Читать книгу Frontbewährung - Ulrich Kunath - Страница 9
ОглавлениеDie Brüder
Zur Hochzeit ihrer Schwester waren selbstverständlich auch ihre beiden älteren Brüder erschienen. Sie mögen den Schwager über-haupt nicht. Und dafür gibt es eine Vielzahl Gründe. Wolfgang, der Ältere, ist mit seinem Studium der Mathematik, Physik und Chemie noch nicht fertig. Er will ebenfalls Lehrer werden, hat aber, wie später einmal seine Frau von ihm sagen wird: … zwei linke Hände und an jeder Hand nur Daumen. Was braucht er Hände! Er denkt. Und ist zweifellos verärgert, dass seine Schwester seinen Bundesbruder Wilde hat sitzen lassen, eine unerwartete Planänderung, was er überhaupt nicht schätzt.
Helmut, der Jüngere, hat eine Maurer- und Zimmermannslehre hinter sich und gerade die Ausbildung zum technischen Bauzeichner abgeschlossen. Dem zum Dozieren neigenden Sachsen Hans, der nicht nur eine Menge weiß und gelernt hat und viel herumgekommen ist, sondern zudem noch handwerklich geschickt ist, fühlt er sich unterlegen, nennt es aufgeblasenes Getue. Aber nicht allein dies stört die beiden Brüder. Das Erscheinen von Hans Kunath in der Familie Reimann schmälert ihre bis dahin unangefochtene Vorzugsstellung, was in ihnen erst recht keine Begeisterung für ihn wecken kann. Unbewusst nährte Elsas Mutter, die die Sympathie ihrer Tochter teilt, die Aversion der Brüder, indem sie dem künftigen Schwiegersohn, wenn er zu Besuch kam, ihre ganze Aufmerksamkeit widmete. Sie richtete ihm ein Bad her. Und ausgerechnet nur durch das Badezimmer, ein nachträglicher Einbau im Haus, konnten die Brüder in ihr Zimmer nach oben gelangen. Nun mussten sie auf Klo und Bad verzichten, vielleicht für eine Stunde, worüber beson-ders Wolfgang regelmäßig sauer war, denn er, im Gegensatz zu Helmut, wohnte noch zu Hause.
Keine Frage, dass sich nicht auch Helmut am 5. März 1933 unter der Menschenmenge befindet, vor der Hitler in Königsberg wieder einmal eine seiner blendenden, imposanten Wahlveranstaltungen abhält, dem Volk gebieterisch zuruft: ‚Trage dein Haupt jetzt wieder hoch und stolz! Nun bist du nicht mehr versklavt und unfrei. Du bist nun wieder frei durch Gottes gnädige Hilfe.' Und sogleich ertönt Glockengeläut vom Königsberger Dom, und die meisten er-greift ein heiliger Schauer. Und so gehört auch er zu denen, die die NSDAP wählen. Ohnehin war er schon immer deutschnational gesinnt, aber die DNVP unterschied sich zuletzt kaum noch von der NSDAP, und der sonst so nüchterne und pragmatische Helmut ist beeindruckt von dieser quasi liturgischen Veranstaltung. Nur bei-läufig und ohne nachhaltige Wirkung hat er die politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre mitbekommen. Mit seinen jugendlichen Dreiundzwanzig zählt er noch zu den Besitzlosen, ist demnach nicht wirklich betroffen und nimmt wie die meisten jungen Leute jeder Zeit vom politischen Geschehen nur das wahr, was ihn unmittelbar berührt, und das ist ziemlich wenig. Zur Tagespolitik verhält er sich reserviert bis indifferent und unterscheidet sich auch darin nicht vom Großteil jeder heranwachsenden Generation.
So wundert er sich zwar über den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April, hält es für einen ausgemacht blöden Scherz und vergisst die Sache auch wieder schnell, als die SA ihre unbeliebte Aktion im Sande verlaufen lässt.
Er käme nicht auf die Idee, für oder gegen Entscheidungen der Politiker zu demonstrieren oder sich über korrupte Amtsträger zu empören. Er hängt keiner konfliktträchtigen ideologischen Überzeugung an. Wie sollte er auch die Ziele der politischen Kaste beeinflussen können? Sich empören, dass sie die Spielregeln nicht missachten? Was Demokratie bedeutet, lernt er erst nach dem Krieg kennen. Da regieren die Mehrheit und die Lobby. Aber, fragt er sich dann, was ist das für eine Mehrheit, die da zu Wort kommt, wenn die Wahlbeteiligung knapp die Hälfte der Wahlberechtigten übersteigt? Und hat die Mehrheit immer Recht und den Weitblick fürs Ganze? Und selbst die Stimme des Parlamentariers ist nur die seiner Fraktion und nicht die seines Gewissens. Wer aus der Linie ausschert, hat kaum noch eine Chance, weder in Partei noch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. Kritik wird bestenfalls in begrenztem Maße und hinter vorgehaltener Hand geäußert. Und das bestärkt ihn in seiner ursprünglichen distanzierten Haltung zur Politik.
