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2.2. Von der europäischen Ich-Kultur und den Wir-Kulturen
ОглавлениеDie westliche Konzeption der Person als eines begrenzten, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universums (…), das in eine distinkte Ganzheit organisiert ist und kontrastierend gegen andere solche Ganzheiten und gegen den sozialen und natürlichen Hintergrund gesetzt ist, ist eine eher seltsame Idee im Kontext der Weltkulturen, auch wenn sie uns unkorrigierbar erscheinen mag.
Clifford Geertz: „From the natives point of view: …“, 197923
Sei es vorchristliche oder christliche Kultur, sei es der Monotheismus des Judentums oder des Islam, seien es alte oder neue außereuropäische, gar polytheistische Kulturen: Was sie alle verbindet, ist das „Wir“. „Der Mensch ist das Tier, das Wir sagt“, so sagt die neue Entwicklungspsychologie und sieht die Einzigartigkeit des Menschen in seiner bewußten24 Kooperationsfähigkeit. „Am Anfang steht die Wir-Intentionalität zu gemeinsamem Handeln – im Spiel der Kinder und ebenso im Leben der ersten Menschen.“25 Doch die spezifischen vom Christentum beeinflußten Formen des Zusammenlebens, einschließlich der Sprache, dann auch staatlicher Institutionen und ihrer Autorität, von Ethik und Moral, ließen im Laufe der Jahrhunderte das entstehen, was man später zusammenfassend als „europäische Kultur“ bezeichnete. Diese hatte auch in späteren Jahrhunderten und bis in unsere Gegenwart gegenüber den außereuropäischen Kulturen sogar noch den Anspruch auf Überlegenheit. Schließlich hatten noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts europäische Nationen in außereuropäischen Ländern so genannte Kolonien, in denen man die unwissenden und rückständigen und oftmals immer noch die falschen Götter anbetenden Eingeborenen von der Überlegenheit dieser Kultur überzeugen konnte – was ja durchaus auch im Sinne des einen europäisch-christlichen Gottes war.
Vor allem war man stolz auf spezifische Wertvorstellungen, die mit Traditionen und Vorstellungen des so genannten Individualismus zu tun hatten. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verabschiedet, sicher noch unter dem Eindruck der humanitären Katastrophe des zweiten Weltkriegs, vor allem jedoch auch aus Hochachtung vor einer europäischen Kultur, die mit ihrer technisch-wirtschaftlichen Überlegenheit trotz zweier selbstzerstörerischer Kriege immer noch weite Teile der Welt beherrschte und die zugleich solche Werte hervorgebracht hatte. Und in den Ländern europäischer Kultur war und ist man noch heute stolz auf diese Werte und leitet sie gerne vom Christentum ab, wobei man vergißt, daß sie eigentlich von eben jenen Blasphemikern, Ketzern, Freigeistern und Revolutionären der Kirche abgerungen worden waren, die man dafür bis vor nicht allzu langer Zeit großenteils noch gefoltert und oft sogar verbrannt hatte.
Inzwischen wächst jedoch international das Mißtrauen in einen direkt funktionierenden Zusammenhang von westlichen Werten, Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg, was sicher mit der abnehmenden wirtschaftlichen und politischen Macht des Westens und u.a. den zunehmenden Erfolgen des kommunistisch-konfuzianistischen China zu tun hat. Wenn sich am Ende des zweiten Jahrtausends ein afrikanischer Philosoph und Ethiker über ethische Ansprüche einer angeblichen europäischen Leitkultur beklagt, so ist er inzwischen nur eine Stimme unter vielen. Es sei ein Merkmal der westlichen Ethik, sagt Godfrey Tangwa (Universität Yaounde, Kamerun), zu glauben, sie funktioniere losgelöst von den Glaubenssätzen und Bräuchen ihrer Gesellschaft. In Afrika stehe das Zusammengehörigkeitsgefühl im Zentrum – nicht wie im Westen das Individuum. Dem Westen klarzumachen, daß seine Ich-Kultur nicht wie ein Teekannenwärmer der Wir-Kultur übergestülpt werden kann, ist Tangwas wichtigste Mission.26
Was aber versteht ein afrikanischer Philosoph und Ethiker unter „europäische(r) Ich-Kultur“, gegen die er im Namen einer „Wir-Kultur“ polemisiert? Mit dem Monotheismus, d.h. dem Machtanspruch eines von Gott dem Menschen Moses diktierten „Ich“, der dadurch die Autorität eines Gottkönigs beanspruchen durfte, kann das nicht unmittelbar zu tun haben. Denn Gott hatte, einige Jahrhunderte später, durch seinen Sprecher, den Erzengel Gabriel, dem Propheten Mohammed Vergleichbares mit zunächst vergleichbaren Folgen diktiert, ohne daß aus dem danach als Islam bezeichneten Monotheismus eine der europäischen Kultur vergleichbare Ich-Kultur entstanden wäre. Im Gegenteil: Was in ihren Anfängen nicht nur den Islam, sondern gerade auch das Christentum besonders attraktiv erscheinen ließ, war gerade das „Wir“, das gemeinsame Beten in der Gemeinde, für die Muslime in der Umma. Was aber ist dann „Ich-Kultur“?
