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ОглавлениеHans
Anders als Helmut im fernen Königsberg leidet der Erstgeborene des Karl Kunath in Leipzig nicht unter den Anforderungen der Schule. Hans lernt gern und folgt den Anweisungen seiner Lehrer bereitwillig. Es wäre seinem Vater auch nicht in den Sinn gekommen, seinen Sohn zu irgendetwas zu zwingen. Vielmehr erfüllt es ihn mit Stolz, wenn er in den Zeugnissen liest: …hat sich durch Betragen, Fleiß und Aufmerksamkeit und seine guten Leistungen ein Lob verdient. Oder: Sein lobenswertes Verhalten und seine guten Leistungen fanden die besondere Anerkennung des Lehrerkollegiums. Ob er diese Lernbereitschaft vererbt oder den Jungen durch Vorbild geprägt haben könnte, darüber macht sich Vater Karl keine Gedanken. Eine eingewurzelte Gewissheit sagt ihm, dass man es durch Lernen zu etwas bringen kann, und so ruht sein Auge wohlgefällig und voller Besitzerstolz auf dem Heranwachsenden.
Der Vater gängelt ihn nicht, erfreut sich an seinem Fleiß, seiner Zielstrebigkeit und wüsste nicht, in welche berufliche Richtung er den Sohn lenken sollte. Dafür fehlt ihm der Überblick über die Vielzahl der Möglichkeiten. Welche Begabung besonders hervorsticht, könnte er nicht benennen. Er selbst hat ja nur die Volksschule besucht, ist nicht ohne beruflichen Ehrgeiz und befindet sich im Staatsdienst. Er hätte auch einen anderen Beruf ergreifen können, denn er besitzt handwerkliche Geschicklichkeit und eine bildhauerische Vorstellungskraft, privat schnitzt er Schachspielfiguren und später fürs Enkelkind ein Schaukelpferd.
Hans ist also nicht vorbelastet, hat kein soziales Erbe zu verwalten, wie man es in Familien des Öfteren antrifft, und folglich keinen vorgegebenen, abgesteckten Pfad zu gehen. Nach der mittleren Reife an der Handelslehranstalt in Leipzig tritt er in die Lehre bei Händlern ein: Chemikalien, Drogen, Rohstoffe in Leipzig oder Kleesaaten, Ölsaaten, Rübensamen in Hannover oder Samen und Getreidehandlung in Danzig. Er erwirbt sich Warenkenntnisse, tätigt den Ein und Verkauf, führt die Lagerbücher und Korrespondenz, auch auf Englisch und Spanisch, was damals als Weltsprache gilt. Seinen sächsischen Dialekt legt er langsam ab, weil er nicht nachgeäfft werden möchte.
In Danzig bedauert sein Dienstherr eines Tages, den Zwanzigjährigen entlassen zu müssen auf Grund der Verordnungen des Demobilmachungskommissars für die Freie Stadt Danzig. Staatliche Zwangsmaßnahmen für Wirtschaft und Gesellschaft! Auch ein Ergebnis des Versailler Vertrages. Sie erlauben dem sächsischen Staatsangehörigen nicht in dieser Stadt zu arbeiten, die mit fünfundneunzig Prozent deutscher Bevölkerung seit Mitte November 1920 als vom Deutschen Reich unabhängig erklärt worden ist. Preuße wurde Hans erst, als er heiraten wollte. Danach wurde er Deutscher.
Obwohl in ihm angelegt, kristallisiert sich sein Berufswunsch nur langsam heraus. Nach der Lehre weiß er, wohin er will: Wissen weitergeben. So geht er nochmals zur Schule, bis er das Reifezeugnis der Städtischen Oberrealschule in Händen hält. Damit kann er an der Handelshochschule zu Leipzig studieren. Ohne Numerus clausus, obwohl er auch diese Voraussetzungen erfüllt hätte. 1929, im Sommer, legt er das Staatsexamen mit Sehr gut und die Prüfung für das höhere Lehramt an Handelsschulen ab. Ja, er ist strebsam. Ehrgeiz durchzieht sein ganzes Leben – und wird ihn auch zu Fall bringen. Als er dies erkennt, ist es zu spät. Kann man Ehrgeiz ablegen? Es ist ein Anspruch an sich selbst, den man hat und der einem bleibt ein Leben lang, angeboren wie die Fähig-keit zu lehren.