Gerade mal Anfang Zwanzig ist er jedoch empfänglich für die markigen Sätze, die aus dem Berliner Sportpalast durch den Äther dröhnen: „... dass ich lieber sterben würde, als dass ich etwas unterschriebe, was für das deutsche Volk meiner heiligsten Überzeugung nach nicht erträglich ist. … Nein, entweder gleiches Recht, oder die Welt sieht uns auf keiner Konferenz mehr.“ Und er findet es richtig, dass Deutschland aus dem Völkerbund austritt. Argwohn, Skepsis gegen die neue Macht – sie halten sich bei ihm in Grenzen, denn von Zwang und Reglementierung ist er nicht betroffen. Das Jahr 1934 und seine Säuberungsaktionen ging vorüber, die SA zog sich zurück. Und hatte nicht Hindenburg Recht, wenn er sagte: ‚Wer Geschichte machen will, muss auch Blut fließen lassen können.' ?
In diesen Jahren ist Helmut bestrebt, einen Beruf zu erlernen, von dem er glaubt, dass er ihm Freude machen wird und zu einem angenehmen Leben führt. Auch er ist kein Weltveränderer.
Anderes ist ihm wichtiger, und dabei spielt die Rivalität zum vorbildlichen Bruder, der nach dem Abitur studiert, zeitlebens eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Geschwister messen sich, wollen gleich behandelt werden und genießen es dann doch bevorzugt zu werden. Der Wert des Einen ist der Unwert des Andern. Sie kaschieren diese Triebfeder und sind sich ihrer meist nicht bewusst. Und so setzt Helmut dem vermeintlichen Vorteil oder Vorsprung seines Bruders zeitlebens seine Schläue und manuelle Geschicklichkeit entgegen und kann sich ihm dadurch überlegen fühlen.
Bei jeder Gelegenheit versucht er, mit irgendeiner seiner zahlreichen Anekdoten seinem Zuhörer weiszumachen, er sei zur Schul- und Lehrzeit ein Tunichtgut gewesen. In solch einer Rolle gefällt er sich, hat aber im Grunde die gesellschaftlichen Regeln vollständig verinnerlicht und sich sein Leben lang daran gehalten. Undenkbar, dass Helmut jemanden übervorteilt, unzuverlässig oder unordentlich ist. Unter seinen Sachen, seinem Werkzeug – was auch immer – hat alles seinen Platz und mitunter auch ein Futteral. Und nicht nur mit dem, was ihm gehört, geht er sorgfältig um, pflegt in späteren Jahren sein gemietetes Haus bis ins hohe Alter, als wäre es sein eigenes, und lässt fällige Reparaturen auch schon mal auf eigene Kosten vornehmen.
„Ist ja nicht verkehrt fleißig zu lernen“, räumt er später gelegentlich ein. „Für mich war Schule in Wirklichkeit 'ne Qual. Ich hab da nich jerne jelernt. Die janze Freizeit wurde mir jenommen. Ich hab mich lieber rumjetrieben. Und das war für meine schulischen Leistungen nich jrade sehr förderlich. Mein Bruder war da eher ein Gelehrter, hatte Freude an Büchern und gerne gelernt. An ihm sollte ich mir immer ein Beispiel nehmen. Doch in meiner Jugend habe ich eine Menge Dummheiten angestellt. Da haben sich meine Eltern entschlossen, mich auch nich Abitur machen zu lassen. Sondern die haben jesagt: Du kommst raus nach der mittleren Reife, du machst irgendetwas anderes. Und da ich immer fürs Handwerkliche war, habe ich gesagt: Ich werde Maurer lernen. Ist doch was, nich wahr?“
„Was Handfestes“, bestätigt ihm sein Neffe der den Achtzig-jährigen einzig und allein deswegen aufgesucht hat, um mit ihm ein Gespräch über seine Sicht der damaligen politischen Abläufe zu führen. Aber Helmuts Redefluss ist wie ein Wasserfall. Offensichtlich freut er sich, in seinem Neffen einen geduldigen Zuhörer gefunden zu haben. Der sieht den großen, schwer gewordenen Mann an, seine Glatze und die großen Ohren und weiß, dass der sich jetzt nicht bremsen lassen wird, zum wiederholten Mal seine Geschichtchen im herben, gutturalen ostpreußischen Tonfall, wobei er bis-weilen in Mundart verfällt, zum Besten zu geben.