Vielleicht kann uns praktische interkulturelle Erfahrung aus jüngster Zeit weiterhelfen. Obwohl in der Regel selbst Intellektuelle, die in der im weitesten Sinne europäischen Kultur sozialisiert wurden, diesbezüglich gerne „betriebsblind“ sind, erweisen sich einige doch in der direkten interkulturellen Begegnung als sensibel und lernfähig. Voraussetzung ist freilich, daß sie dem „Anderen“, dem Fremden, nicht nur mit Toleranz begegnen, was ja nur ein Tolerieren bedeutet, bei dem man von der eigenen Position und Überzeugung nicht abzurücken braucht. Jedes gelingende Gespräch, sei es auch z.B. nur das eines bayerischen Vaters mit seiner heranwachsenden Tochter (denn die „tickt“ ganz sicher anders als er) bedarf vielmehr der Empathie, d.h. der Gabe, sich in den anderen „einzufühlen“, um die Dinge auch aus dessen Sicht zu sehen und beurteilen zu können. Und manchmal bedarf es für einen derartigen interkulturellen Lernprozeß einer – im wahren Sinne – Grenzüberschreitung.
„Jeden Morgen überquere ich eine Grenze, um zu der Universität zu kommen, an der ich unterrichte“, schreibt Benjamin Balint, Professor für Literatur und Philosophie, der als amerikanischer Jude junge Palästinenser an der Al-Kuds-Universität nahe Jerusalem unterrichtete.27 Die Studenten gehörten zur intellektuellen Elite Palästinas; die meisten von ihnen hatten gleichwohl das Westjordanland noch nie verlassen. Man sprach über die RushdiAffaire der Jahre 1988/89, als Ajatollah Chomeini den Autor der „Satanischen Verse“ einschließlich Verleger, Übersetzer und Verkäufer des Romans zum Tode verurteilte; man sprach u.a. auch über das Dutzend im Jahr 2005 in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ erschienener Mohammed-Karikaturen, die gewalttätige Proteste auslösten, bei denen weltweit 241 Menschen starben. „Nichts von alldem empörte meine Studenten. Und sie waren sich einig, daß Blasphemie unter Strafe gestellt werden müsse. So forderte etwa ein Student die Todesstrafe für den Regisseur der Mohammed-Videos. Er fand, daß es eine offizielle Entschuldigung von Präsident Obama geben müsse. (…) Er betrachtete die Vereinigten Staaten als eine Art Clan, der sich entschuldigen muß, wenn ein Mitglied den Stolz und die Ehre eines anderen Clans beleidigt. Ich verstand nun: Wo der Westen dem Individuum und seiner Autonomie den Vorrang einräumt, setzt die islamische Tradition auf eine kommunitaristische Auffassung, der zufolge der Einzelne sich kollektiv verwirklicht.“28
In der Tat sind „die heutigen Vorstellungen der Menschenrechte (…) im westlichen, individualgesellschaftlichen Umfeld entwickelt worden und lassen sich nicht einfach auf eine Kollektivgesellschaft übertragen.“29 Nun scheint es aber, daß europäische Werte wie die freie Meinungsäußerung und Achtung der Menschenrechte mit der christlichen Tradition und Dogmatik genauso wenig zu tun haben, wie mit den heute noch wirksamen Regeln des islamischen Korans. Insbesondere „die noble Familie der Christenheit nimmt für sich in Anspruch, die Güte, die Barmherzigkeit und den Sinn für Brüderlichkeit immer besonders gepflegt zu haben: Zweifellos hat sie diese Tugenden öfter beschworen als praktiziert; sie war repressiv und liebte – wie die meisten Sterblichen – das Geld und die Macht. Der Humanitarismus war nicht ihre dringendste Sorge und bildete auch nicht, wenn wir gerecht sind, ihre eigentliche Bestimmung.“30 Auch Europa war lange eine theokratische, missionierende Gesellschaft, die Bücher und gelegentlich auch Menschen verbrannte.
