Читать книгу Frontbewährung - Ulrich Kunath - Страница 5
ОглавлениеKarl
Am selben Tag, als Franz Reimann in der südwestafrikanischen Steppe seinen Kopf aus dem Schlafsack steckt und vor dem nächtlichen Massaker erschrickt, also am 28. März 1904, wird in der Hospitalstraße 16 in Leipzig dem Telegrafenarbeiter Karl Kunath ein Sohn geboren, der auf den Namen Hans getauft wird. Es ist nicht der erste Sohn. Der verstarb mit vier Monaten ein Jahr zuvor. Karl hatte seine fast gleichaltrige, im fünften Monat schwangere Mathilde 1902 geehelicht. Dafür hatte sie ihre Arbeit in der Porzellanfabrik des thüringischen Kloster Veilsdorf aufgegeben, in der ihr Vater, inzwischen verstorben, ebenfalls gearbeitet hatte. Die Tätigkeit in dieser Fabrik, die unter anderem die Herstellung von Puppenköpfen, Zeugpuppen, Badekindern, Heiligenartikeln und Vasen als ihre Spezialität bezeichnet, konnte ihr wie jeder jungen Frau ihrer Zeit nur als Zwischenbeschäftigung dienen bis zu ihrer endgültigen Bestimmung als Hausfrau und Mutter.
Karl ist nicht ohne Ehrgeiz und wird von der Kaiserlichen Oberpostdirektion in kurzen Abständen befördert zum Vorarbeiter, Leitungsaufseher, Postschaffner mit goldenen Schulterblattschnüren bis zum Postbetriebsassistenten. Da ist er schon Beamter auf Lebenszeit, und Mathilde hat ihm einen weiteren Sohn und zwei Töchter geboren.
Anfangs trägt er, vielleicht dem Kaiser zu Ehren, einen eben-solchen Schnurrbart. Doch mitten im Krieg kupiert er dessen hoch gezwirbelte Spitzen, womöglich weil er die helle Begeisterung für diesen Waffengang mit Franz und den meisten Deutschen nicht teilt und die Eigenständigkeit der sächsischen Armee ihm suggeriert, nonkonformistisch sein zu dürfen. Er ist Sachse, gebürtig aus Freiberg und seit 1906 Bürger der Stadt Leipzig und tut sich schwer, mit festlichem Enthusiasmus am Krieg teilzunehmen. Angesichts der inzwischen entwickelten modernen Waffen kann er sich nicht vorstellen, dass Krieg wie in früheren Jahrhunderten auf einem eigens dafür vorgesehenen Schlachtfeld, wenn möglich bei gutem Wetter und dann auch nur für ein paar Wochen oder Monate stattfindet. Krieg zur Lösung internationaler Konflikte scheint ihm überholt und überhaupt ungeeignet für ein jungmännliches Kräftemes-sen. Auch nicht, um die Machtverhältnisse wieder einmal auszutarieren, zwischenstaatliche Bündnisse auf ihre Festigkeit zu prüfen oder neu zu flechten, selbstverständlich nicht auf Dauer. In seiner Ansicht fühlt er sich bestätigt, denn dieser Waffengang entwickelt sich, was die meisten nicht vorhersahen, völlig anders als frühere derartige Auseinandersetzungen, dehnt sich in die Länge und verwandelt sich in eine Materialschlacht und Menschenvernichtung, wie sie bis dahin noch nie erlebt worden ist.
Ihn holt man auch an die Ostfront. Dort tut er Dienst in einem Bautrupp, nicht gerade mit Begeisterung. Von Nowominsk schickt er am 13. Juli 1916 ein Gruppenfoto, auf dem er, wie er schreibt, dasitzt, als hätten ihm die Hühner das Brot weggefressen. Mathilde schickt ihm Päckchen mit Süßigkeiten. Am Ende ist er froh, dass er diese Zeit schadlos überstanden hat und überzeugt, dass man sich am besten aus allem heraushält, denn wieder einmal waren die Sachsen auf der Verliererseite: Früher mit Napoleon gegen die Preußen, dann mit Österreich gegen die Preußen, jetzt mit Öster-reich und den Preußen gegen die Welt. Er hält es mit seinem abgedankten sächsischen König Friedrich August, der sein Amt mit den Wort hingeschmissen haben soll: Machd doch eiern Drägg alleene!
Statt mit preußischer Disziplin erzieht er seine Kinder liberal, es schlägt ohnehin keines über die Strenge. Im Gegenteil: Sie sind gute Schüler, und vor allem der Älteste verdient sich mehrmals ein Lob.
1924, mit dreiundvierzig Jahren lässt sich Karl in den einstweili-gen Ruhestand versetzen. Notgedrungen, denn die Republik baut Stellen ab. In der Lipsiusstraße in Leipzig eröffnet er einen Kolonialwarenladen und verkauft da alles Mögliche, von Lebensmitteln über Haushalts- und Gartengeräten bis Zeitschriften, was man sich nur denken kann. Ein inzwischen ausgestorbener Erwerbszweig, tot wie Jahrzehnte nach dem Krieg das Gebäude, in dem sich sein Geschäft befand: Die Türen und Fenster verrottet, und von der Fassade bröckelte der Putz, auf dem noch verblasst Karls Namen zu lesen war.
Das Geschäft betreibt er zehn Jahre. Da nimmt er die Gelegenheit wahr, noch einmal für vier Jahre bei der Oberpostdirektion zu dienen, muss dann aber doch krankheitshalber in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werden. Jetzt hat auch er bereits genug gespart, um sich ein Haus im bayrischen Lichtenberg zu kaufen. Hätte er es nur behalten! Nein, ihn zog es zurück nach Sachsen. Er verkaufte und kaufte neu im dörflichen Leuben. Ein dreigeschossiges Haus mit vermietbaren Wohnungen, im oberen Teil mit Fachwerk ausgestaltet und Walmdach. Es ist seitlich in eine Anhöhe hinein-gesetzt, so dass der Keller nur zum Teil im Erdreich steckt und man auf der anderen Seite über eine Treppe in den Garten hinunter gelangen kann. Ein sehr großer Garten mit mehreren Apfel- und Birnbäumen unterschiedlicher Sorten und einem ins äußerste Eck gerückten Schuppen, in dem Karl seiner Bastelleidenschaft nachgehen kann. Mathilde kümmert sich um die Gänse und Hühner und bestellt ein kleines Feld mit Kartoffeln und Gemüse.
Das knapp tausend Einwohner zählende Dorf liegt in einer Senke, durch die sich der Ketzerbach schlängelt. Nähert man sich von Fern durch die ebenen Felder dieses sächsischen Landstrichs, er-blickt man als Erstes den Kirchturm mit der grauen Zwiebelkuppel, denn die Kirche steht auf einem Felsen, der aus der Talsenke herausragt und nur eine Zuwegung besitzt. Im Mittelalter eine Zufluchtsstätte für die Bewohner, heute breitet sich um die Kirche und eingefasst von einer niedrigen Feldsteinmauer der Friedhof aus.
Ein neuer Krieg beginnt gerade, und die Deutschen sind auf dem Vormarsch, als Karl die Häuser wechselt, vom Bayrischen ins vertraute Sächsische, und sich ins versteckte Ländliche zurückzieht, als wollte er es seinem inzwischen verstorbenen König gleichtun.