„Kannst du wohl sagen. Maurer und Zimmermann habe ich gelernt beim Obermeister Sidnik. War ein altes Geschäft in Königsberg. Die hatten Pferde. Wir mussten den Pferdestall sauber machen. Autos gab’s nich. Entweder Handwagen oder Pferdefuhrwerk, was anderes nich. Hatte dort eine ganz lustige Lehrzeit. Dann die Bauschule besucht, was heute Fachhochschule heißt. Und dort hat sich erst herausgestellt, wo meine Fähigkeiten liegen. Vielleicht war ich auch ein Spätzünder. Kommt ja vor. Mich interessierten technische Dinge und etwas, bei dem ich zeichnen konnte. Plötzlich hatte ich hervorragende Zeugnisse im Gegensatz zu meiner Schulzeit, wo sie mehr als miserabel waren. Mein Examen später als Ingenieur machte ich auch mit Gut.“
Der Neffe muss lächeln. Noch im Alter scheinen den Mann sein schulisches Versagen und sein Erfolg im zweiten Anlauf zu bewegen. „Da war es vorbei mit dem Kummer, den ich meinen Eltern jahrelang bereitet hatte.“
Und dann macht er es sich in seinem Sessel bequem, formuliert aus dem Stegreif und ohne Verlegenheitslaute seine Sätze, lässt seine Augen ziellos umherschweifen, während seine linke Hand unentwegt über die Sessellehne streicht, und ist schon mitten in seiner Lehrzeit.
„Da haben wir mal eine Konditorei wieder herrichten müssen. Der Besitzer hatte Pleite gemacht und war raus. Der Polier, zwei Gesellen und ich, der Lehrling Reimann, zogen ein, und die Büffets waren noch voll. Da standen die Torten und der Schnaps herum. Na, wir haben uns eingeheimst, was wir konnten. Jeder nahm sich zwei, drei Flaschen mit, auch ich. Abends mit meinem Bruder im Bett haben wir Likör oder Rotwein getrunken und so die Vorräte nach und nach vertilgt. Als die Büffets leer waren, habe ich mir gedacht, da müsste doch noch mehr sein. Und als ich einmal zu den Sicherungen in den Keller musste, saß da son' drugglige Marjell, die musste aufpassen, dass da keiner in den Weinkeller einbrach. Handwerker striezen, sind ja alles Diebe. Aber da haben wir uns nichts draus jemacht. Ich hab mich jedenfalls an das Mädchen heranjepirscht, bisschen rumscharwenzelt, hab ihr schöne Augen jemacht, sie ein bisschen jelobt und jestreichelt und ihr versprochen, ihr was Schönes zum Lesen mitzubringen, sie solle mir nur sagen, wie ich an den Schlüssel herankäme. ‚Och‘, secht die, ‚horch e bösche, ich hol ihn dir.‘ Und so hab ich mir immer was aus dem Weinkeller für mich und meinen Bruder eingefuppt. Ich fragte die noch: ‚Is das nich alles aufjeschriem?‘ ‚Nö, da wees keen Mensch, was da drin is.‘
So hab ich mit der rumpoussiert. Sie freute sich, dass ich nett zu ihr war, und ich freute mich, dass ich den Wein bekam. Na, in dem Alter, wo man sich so richtig für die Mädchen interessiert, war ich ja noch nicht, wir waren damals alle noch Spätentwickler. Davon kann ich was sagen: In dem Haus, in dem mein Freund Arno Stamm wohnte, genau gegenüber, da wohnte übrigens auch die Lotte Rakowski, ein blondes Mädchen, das ich fleißig zur Schule begleitete. Und die schrieb mir so Verschen – ich hab sie nicht behalten. Und ich wuchs so langsam heran und die Marjell auch, und eines Tages verlobt die sich. Erbarmung! Ich fiel beinahe vom Stengel, ich dachte, wir beide gehörten zusammen, wo wir uns doch schon so lange befruntschelt hatten. Da hatte die inzwischen wohl was anderes kennen jelernt, und ich war abjehalftert. Das war so meine erste Enttäuschung im Leben, aber ich glaube, ich habe mich schnell darüber hinweg gefunden.“
Des Neffen Respekt vor dem Alter verbietet ihm, den Onkel zu unterbrechen. Er sieht ihm an, wie die Vergangenheit für ihn lebendig geworden ist. Jetzt ist nicht der Moment für Historie, sondern nur für Histörchen.