Er ist der geborene Lehrer. Das Unterrichten fließt aus ihm heraus, seine Schüler sind gefesselt, ohne dass er sich psychologisch-didaktischer Tricks bedienen muss. Von früh an ist für ihn die Schüler-Lehrer-Rolle verzahnt. So fällt es ihm persönlich nicht schwer, Schüler zu sein, Lehrling, selbst als Erwachsener die Schulbank zu drücken. In die Lehrerposition versetzt, verlangt er gleiches Verhalten von denen, die er unterrichtet. Sie reagieren, wie er es erwartet. Meistens.
Ob er es auch in der heutigen Zeit geschafft haben würde, sich bei den Schülern durchzusetzen? Disziplin hatte vor hundert Jahren, ja bis in die ersten Jahre nach dem letzten Krieg hinein, einen anderen Stellenwert. Auch er hält es für selbstverständlich, von der Prügelstrafe Gebrauch zu machen –, wenn es ihm zu bunt wird. Doch seine Schüler verhalten sich nicht wesentlich anders als zu seiner eigenen Schülerzeit, sitzen ruhig und aufmerksam an den Tischen. Sie sind nicht unterschwellig aggressiv und auch nicht lustlos, bisweilen zwar faul oder einfach auch nur dumm – dann muss der Stock herhalten.
Hans Kunath weiß, dass er sich beherrschen und selbst Regeln auferlegen kann. Dazu bedarf er nicht eines Wehrdienstes. Der Versailler Vertrag verbietet ohnehin die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland. Sich rundum bilden und sich Fähigkeiten aneignen ist sein erklärtes Ziel. Freiwillig macht er das Turn- und Sportabzeichen bereits 1928 und einen Ausbildungskurs bei der Leipziger Rettungsgesellschaft. Und bald darauf rettet er ein Kind vor dem Ertrinken und erhält dafür vom Reichspräsidenten Hindenburg eine Ehrenurkunde.
Doch Ende der Zwanziger ist ihm nur ein Leben voller Wider-stände erlaubt. Es gibt keinen reibungslosen Übergang vom Studium zur Anstellung, keine Berufsausübung ohne Unterbrechungen. Seine Lehrtätigkeit kann er nicht in der Weise ausüben, wie er sich das vorgestellt hat und wie es seiner Art entspricht. Die Phasen der Arbeitslosigkeit zermürben. Er fühlt sich oft fremdbestimmt. Eine Zeitlang nimmt man ihn als Aushilfslehrer an die Höhere Handelslehranstalt in Zwickau, an die Handelsschule zu Eibenstock, das die steilste Bahnstrecke in Sachsen besitzt. Dazwischen unterrichtet er ein halbes Jahr als Hauslehrer die Söhne des Freiherrn zu Eisenbach, einem ehemaligen Rittmeister, in dessen Schloss bei Lauterbach in Hessen. Die Zahl der Schüler in den Schulen ist zurückgegangen, die Zeiten sind unsicher, es ist schwierig, in dieser Zeit eine feste Anstellung zu finden. Die staatliche Fürsorge für Lehramtskandidaten geht nicht sehr weit. Als junger Mensch muss er mobil sein, die Stelle annehmen, die sich ihm gerade bietet, zum Beispiel eine Vertretung für einen Lehrer übernehmen, der für ein Jahr nach Amerika beurlaubt worden ist von der Städtischen Handelslehranstalt zu Elbing, in der Kalkscheunstraße.
Letztlich kommt ihm zugute, dass er sich rundum fortgebildet hat. Er hat Studienreisen unternommen, war in Paris, Straßburg, Wien, Budapest, Prag und in den baltischen Ländern. Hat sich Weltläufigkeit verschafft, bevor er daran denkt, eine Familie zu gründen. Als Lehrer an einer Handels- und Berufsschule ist er inzwischen versiert in einer Vielzahl von Fächern zu unterrichten, in Handelskunde, Technologie und Warenkunde, Handelsrecht, Volkswirtschaftslehre, aber auch in Deutsch, Englisch, Französisch, Geschichte und Werkunterricht in Lichtbildnerei und Buchbinderei, gewissermaßen von allem etwas, nicht vertieft – heute unvorstellbar. Die forschende Wissenschaft hat jedes dieser Gebiete inzwischen bis zur Unüberblickbarkeit ausgeweitet.
