der mal lief, mal ging, mal Gymnastik betrieb. Kurz: Ich machte aus der Not eine Tugend.

Zum Glück wurde den Saufköpfen vor dem Vereinsheim das Zuschauen mittlerweile zu langweilig und sie konzentrierten sich jetzt auf ihr Schafkopfspiel. Ich drehte noch zwei oder drei Runden, abwechselnd joggend und langsam gehend, und vertrollte mich dann aus dem Stadion.

War das nun gut oder schlecht gewesen? Richtig gut sicher nicht, ganz schlecht auch nicht, aber zufrieden mit mir und der Welt war ich nicht. Ich musste das Laufen sozusagen buchstäblich langsamer angehen, um länger durchzuhalten. Das war klar und das würde ich das nächste Mal versuchen. Auf keinen Fall durfte ich der Versuchung anheimfallen, für die Tribüne schneller zu laufen.

Zwei Tage später war ich morgens wieder auf dem Sportplatz, noch etwas eher als beim ersten Mal, damit ja keiner zuschauen konnte. Der Platzwart kratzte wieder irgendwo herum, sonst ließ sich niemand blicken und ich war mit der Situation zufrieden. Ich drehte mehrere wirklich langsame Runden auf der Aschenbahn und war halbwegs mit mir im Reinen. Dann ging es wieder ab nach Hause unter die Dusche.

Das wiederholte ich mehrere Tage, bis es mir gelang, zehn Runden langsames Laufen ohne Gehpause zu absolvieren. Ich war ein bisschen stolz auf mich und wurde unbefangener und selbstsicherer. Wenn ich wieder einmal etwas später auf dem Sportplatz einlief, saßen die üblichen Morgenalkoholiker schon vor der Sportgaststätte hinter ihren Bieren. Aber mittlerweile hatten sie sich an mich gewöhnt und unterließen ihre doofen Zurufe. Sie ließen den armen Irren da unten einfach kommentarlos um den Platz herumlaufen. Mich störten sie inzwischen nicht mehr.

Ich beschloss, beim Laufen doch ab und zu einmal auf die Uhr zu schauen und stellte hocherfreut fest, dass ich mittlerweile die Runde unter zwei Minuten schaffte. Mir war in Erinnerung, dass Sportplatzrunden unter zwei Minuten schon als recht ordentliche Leistung galten. Es war natürlich ein Unterschied, ob das nur ein- oder zweimal gelang oder mehrere Runden lang.

Ein Doktor Cooper in den USA hatte sich irgendwann einmal über Laufen und Laufzeiten Gedanken gemacht und einen Test entwickelt, eben den so genannten Coopertest, bei dem man in zwölf Minuten so viele Runden wie möglich laufen sollte. Mit diesem dämlichen Geschwindigkeitstest konnte man angeblich die Fitness des Läufers feststellen und damit hatte man uns in der Schule immer wieder sinnlos traktieren wollen. Der Coopertest war zu jener Zeit äußerst modern und in meinen Augen eine hanebüchene Frechheit, denn trainiert hatten wir dafür nie. Wie das eben so üblich war im unsäglichen Sportunterricht in diesem Land, damals und meist heute noch: Irgendwann gab es Tests oder Bundesjugendspiele und vorbereitet waren diese nie. Es ging und geht den Sportlehrern immer nur um etwas Messbares für fragwürdige Noten.

Egal. Knapp zwei Minuten für die Runde und das mehrere Runden lang, das fand ich recht ordentlich für einen Anfänger.

Zwischenzeitlich war eine Sportlergruppe am Platz eingetroffen, offensichtlich irgendeine Jugendmannschaft des Vereins. Ich war gerade mit meinem Lauf fertig, rubbelte mich mit dem Handtuch etwas ab und gesellte mich quasi als älterer Laufkollege zu den Jugendlichen dazu. Plötzlich hörte ich den Sporttrainer zu seinen Jungs sagen:

„Also Leute, aufgepasst. Wir fangen erst mal mit ein paar Runden an. Langsam, wie immer. Dann steigern wir und die letzten drei Runden laufen wir volle Kanne. Die stoppen wir dann auch. Ihr wisst, dass auf diesem komischen Platz drei Runden gut 1000 Meter entsprechen, denn die Aschenbahn um den diesen Platz ist ja seltsamerweise nur circa 340 Meter lang. Also, wie gesagt, drei Runden sind ein bisschen mehr als 1000 Meter, damit also zweieinhalb Runden eines normalen Platzes. Ist das klar?“

Die Jungs schauten gelangweilt. Sie wussten Bescheid. 340 Meter hatte der Trainer gesagt? Mir dämmerte, was mit meiner Leistung nicht stimmte. Ich war keine normale 400-Meter-Runde in unter zwei Minuten gelaufen, sondern jeweils nur circa 340 Meter! Mist, dachte ich, so toll war das nun auch wieder nicht. Ich redete mir meine Leistung etwas schön, denn auf einer vorsintflutlichen Aschenbahn zu laufen war ja wohl anstrengender als auf einer modernen Tartanbahn, die höheres Tempo ermöglichte.