„Auf dem Bau arbeitete bei uns Kardel, ein richtig starker Kerl. Der war in keiner Gewerkschaft, kein Kommunist, gar nichts. Den haben die anderen immer angefeindet, sich aber nicht getraut, sich mit ihm anzulegen, der hätte sie alle verwimst nach Strich und Faden. Und eines Tages sagt der: ‚Ich zeig euch mal was.‘ Nahm ein Zehnpfennigstück zwischen die Zähne, drückte mit dem Daumen dagegen, bog das Zehnpfennigstück um, machte daraus eine Rolle, alles mit den Zähnen. Oder er nahm ein Bierglas, biss davon ein Stück ab, zerkaute es und schluckte es hinunter.
Dieser Kardel und wir Lehrlinge nahmen nicht am Umzug zum 1.Mai teil, war ja noch kein offizieller Feiertag. Die anderen wurden von den Gewerkschaften vom Bau geholt, aber der Bärenstarke stellte sich vor uns, wenn einer uns wegholen wollte: ‚Wat well ju, ech wer dir helpe, wenn ju frech wardst.‘
Und noch was: auf dem Bau gab es damals ja noch keine Stahlgerüste. Wurde alles mit Holzpfählen aufgestellt und mit Brettern ausgelegt. Und dann saßen wir mit dem Hammer in der Hand und schlugen den alten Putz ab. Einmal haben wir eine Burgkirche neu verputzt. Da ist mir ein großes Missgeschick passiert. Beim Aufstellen des Gerüstes wurden die Bretter ausgelegt, und ich bin auf einem Brett etwas zu weit nach vorne gekommen. Das Brett kippte ab, und ich sauste in die Tiefe. Ich sah unter mir nur noch die Pflastersteine und dachte: Aus, lieber Freund, jetzt ist es zu Ende. Aber ich hatte Glück. Eine Etage tiefer fiel ich mit dem Rücken auf einen Riegel, blieb mit meiner Maurerjacke und dem Hosenträger an diesem Riegel hängen, und guckte in die Tiefe und dachte: Ach Gottchen, werden die Knöppe an der Jacke halten? Aber das hat nicht lange gedauert, da wurde ich von meinen Arbeitskollegen befreit.“
Für einen Atemzug hält Helmut inne, als erschauerte er innerlich, dass damals sein Leben tatsächlich zu Ende hätte sein können. Aber bevor ihn sein Neffe noch auf ein anderes Thema lenken kann, fährt er schon fort: Schwindelfrei und trotzdem vom Balkengerüst in einen Teich gefallen, dass man ihn, den Jüngsten, auf dem Bau immer Bernhard nannte, und wie sie heimlich eine Kiste Apfelsaft öffneten, austranken und die Flaschen mit Bauwasser wieder auffüllten und verschlossen.
„Es war eine schöne Zeit. Wir haben ja nur im Sommer arbeiten können. Ab Oktober war die Saison aus. In der Winterszeit besuchte ich dann die Baugewerksschule in Königsberg." Jetzt war er interessiert, lernte eifrig und verdiente sich noch etwas hinzu, indem er für Kollegen die technischen Zeichnungen und Entwürfe machte, für eine Brücke, für ein Haus oder sonst was. Helmuts Arbeiten waren mustergültig. „Also musste es bei meinen schulischen Leistungen mehr mit dem Alter zusammengehangen haben, denke ich mir, war offenbar ein Spätzünder, und habe dann wohl gut gezündet, es jedenfalls soweit gebracht, dass meine Familie mit mir zufrieden sein konnte.“
Diese Anerkennung scheint ihm sein Leben lang wichtig gewesen zu sein, denkt der Neffe und unterbricht nun doch den Onkel: „Wie hast du eigentlich die zunehmende Verbreitung der Nazis und deren Auftreten in der Öffentlichkeit empfunden?“
„Ach, Junge“, wehrt Helmut ab, wir hatten den Eindruck, die schafften in dem Durcheinander Ordnung, und das war höchste Zeit. Im Nachhinein kann man manches anders sehen. Ein Fehler wird meist nicht als Fehler erkannt in dem Augenblick, in dem man ihn begeht. Wenn ihr euch wundert, wie Nazi-Regime und Krieg haben stattfinden können, dann nur, weil ihr das Geschehen aus einem Blickwinkel betrachten könnt, der uns oder besser: einem Großteil der Bevölkerung seinerzeit nicht zur Verfügung stand. Und wer von uns kann schon auf das politische Geschehen einwirken! Ich arbeitete auf dem Bau, und daran habe ich nur schöne Erinnerungen.“
