Читать книгу Frontbewährung - Ulrich Kunath - Страница 8
ОглавлениеElsa
Sommer 1931. An den Wochenenden fährt Hans gerne einmal mit dem Zug die rund hundert Kilometer von Elbing nach Königsberg, steigt dort um in die Bäderbahn nach Cranz, dem Anziehungspunkt und sonntäglichen Ausflugsort an der See. Im warmen Sand der Dünen sich räkeln, vor sich ein scheinbar unend-liches Meer, weit hinaus schwimmen und natürlich auch den jungen Frauen nachschauen, das genießt er. Am späten Nachmittag eilt er zum Bahnhof zurück, stürmt gerade, als der Schaffner auf dem Perron in Cranz bereits die Kelle hebt, durch die Sperre, wie fast immer als letzter Fahrgast. Und trotzdem entgeht ihm nicht, wie sich zwei junge Frauen, die an einem Abteilfenster lehnen, über seine komisch-chaotische Hast amüsieren. Da läuft er nicht gerade-wegs zur nächsten Waggontür, sondern schräg hinüber zu eben jenem Abteil. Auf diese Weise lernt er sie kennen, und bereits die kurze Fahrt nach Königsberg, er muss ja weiter nach Elbing, reicht aus, um sich für das nächste Wochenende mit ihr zu verabreden. Eine zierliche Frau, er schätzt sie auf Zwanzig, mit klaren offenen Gesichtszügen und einem ungekünstelten Lachen, das Grübchen in ihren Wangen erzeugt.
Elsa war wieder einmal mit ihrer Freundin Gerda am Ostseestrand. Ihre freie Zeit verbringen sie oft miteinander, und was sie besonders verbindet, ist ihre Kakteensammlung. Da hat es Elsa schon auf über fünfundzwanzig Pflanzen in großen und kleinen Töpfen gebracht. Gerda, einen halben Kopf größer als Elsa, besitzt ein Pferd, auf das sich ihre Freundin auch schon mal setzten durfte, zum Jux mit Zylinder, unter dem ihre langen Zöpfe herabbaumelten. Sie hat sie inzwischen abgeschnitten – „Bubikopf“ ist angesagt, ein Schritt vom Mädchen zur jungen Dame – und trägt jetzt den Topfhut, allerdings die neueste Variante: mit Krempe, und knielange Röcke.
Auf Hans wirkt die junge Frau lebhaft, modern und durch und durch weiblich. Die Freundin daneben hat einen bitteren Zug um den Mund und würde auch von der Größe her nicht zu ihm passen. Das ist sie, steht für ihn bereits nach einer halben Stunde fest. Diese Frau würde er auf Händen tragen wollen.
Dass er Feuer gefangen hat, spürt sie sofort, und er ist ihr sympathisch, keine Frage, höflich, und wenn er spricht, dann mit einer mitreißenden Leidenschaft. Und forsch tritt er auf, was ihr imponiert. Er ist nicht viel größer als sie selbst, also eher klein, aber gewandt und selbstsicher, und das nimmt sie für ihn ein. Sie wird zwar seit Monaten von einem Kommilitonen aus der studentischen Verbindung ihres Bruders, Ernst Wilde, der Zahnarzt werden will, hofiert, zu Bällen eingeladen, und man munkelt, er würde sich mit ihr verloben wollen. Aber der blasse, um einen Kopf größere Herr Wilde scheint ihr im Kontrast zu seinem Namen von dörflicher Langeweile durchdrungen.
Sein bescheiden eingerichtetes Zimmer in Elbing verlässt Hans jetzt so oft er kann, um seine Liebe nach kurzer Fahrt in Königs-berg zu besuchen. Als sie sich am Sonntag, dem 20. September 1931, wieder einmal treffen, schreibt er im Überschwang seiner Schwester, die noch bei den Eltern wohnt, eine Postkarte, geheimnisvoll in Englisch: I love a very nice girl. Today we have met us. Please tell nothing to mother and sister and so on. Your happy brother Hans. Und Elsa fügt den Satz hinzu: Are You very glad? Your E. R.
Mit Siebzehn hat sie die Königin-Luise-Schule zu Königsberg verlassen und mit der Mittleren Reife die Ausbildung zur Kindergärtnerin begonnen. Für diesen Beruf hat sie inzwischen auch die Prüfung abgelegt und ist im Neuroßgärter Kinderhort angestellt. Zu Dienstschluss wurde sie oft von Ernst Wilde abgeholt. Doch an diesem Spätsommerabend 1931 steuern aus verschiedenen Richtungen zwei Herren auf sie zu: Wilde und ihre neue Bekanntschaft, Hans Kunath. Sie ist nicht verlegen, macht die Herren miteinander bekannt und fügt hinter dem Namen von Hans kurzerhand, aber etwas kleinlaut hinzu: ‚Mein Verlobter'.