Doch meine Leistung würde ich steigern müssen. Mein Ehrgeiz war geweckt und ich verdrängte in den nächsten Tagen, dass es mir im Grunde gar nicht darum gehen sollte, schnelle Runden hinzulegen, sondern um kontinuierliches Laufen längerer Strecken. So drehte ich also beharrlich meine Runden auf dem Platz. Die Stammtischbrüder grüßten mich inzwischen freundlich und wir wechselten ein paar Worte. Für den alten Platzwart war ich Luft.

Mein Einstieg in dieses regelmäßige Läuferleben endete eine Woche später abrupt. Ich bemerkte beim Rundenlaufen aus der Ferne, wie der Platzwart mit etwas auf eine Mülltonne einschlug, konnte aber zunächst nicht genau erkennen, was er da trieb. Beim Vorbeilaufen in der nächsten Runde sah ich, dass er ein lebendiges kleines Kaninchen in der Hand hatte, es ungeniert auf der Mülltonne erschlug und dann hineinwarf. Ich war entsetzt. Das durfte doch nicht wahr sein. So ein Idiot, so ein brutaler Tierschänder. Ich steuerte auf ihn zu und fragte dümmlich, was er da treibe. Er hatte gerade wieder ein Kaninchen in der Hand, schaute mich misstrauisch an und knurrte:

„Was geht dich das an? Lauf deine Runden und halt die Klappe. Die Viecher graben mir den ganzen Platz um. Die mach ich jetzt alle.“

„Das tun Sie nicht“, schrie ich.

„Das werde ich mir von dir Rotzlöffel sagen lassen“, brüllte er und zertrümmerte wieder den Schädel eines Kaninchens. Ich packte ihn am Kragen und zerrte ihn von der Mülltonne weg. Er löste sich aus meinem Griff, ging wutentbrannt auf mich los und plärrte:

„Hau ab, du Pfeife. Du hast hier überhaupt nichts zu suchen. Bist du überhaupt Vereinsmitglied? Schau, dass du verschwindest und lass dich nie mehr blicken, sonst hau ich dir auch noch den Schädel ein.“

Das wollte ich nicht riskieren und so trat ich grummelnd und auf ihn fluchend den Rückzug an. Ich kramte mein ganzes Beleidigungsrepertoire zusammen und deckte ihn damit ein. Nachlaufen konnte er mir nicht, dazu war er zu alt und ich inzwischen zu schnell. Die Stammtischbrüder vor dem Vereinsheim waren begeistert.

Mir war klar, dass ich nichts gegen diesen Barbaren ausrichten konnte. Für mich war das schade, denn damit endeten meine Laufversuche auf diesem Sportplatz. Ich habe ihn nie mehr betreten.

Die Idee des Laufens auf einem Sportplatz wollte ich dennoch nicht aufgeben, sie erschien mir recht praktisch. Ich suchte mir also einen anderen Platz, der während der Woche morgens ebenfalls meist verwaist war, zumindest solange keine Schulklassen des Wegs kamen. Der neue Sportplatz war wesentlich moderner und hatte eine richtige, tatsächlich genau 400 Meter lange Tartanbahn. Ich fragte den Platzwart, ob es ihn störe, wenn ich in der Früh ein paar Runden laufe und schenkte ihm eine Flasche Rotwein, worauf er keinerlei Einwände hatte.

Auf diesem Platz lief alles wie am Schnürchen. Ich drehte auf der Tartanbahn meine Runden, zunehmend ein paar mehr, zunehmend ein wenig schneller und nach zwei weiteren Wochen war ich in der Lage, zehn Runden in einem anständigen Tempo zu laufen, wenngleich noch nicht durchgehend unter jeweils zwei Minuten. Doch bis zu dieser Schallgrenze war es nicht mehr weit, das spürte ich.