Wiederholt wird ihm bescheinigt, er habe es verstanden, sich durch sein offenes, gewinnendes Wesen und seine stete Hilfsbereitschaft und Umsicht die Zuneigung seiner Kollegen wie auch der Schüler zu erwerben. Sein Unterricht sei lebhaft, und er wisse, die Schüler zu fesseln. Die Aufrechterhaltung der Disziplin bereite ihm folglich nicht die geringsten Schwierigkeiten. Es wäre daher für die Anstalt ein großer Vorteil, wenn er der Schule erhalten bleiben könnte, schreibt Direktor Haedicke ihm ins Zeugnis. Eine Anstellung auf Dauer bedeutet diese Fürsprache jedoch noch nicht. Trotz seines gesunden Selbstvertrauens bleibt er ein wenig verunsichert. Er weiß, dass er sich den Gegebenheiten fügen, Gelegenheiten am Schopf ergreifen muss, wenn er mal – sein Traum für die Zukunft – in eine leitende Stellung kommen möchte.
In der Berliner Straße 43 in Elbing hat er sich ein Zimmer gemietet, auf der linken Seite des Elbing-Flusses, auf der Speicherinsel, und geht jeden Morgen über die Hohe Brücke zur Lehranstalt in die Kalkscheunstraße. Er ist siebenundzwanzig Jahre und würde gerne eine Familie gründen, aber es fehlen ihm die feste Stelle und die Frau, die zu ihm passt.
Den Aussichten für die kommende Zeit stellt er sich hartnäckig zuversichtlich entgegen. Auf Dauer kann es ja so nicht weitergehen mit den kurzfristig wechselnden Regierungen in dieser Republik, den ständigen Neuwahlen. Er gehört zu den Unzufriedenen, ist zwar gerade nicht arbeitslos, aber fürchtet um seine Arbeitsstelle, und er ist ein Idealist.
Seit 1929 Pressekampagnen laufen, ist auch ihm der Name Hitler bekannt. Der versteht es, nahezu jeden, jede gesellschaftliche Gruppe anzusprechen, ihr etwas zuzusichern und sie an sich zu binden. Ihm ist zuzutrauen, das deutsche Volk von den Fesseln des verhassten Versailler Vertrages zu befreien.
Hans Kunath leidet nicht unter einem Klassengegensatz in der Gesellschaft und fühlt sich auch nicht benachteiligt. Aber politisch unerfahren, wie er ist, glaubt er zumindest nicht daran, dass Stresemanns Verständigungspolitik – ‚Schwatzbuden-Parlamentarismus‘ spottet es aus aller Munde – grundsätzlich etwas ändern werde. Und auch er findet, dass nicht über alles uferlos debattiert werden müsste.
Bedenklich scheint ihm wie manchen anderen die Politik des Reichskanzlers Brüning, der ohne parlamentarische Mehrheit Notverordnungen trifft, um unter Ausschaltung des Parteienstreits und ohne parlamentarische Gefährdung seines Kabinetts die Wirtschaft und Finanzen zu sichern versucht durch Steuererhöhung, Senkung der Reichsausgaben, Kürzung der Beamtengehälter, Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung – alles unbeliebte Maßnahmen und doch ohne schnelle Erfolge für die Arbeitsbeschaffung. Eine opferreiche Politik der Einschränkung, deren Sinn niemand versteht. Da sind die Menschen arbeitslos, gehen Firmen in Konkurs, steigt die Selbstmordrate, und das nach Krieg, Niederlage und Inflation. Wenn so die Demokratie funktioniert, dann ist auch er ihrer überdrüssig.