Das ist Hans Kunath zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Er hat sie nur in seinem Draufgängertum einmal gefragt, ob sie sich ein Leben mit ihm vorstellen könne, und diese Frage hat sie nur mit einem langen, großherzigen dunklen Blick beantwortet. Wilde wird noch blasser, als er schon ist, bleibt aber Gentleman, gratuliert und verabschiedet sich nach kurzer belangloser Konversation.
Sie stellt Hans ihren Eltern vor, und, während Vater Franz zurückhaltend-kritisch mit einem nahezu feldwebelmäßigen Blick den etwas kürzer Geratenen mustert, ist Mutter Emma ganz aufgeregt und emsig um die Etikette bemüht, um den mit aller Sorgfalt gedeckten Kaffeetisch und dass sich der junge Mann nur wohl fühle in ihrem bescheidenen Zuhause. Sie vertraut ihrer Tochter, selbst wenn dieser Herr Kunath sich nicht in vornehmer Zurückhaltung übt, sondern mit einer Selbstsicherheit auftritt, die schon an Einbildung grenzt. Der Dünkel des jungen Menschen, der alles, was er bislang geworden ist, aus eigener Kraft geschafft hat, hat sich bei Hans noch nicht durch reifende Rückschläge gelegt.
Er erscheint fortan bei seiner Liebe so häufig, dass ihr Vater, ganz nach alter Schule, eines Tages zu ihm sagt: ‚Herr Kunath, Sie sind jetzt so oft bei uns ein und ausgegangen und haben meine Tochter besucht, wollen Sie sich nicht mal erklären?‘ Ach, ist ihm das peinlich! Und da erklärt er sich. Ja, sie waren sich sehr schnell einig, Hans und Elsa.
Die Mitgliedschaft des künftigen Schwiegersohns bei der NSDAP irritiert Franz Reimann nicht. Wenn er selbst auch nicht mit dieser Partei sympathisiert, so begrüßt er doch, dass da eine starke Hand das Ruder ergreifen will und die lang ersehnte Ordnung im Staat zu schaffen verspricht. Bedenken kommen ihm, als Hans bald darauf aus dem Schuldienst entlassen wird. In Preußen regiert unter Braun die SPD, und der Innenminister Severing ist ein erklärter Gegner der Nazis. So kann es in der brisanten politischen Lage im Frühjahr 1932 einem NSDAP-Mitglied durchaus widerfahren, in Preußen aus dem öffentlichen Dienst entlassen zu werden. Eine Art Gegenbewegung. Die ohnehin befristete Anstellung endet für Hans am 31. März 1932. Von einem Tag auf den anderen ist er Zeitangestellter, mal beim Arbeitsamt in Elbing, mal an der Polizeischule, danach in der Berufsschule in Deutsch-Eylau, wo er den Betrieb zum Wohlgefallen des Bürgermeisters neu aufzieht. Berufsfreudigkeit bescheinigt er dem jungen Lehrer – der Duden kennt diesen Begriff gar nicht.
Eine gewisse Genugtuung beschert ihm, dass zur gleichen Zeit die sozialdemokratische preußische Regierung unter Otto Braun, obwohl oder gerade weil sie die wichtigste Stütze der Demokratie ist, abgesetzt wird. Das ihm zugefügte Unrecht erscheint wieder gutgemacht. Noch von der Front aber muss er seinen Direktor später daran erinnern, doch nun endlich sein Besoldungsdienstalter vom 1.4.1932 an zu berechnen, vergeblich.
Doch so sehr ihn die Unsicherheit in seiner beruflichen Laufbahn auch belastet, am 9. Juli 1932, nachdem er die sächsische gegen die preußische Staatsangehörigkeit getauscht hat, heiratet er Elsa Reimann in der Kaiser-FriedrichIII-Gedächtniskirche zu Königsberg-Kalthof. Sie haben als Trauspruch gewählt: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Ein Spruch, der so gar nichts mit nationalsozialistischen Vorstellungen gemein hat.
Es ist eine kleine Gesellschaft, die sich an dem warmen Sommertag zur Hochzeit zusammengefunden hat, die engste Familie. Vor dem Hauseingang von Reimanns haben sie zum Foto Aufstellung genommen. Die Väter ganz oben auf der Treppe, Franz bereits kahlköpfig, Karl mit kurzem welligem Haar und schwarzer Fliege. Stramm steht Hans mit durchgedrückten Knien, während der rechte Fuß der schlanken Elsa unter dem langen weißen Kleid ein Spielbein vermuten lässt. Alle blicken gebannt in die Linse, sie allein schaut versonnen abseits mit geneigtem Kopf. Zur zweiten Aufnahme werden sie umgruppiert. Jetzt stehen die Mütter nebeneinander, soldatisch, und Elsa lächelt in schüchterner Haltung. Hinter Hans hat sich Bruder Helmut platziert. Seine seitlich kahle Frisur lässt die abstehenden Ohren besonders auffallen. Danach werden die Brautleute einzeln oder zusammen vor der girlandengeschmückten Haustür und vor den Kletterrosen im Garten fotografiert. Es sollen schöne Bilder sein – aber die Schwarz-Weiß-Fotografie gibt nicht die Farben wider. Später ist die Gesellschaft gelöst bei Bowle.