So lief ich und lief ich, manchmal jeden Tag, manchmal alle zwei Tage, mal vormittags, mal nachmittags, wie es meine Arbeit gerade ermöglichte, und war mit mir zufrieden. Ab und zu war ich schon früh um sechs Uhr auf dem Platz, der zu dieser Zeit noch nicht geöffnet war. Doch ich kannte in Absprache mit dem Platzwart und der Dreingabe einer weiteren Flasche Rotwein ein Hintertürchen und so konnte ich völlig ungestört meine Runden drehen.

Es war ein richtig gutes Gefühl, frühmorgens zu laufen, dann zu duschen und anschließend zu arbeiten. Ich spürte, dass der Kopf durch das Laufen frei wurde. Selbst die Routine und Monotonie der einsamen Platzrunden, die manch einer vielleicht als äußerst langweilig empfunden hätte, störte mich nicht im Geringsten. Während ich trabte, checkte ich ab und zu die Zwischenzeiten, fixierte zum Zeitvertreib Zwischenziele, zum Beispiel einen markanten Baum an der Gegengeraden oder das Tor an der Kopfseite und zählte die Runden. Es gab sozusagen immer etwas zu tun. Den simplen mentalen Trick, eine längere Strecke in überschaubare Zwischenschritte zu teilen, behielt ich auch später beim Laufen bei.

So ging das einige Wochen. Ich war mit mir und meiner kleinen Welt des Laufens zufrieden. Die Frage war, wie es weitergehen sollte, denn natürlich konnte ich nicht für alle Zeiten um einen Sportplatz herum laufen, irgendwann musste der Zeitpunkt des Absprungs ins freie Gelände kommen. Aufgeben jedoch wollte ich die Sportplatzrunden nicht völlig, lieferten sie mir doch Parameter meiner Schnelligkeit beziehungsweise Langsamkeit und meiner Leistungsfähigkeit.

Ich begann damit, öfter einmal aus der Stadt hinaus zu irgendwelchen Wanderparkplätzen zu fahren. Dort stellte ich das Auto ab und lief dann einfach auf einem Forstweg vom Auto weg, kehrte nach wenigen Kilometern um und lief zum Auto zurück. Das war zwar für mich eine neue Laufvariante, aber es war nicht unbedingt, was ich mir auf Dauer vorstellte. So einfach von A nach B laufen, also vom Auto zum Beispiel zur Kreuzung mit der faulen Fichte irgendwo im Wald und dann wieder von B zurück zum Auto, war doch etwas eintönig. Die breiten Wege im Forst zogen sich oft schnurstracks kilometerlang dahin. Ich lief, sah dabei ständig diese schier endlosen Geraden vor mir und hatte nicht den Eindruck, dass ich vorankam. Eine Zeitlang hielt ich das durch, dann fing es an, mich zu nerven.

Zwischenzeitlich war ich bestimmte Flurwege mit dem Fahrrad abgefahren, um die Kilometerzahlen zu messen. Ich war schließlich von meinen Platzrunden gewohnt, die Länge meiner Laufwege zu kennen. Aber insbesondere die Rückwege im Forst, also vom erreichten Wendepunkt B zurück nach A zum Parkplatz erwiesen sich zunehmend als öde und langweilige Angelegenheit. Noch dreieinhalb Kilometer, noch drei, noch zwei, noch einer. Genug.

Ich schaute mich in der näheren Umgebung meiner Heimatstadt nach einer richtigen Laufrunde im Gelände um. Die Kriterien dafür legte ich mir zurecht. Sie sollte nicht zu lang sein, nur circa fünf bis sechs Kilometer, bei Bedarf konnte ich sie ja später zweimal laufen. Ich wollte auch nicht irgendwo in einem Park laufen, wo viele andere Fußgänger unterwegs waren, sondern in Ruhe und möglichst ungestört. Offensichtlich entwickelte ich mich doch zum läuferischen Einzelgänger. Die Strecke sollte zudem ein bisschen abwechslungsreich sein, gerne leicht hügelig durch Feld und Wald führen und vor allem nicht zu lange, nervtötende Geraden aufweisen.

Das Glück war mir hold. Ich fand eine wunderbare Rundstrecke in einem Waldgebiet in der Nähe eines Dorfes, nicht allzu weit von meiner Heimatstadt entfernt. In diesem Gebiet war ich früher öfters gewandert oder hatte im Sommer und Herbst Pilze gesammelt. Es war mir vertraut.