Wie schon gesagt: Es waren Ketzer und Dissidenten, die seit dem Mittelalter, der Aufklärung und in Revolutionen der christlichen Kirche die Überzeugungen vom Wert des Individuums abrangen und in demokratisches staatliches Handeln und die Achtung der Menschenrechte zu verwandeln versuchten. Der Islam hat eine Aufklärung mit dem Ziel einer Trennung von Kirche und Staat nur in immer wieder verschütteten Ansätzen erlebt.31 Und die lobenswerten humanistischen Überzeugungen demokratischer Länder zaubern auch heute oft nur ein genervtes Lächeln in die Gesichter außereuropäischer Staatslenker, wenn europäische und amerikanische Politiker sich bei Staatsbesuchen auf sie berufen; zumal sie sich in der Geschichte nur allzu oft ausschließlich als Überzeugungen von verfolgten Minoritäten erwiesen haben, wenn im ach so zivilisierten Europa „Wir-Ideologien“ wie der Faschismus und der real existierende Sozialismus Millionen von Todesopfern zeitigten, oder von Ländern, die besonders stolz auf ihre individualistischen Traditionen und Werte sind, verbrecherische Kriege ausgingen: in Vietnam, in Algerien, im Irak, oder mit der Unterstützung durch die USA, ein Musterland der Menschenrechte, in Chile eine blutige Diktatur installiert wurde – mit der Hilfe der katholischen Kirche.
Hier wäre nun genauer zu fragen, ob und wie trotz alledem eine europäische Ich-Kultur aus dem Christentum entstanden sein kann – vielleicht als säkulares Ergebnis? Eine derartige Entstehungsgeschichte scheint keineswegs evident zu sein, wenn selbst ein renommierter französischer Althistoriker wie Paul Veyne dafür plädiert, die Bedeutung des Monotheismus, „diesem mühseligen point d’honneur der Theologen“32, nicht zu überschätzen. „Es ist nicht der Monotheismus, der eine Religion zweifelhaft macht, sondern der Imperialismus ihrer Wahrheit.“33 Der Autor geht noch weiter, wenn er sagt, Europa habe keine christlichen Wurzeln, „sondern es hat sich in Entwicklungsstufen, die nicht vorhersehbar waren, schrittweise herausgebildet, keiner seiner Bestandteile ist ursprünglicher als irgend ein anderer. Europa ist nicht im Christentum angelegt, es ist nicht die Entwicklung eines Keims, sondern das Ergebnis einer Epigenese. Das Christentum übrigens ebenfalls.“34 Und er ergänzt diese Feststellung durch einen methodischen Hinweis, der im Übrigen den postmodernen Selbstzweifeln der im 19. Jahrhundert entstandenen so genannten Geschichtswissenschaft durchaus entspricht. „Die Geschichte ist nicht finalistisch, außer in unseren rückwärtsgewandten Illusionen. Sie bietet keine „natürliche Entwicklung“, wie das bei der Pflanze der Fall ist, sondern nur eine Epigenese.“35
Historische Entwicklungsstufen sind eine Verkettung von in der Regel nicht vorhersehbaren Ereignissen. Durch die Sprache der historischen Erzählung alias wissenschaftlicher Geschichtsschreibung entsteht notwendig ein Nacheinander von Fakten, d.h. der Schein einer Kontinuität, während die Geschichte realiter in Sprüngen verläuft. Überdies bleibt die Auswahl der sprachlich aneinander gefügten Fakten subjektiv – ein anderer Historiker, aus anderer Zeit und aus einem anderen kulturellen Kontext, hätte andere Fakten gewählt. Und – die erzählende Reihung schafft damit nicht nur die Illusion bruchloser Kontinuität, sondern auch kausaler Zusammenhänge, die es so niemals gegeben hat.