Einmal bat ihn seine Mutter, ein paar Späne fürs Feuer im Herd zu machen. Da wollte er ihr zeigen, wie wunderbar scharf seine neue Zimmermannsaxt sei, und spitzte damit einen Bleistift an. ‚Jung‘, sagt sie, ‚pass bloß auf, dass dir nich den Finger abhackst.‘ Zehn Minuten später war‘s passiert: An der linken Hand hing der Zeigefinger schräg über der Hand, und die Mutter fiel in Ohnmacht, blieb auf der Couch liegen, und der Arzt, der sich gerade bei seinem Vater befand, sagt: ‚Ach, Jungchen, das schad nuscht, komm man in zwei Stunden in die Praxis.‘ Das waren noch richtige Hausärzte! Nach zwei Stunden ging er hin. Die Wunde mit Silber-klammern verschlossen und der Finger geschient. „Und zu Silvester konnte ich schon wieder zum Tanz gehen.“
Der Neffe verabschiedet sich. Er nimmt diese Oberflächlichkeit hin, dieses Verharren im Vordergründigen, und glaubt, darin etwas Wesenhaftes für den Onkel, ja, für fast alle seiner Zeitgenossen zu entdecken, eine Art Grundstruktur in ihrem Denken und Verhalten, die es agitatorischen Parolen und Inszenierungen ermöglichte zu beeindrucken und zu verführen. Auch zu Kaisers Zeiten, und das war noch nicht so lange her, gab es faszinierende Aufmärsche.
Nach der Lehre arbeitet Helmut als Bauleiter bei der Königsberger Fuhrgesellschaft, baut Häuser und Pferdeställe, denn es wird fast alles noch mit Pferden bewerkstelligt, zum Beispiel die Müllabfuhr, die auch der Königsberger Fuhrgesellschaft unterliegt. Über dreihundert Mark verdient er, was sehr viel Geld für ihn ist, dazu eine ‚Auslösung’, weil er Überstunden und Nachtdienste macht.
Vater Franz rät ihm, sich bei einer Behörde zu bewerben. Die sichere Stellung eines Beamten! Und so geht er zur Reichsbahn. Die will ihn beim Zentralamt in Berlin einstellen, aber zum Glück stellt sich heraus, dass man in Königsberg auch so einen tüchtigen Mann brauchen kann wie ihn, und so landet er 1929 bei der Direktion Königsberg.
Seinen Dienst beginnt er in Eydtkuhnen, das, seit es die Eisen-bahn gibt, zum östlichsten Grenzbahnhof Preußens geworden ist. Hier steigt man um in die russische Breitspurbahn, dem Nord-Express nach Leningrad, heute wieder St. Petersburg. Und in der hier seit langem angesiedelten Eisenbahnwerkstatt gibt es für Helmut eine Menge Interessantes zu lernen.
Am ersten November meldet er sich bei seinem neuen Chef, Oberinspektor Siebke, ein Mann mit einem großen wallenden Bart. Der sitzt an seinem Schreibtisch, als Helmut eintritt und seinen Diener macht, wie es sich zu der Zeit gehört, und stramm verkündet: Reichsbahnpraktikant Reimann meldet sich zum Dienst. Darauf Siebke: ‚Soso. Sie sind also mein neuer Lehrling!‘
Das erwischt ihn natürlich wie eine kalte Dusche. Lehrling bist du hier?, fragt er sich. Dabei hat er gedacht, er sei schon ein richtiger Ingenieur. Aber er verhält sich still. Siebke ist ja auch ein netter Mann, besorgt ihm gleich eine Pension, wo er 35 Mark für zwei Zimmer mit voller Verpflegung zahlt. Damals kostete ein Ei drei Pfennig.
Fünfundzwanzig Kilometer sind es von Eydtkuhnen nach Gumbinnen, wo sich ein Freibad befindet. Dort, in der Badeanstalt, lernt Helmut 1930 Dorle kennen, kann sie auf diese Weise gleich mal besichtigen: Jung und knusprig, wie er sich seine Frau gewünscht hat. Sie glauben gut zusammenzupassen und heiraten 1933. Eine nach heutigen Vorstellungen emanzipierte Frau ist Dorle nicht. Das wird ihn die zweiundfünfzig Ehejahre lang nicht stören, im Gegenteil.