Die Landschaft hätte nicht schöner sein können. Der Weg führte hinein in einen Mischwald, ging dann über eine breite Wiese in einem Tal, wo ich mit einem großen Sprung einen Bach überqueren musste, zurück in einen Fichtenwald, leicht bergauf, entlang gewundener Pfade, zu einer Anhöhe, über eine andere, weitläufige Wiese, dann über einen halbhohen Zaun, zurück in den Wald und im Zickzack zurück zum Ausgangspunkt. Das hätte ich mir nicht besser wünschen können. Im Gegensatz zur Platzrunde oder zum Lauf von A nach B und zurück musste ich viel mehr auf das Terrain achten. Überall lauerten nun kleine Hindernisse und Stolperfallen, mal ein Rinnsal, mal Steine, mal Äste, mal tiefe Furchen auf den Wegen, mal der Zaun. Die Gefahr zu fallen war ungleich größer als auf den ordentlichen Bahnen und Wegen. Diese Art von Gelände- oder Crosslauf jedoch gefiel mir auf Anhieb. Ich musste mich mehr darauf konzentrieren, wie ich lief, wohin ich trat und genoss trotzdem die Schönheit der Natur. Die Zeit auf diesem Rundkurs verging dabei auf ebenso abwechslungsreiche wie vergnügliche Weise.

Ich lief diese neue Runde beim ersten Mal extrem langsam, allein schon, um dann bei den nächsten Runden jeweils leicht an Tempo zulegen zu können. Es ist immer psychologisch von Vorteil, wenn man etwas langsam und eher zögerlich beginnt und dann besser und schneller wird, denn auch beim Laufen weiß man kleine Erfolgserlebnisse zu schätzen.

Irgendwie musste es mir gelingen, die genaue Kilometerzahl der Runde auszumessen, auch wenn dieses Ansinnen auf einen gewissen Kontrollwahn hinwies, den ich leistungsmäßig zu entwickeln schien. Einen Schrittzähler oder sonstigen Kilometermesser hatte ich nicht, auf das Ausmessen auf der Wanderkarte allein konnte ich mich nicht richtig verlassen, dafür war der mäandernde Weg in seinen Volten und Kehren zu unübersichtlich und nicht auf dem Papier nachvollziehbar. GPS und Laufstrecken-Apps gab es damals natürlich noch nicht. Also schleppte ich irgendwann mein Fahrrad mit und fuhr die Strecke so gut wie möglich ab. Das war eine schrullige Angelegenheit, denn nicht immer konnte ich fahren, sondern musste das Rad über den Bach tragen, zwischendurch mal im Gelände herum schieben, durch den Matsch zerren, über den Zaun heben und so weiter. Zum Glück sah mich niemand bei diesem Unterfangen, sonst hätte man mich für einen Irren gehalten. Das Endergebnis jedenfalls war 5,6 Kilometer. Gut, das war eine ideale und gleichsam überschaubare Runde, die nun mindestens vier- bis fünfmal in der Woche zu meiner Lieblings-Laufrunde wurde.

Ich war wie versessen darauf, diese „Schwarzenfurther Runde“ – so hatte ich sie nach einem dortigen Anwesen getauft – zu laufen. Besonders herrlich war sie am frühen Morgen. Der Morgennebel lichtete sich, die Luft war rein, die Vögel zwitscherten. Manchmal sah ich Rehe auf einer Lichtung stehen, ab und zu mal Feldhasen, einmal einen Biber beim Bach am Waldrand. Diese Runde war meine Idylle und ich blieb ihr jahrelang treu.

Doch ich genoss nicht nur die Schönheit der Natur, sondern achtete auch auf meine Zeiten. Im Lauf des Sommers wusste ich genau, wie lange ich bis zum Bach, zur ersten Abzweigung, zum Zaun, zur Linde an der Weide und so weiter brauchte. Auf die Sekunde genau. Ich wusste sogar, wo ich an manchen Stellen hintreten musste, wo besser nicht, wo die Gefahr bestand umzuknicken, wo es matschig war, wie ich diese Stellen geschickt umlief und wo ich beschleunigen konnte oder besser etwas mit den Kräften haushalten sollte. Diese Laufrunde war zwischenzeitlich für mich ein zweites Zuhause. Ich war auf sie versessen.