Das junge Paar zieht nach Deutsch-Eylau, wo Hans an der Berufsschule eine Stelle bekommen hat. Ihre Verliebtheit scheint ein Dauerzustand zu werden. Beide tanzen sehr gern, harmonieren dabei auffallend, lieben die Natur und machen Ausflüge so oft wie irgend möglich, auch mit Freunden. Mal mieten sie ein Segelboot, mal treffen sie sich mit beiden Eltern und den Geschwistern an der See.
Was auf der politischen Bühne geschieht, nehmen sie nur bei-läufig, nicht ernsthaft wahr, Befürchtungen tauchen schon gar nicht in ihnen auf. Eher fühlen sie sich in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Demokratie bestärkt. Endlich ist der unbequeme Brüning entlassen. Ob der neue Reichskanzler Franz von Papen es besser machen wird, bezweifeln viele. Der greise Hindenburg, im Innersten Royalist, weiß wohl nicht mehr so richtig, was er tun soll. Kaum ist das Verbot der nationalsozialistischen Kampfverbände wieder aufgehoben, entflammen erneut die Straßenschlachten, was für Berlin und Brandenburg den Ausnahmezustand zur Folge hat. Wen wundert es da noch, dass v. Papen, der mit seiner Partei keine eigene Reichstagsmehrheit hat, schon bald den Reichstag auflöst, wieder einmal. Jetzt verschafft die Neuwahl am 31. Juli 1932 der NSDAP 230 Mandate. Hitler ist erstarkt, wenn er auch nicht die Mehrheit hinter sich hat. Zu verstehen ist es, dass er es ablehnt Vizekanzler zu sein.
Prompt wird im September 1932 der Reichstag wieder aufgelöst. Der Bevölkerung ist diese Politik mittlerweile lästig. Bei den Reichstagswahlen am 6.11.32 fällt die NSDAP von 230 auf 196 Sitze zurück. Keine Partei besitzt eine Stimmenmehrheit, um wirksam regieren zu können. Von Papen tritt zurück, v. Schleicher wird zum Reichskanzler ernannt, aber auch ihn trägt keine Majorität der Reichstagsmandate. Dazu kommt, dass die Großindustrie und somit Hugenberg und die Großgrundbesitzer ihn ablehnen, ja, seine erklärten Gegner sind.
Diese wirren Zustände stoßen in der Familie Reimann wie bei vielen anderen auf Verständnislosigkeit und werden mehr und mehr nur nebensächlich angesprochen. Grundsätzlich ist man sich einig, dass es irgendwie anders werden, eine starke Hand her müsste. Weder diesem v. Papen noch dem General v. Schleicher gelingt es, eine Regierung zu bilden. Nun ernennt Hindenburg, obwohl er sich lange geweigert hat, den Hitler doch zum Reichskanzler, und v. Papen wird sein Vizekanzler. Es ist der 30. Januar 1933, der ‚Tag der Machtergreifung‘. Noch Ende November 1932 hatte Hindenburg befürchtet, dass ein von diesem Mann geführtes Präsidialkabinett zu einer Parteidiktatur mit all ihren Folgen und zu einer außer-ordentlichen Verschärfung der Gegensätze im deutschen Volk führen würde. Er hat dies unmissverständlich auch geäußert. V. Papen und seine Anhänger allerdings meinen, Hitler könne durch eine Mehrzahl konservativer und bürgerlicher Minister im Zaum gehalten werden. Das glaubt man auch in der Familie Reimann, der die theatralischen, provokativen, wie Hammerschläge wirkenden Reden dieses Mannes unheimlich sind. Sympathisch ist er ihnen nicht, und trotzdem hält das Konservative in Hans Kunaths und seines Schwiegervaters Denken es für eine gute Lösung, diesem Hitler die Macht zuzuschieben. Soll er doch mal zeigen, wie er mit den Problemen fertig wird. Aus ihrer Sicht ist die national-sozialistische Partei eine unter vielen und keine unwiderstehliche politische Bewegung, der die Stimmenmehrheit im Volk die Macht im Staat übertragen wird. Sie halten es für einen geschickten politischen Schachzug der Leute um den alten Hindenburg, Hugenberg und v. Papen, den Reichspräsidenten zu veranlassen, Hitler das Kanzleramt zu übertragen. Ihnen wie überhaupt allen, die sich nach der Monarchie zurücksehnen, kommt es auch sehr gelegen, dass der Neue, der Hitler, darauf abzielt, die unliebsame demokratische Republik zu beseitigen. Diese Parteivorsitzenden der Konservativen sind überzeugt, Hitler für ihre Zwecke gebrauchen zu können.