Die Winkelzüge der zur Macht Strebenden durchschaut er nicht, hat auch keine Vorstellung von Demagogie, sondern glaubt, dass Regierende für Recht und Ordnung sorgen. Er sieht nicht nur ein, sondern es sagt ihm auch gefühlsmäßig zu: eine Volksgemeinschaft müsse zusammengeschweißt werden, und wer sich nicht unter-ordnet oder wer sich gar widersetzt und sein Volk verrate, müsse ausgegrenzt, müsse unschädlich gemacht werden. Damit kann er sich einverstanden erklären. Das steht für ihn im Vordergrund, und er nimmt Schlagworte nicht ernst, in denen von Rasse, vom Kultur zerstörenden Juden, von der Notwendigkeit neuen Lebensraums, vom Recht des Stärkeren die Rede ist. Und dass Politiker nicht immer das realisieren können, was sie vor den Wahlen propagandistisch verbreiten, haben die letzten Jahre mehrfach bewiesen. Er vertraut auch darauf, dass das Parlament seine Kontrollfunktion wahrnehmen werde, wenn sich eine Regierung nicht verfassungsgemäß verhalten würde. Die Aggressivität, mit der sich diese Partei und die SA bisweilen in Szene setzen, werde sich legen, sobald sie Regierungsverantwortung übernehmen müsse, sagt er sich. Und schließlich könnten sie mit dem Drittel von Stimmen, die sie erhalten würden, nur in einer Koalition, vermutlich mit Hugenberg, regieren.
Hans Kunath ist nicht umfänglich über das politische Geschehen informiert, wie sollte er auch angesichts seiner beruflichen und persönlichen Belastung. Er weiß nicht, dass sich die Wirtschaftskrise schon abzuschwächen und nachzulassen beginnt, dass auch im Ausland Verhandlungen über die Beseitigung der Reparationen gelaufen sind und auf der Konferenz in Lausanne im Juni 1932 das Ende der Reparationen, von denen bis dahin 53,15 Milliarden Goldmark gezahlt worden waren, bis auf eine Schlusszahlung von 3 Milliarden Mark beschlossen wird und dass die Zentrumspartei sich vehement gegen die Nazis stemmt. In ihnen aber vermutet er die wahre politische Stärke. Und betont dieser Hitler nicht immer wieder seinen unbedingten Friedenswillen?
Die NSDAP hält er für eine Partei, die sich nicht auf eine Gesellschaftsschicht beschränkt, sich nicht durch programmatische Fesseln selbst behindert, sondern das Volk zu einen scheint, die Schwäche und Zerrissenheit beseitigen will, die sich in den Kämpfen zwischen den unterschiedlichen politischen Interessensgruppen äußern. Wie Peitschenhiebe, die die Schmach der Vergangenheit vertreiben sollen, empfindet Hans Hitlers Sätze. Ihm traut er zu, Deutschland wieder zu seiner einstigen Größe und Selbstachtung zu führen. Und so gehört er zu der Vielzahl, die Mitglied dieser Partei werden wollen, und entschließt sich am 28.12.31 in die NSDAP einzutreten und bekommt die Mitgliedsnummer 905688, fast zwei Jahre bevor sie eine Aufnahmesperre erlässt, weil die Neuzugänge in kurzer Zeit die Million weit übersteigen.
In dieser Entscheidung fühlt er sich bestärkt: Denn hat dieser Hitler nicht dem ehemaligen Kronprinzen Wilhelm gegenüber erklärt, sein Ziel sei die Wiederherstellung der Monarchie und der Herrschaft des Hauses Hohenzollern? Wenn schon Wilhelm von Preußen die Kandidatur Hitlers bei der Reichspräsidentenwahl 1932 unterstützt und sich wie viele andere National-Gesinnte für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler einsetzt, als v. Schleicher scheitert, dann kann dieser Hitler doch so verkehrt nicht sein.
Hans sieht nicht voraus, dass es am 23. März 1933 vorbei sein wird mit dem parlamentarischen Leben in Deutschland. Er nimmt das auch später nicht recht wahr, denn im Grunde ist er ein weitgehend unpolitischer Bürger. Für ihn findet ein nationaler Aufbruch statt, erfüllen sich Hoffnungen, gewinnt das Leben wieder einen Sinn: Ehrgeiz und Leistungswille werden sich wieder lohnen. Davon ist er überzeugt. Wie soll er auch das perfide Spiel zwischen den Worten und den Taten der Regierenden durchschauen?
Anderes ist ihm wichtiger: Endlich hat er die Frau seines Lebens gefunden und sich mit ihr verlobt.