Ab und zu lief ich sie in bewusst langsamer gehaltenem Tempo zweimal und damit war ich tatsächlich bei gut elf Kilometern Laufstrecke angelangt. Elf Kilometer Laufen! Das hätte ich mir noch vor drei Monaten nicht in den kühnsten Träumen vorstellen können. Und doch fand ich selbst diese elf Kilometer niemals als unangenehm. Klar, ich musste mich anstrengen und kam an meine Grenzen. Aber das war ja der Sinn der Sache. Das Gesamterlebnis auf der Strecke, das Erlebnis der Landschaft, der Flow beim Laufen und das endlos gute Gefühl, wenn ich es wieder geschafft hatte, waren unvergleichlich.

Selten sah ich auf meiner Runde andere Menschen, ab und zu kreuzte mal ein Wanderer oder schufteten ein paar Waldarbeiter im Forst. Ich empfand diese Laufrunde also als ein immenses Glück und ertappe ich mich noch heute beim Gedanken, was wohl läuferisch aus mir geworden wäre, hätte ich sie nicht entdeckt und zu meiner Stammstrecke erkoren. Hätte ich das Laufen wirklich so lange durchgehalten? Hätte ich nicht irgendwann resigniert, weil mir die Strecken inmitten von vielen Menschen nicht gefallen hätten oder andere Strecken zu langweilig geworden wären? Wie auch immer: Ich lief meine „Schwarzenfurther Runde“ viele Jahre lang und kann mich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal von ihr angeödet gewesen zu sein.

So verging mein erster Laufsommer. Mein Weg hatte mich vom Sportplatz mit der zu kurzen Aschenbahn über den Sportplatz mit der Tartanbahn zu meiner „Schwarzenfurther Runde“ geführt. Alle drei Örtlichkeiten waren auf ihre Weise und zu ihrer Zeit Glücksfälle für mich gewesen. Nach drei Monaten Laufen war ich mit mir so im Reinen wie kaum jemals zuvor. Das Langlauffieber hatte mich voll erfasst. Wenn ich mal zwei oder drei Tage nicht lief, was sehr selten vorkam, wurde ich quengelig und fühlte mich innerlich unausgeglichen.

Meinen sonstigen Lebensstil änderte ich keineswegs. Ich rauchte weiterhin meine filterlosen, stinkenden französischen Zigaretten, trank lieber ein Glas Rotwein oder ein Bier zu viel als zu wenig und aß, was mir schmeckte. Das war aus heutiger, gesundheitsorientierter Perspektive sicherlich unvernünftig, mir aber völlig egal. Die gestrengen Ansichten des Laufpapstes Dr. van Aaken schob ich ebenfalls einfach beiseite. Das mag ein naives und dummes Verhalten gewesen sein, aber ich sah damals keineswegs ein, mich zu kasteien und auf die kulinarischen Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten. Wozu auch? Ich lief und lief und fühlte mich fit. Das war für mich entscheidend, esoterische Theorien von Dr. van Aaken hin oder her.

Hin und wieder stellte ich mir die Frage, ob ich denn ein richtiger Läufer war. In gewisser Hinsicht schon, dachte ich mir, denn ich lief fast täglich und im Vergleich zum Normalbürger, der sich nicht sportlich betätigte, auch längere Strecken. Andererseits eher nein, denn auf noch umfangreichere Strecken hatte ich keine Lust. Das wollte ich entweder für später einmal aufheben oder gar darauf verzichten. Den Sprung vom Couch-Potato zum moderaten Ausdauerläufer hatte ich jedenfalls geschafft. Wenn ich ehrlich bin, gab es mir auch ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich vielen meiner Arbeitskollegen oder Bekannten jederzeit hätte davonlaufen können. Dafür gab es zwar zu keiner Zeit einen Grund, aber so kindisch der pure Gedanke auch klingt, er gefiel mir damals ganz besonders. Offensichtlich hatte das Laufen doch Auswirkungen auf Psyche und Geist.

Dr. Laubmann und sein Initialimpuls kamen mir immer wieder einmal in den Sinn. Im Akronym „LLLL“ stand das erste L für „lustig“, also „Lustige Läufer leben länger“. Lustiger war ich nach meinem Empfinden durch das Laufen noch nicht geworden. Dafür nahm ich die Sache wohl zu ernst. Ich konnte schließlich nicht allein durch den Wald laufen und dabei lachen. Dazu brauchte es anscheinend doch die Gesellschaft der Laufgruppe und das Zusammensein nach dem Laufen, bei Bier und Wein. Als defizitär hinsichtlich des Humors interpretierte ich meine Laufsituation aber keinesfalls. Es war, wie es war, und es war meiner Meinung nach gut so.

Lustige Läufer leben länger - oder zumindest besser

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