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Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers

Antlitz allein; denn schon das frühe Kind

wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts

Gestaltung sehe, nicht das Offne, …

Rainer Maria Rilke, Die achte Elegie

1. Prolog: Sénanque20 – Ein europäisches Haus Gottes

Gott braucht ein Haus? Vielleicht, weil es fraglich ist, ob Er außerhalb des Hauses sein kann: Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sagt er. Und das Gotteshaus liegt weitab vom Marktplatz, wo wenige von ihm wissen – und wo bestenfalls ein toller Mensch seinen Tod verkündet. Aber das Haus, das Gotteshaus, definiert Ihn. Dort kann er Ich sagen und mit denen reden, die ihn aufsuchen.

Die ihn dort suchen – in der festen Burg, von der das Lied sagt – fürchten sich vor dem ungewissen Draußen; doch mancher sucht ihn ein Leben lang – homo viator – und glaubt an ein Ziel,ohne es zu finden. Manchmal, auf dem langen Wege, begegnen dem Suchenden jedoch andere, die haben kein Ziel und sind es zufrieden.

Die meisten aber haben andere Götter neben Ihm und sind es zufrieden, daß Er in seinem Haus, der festen Burg, bleibt und sie nicht behelligt. Und meist bleiben auch die Türen verschlossen, vor allem beim Gottesdienst, bei dem der Schutz vor dem ungewissen Draußen besonders wichtig ist. Denn das Gebet an den Schöpfer darf sich nicht im Geschaffenen verfangen. Auch das Licht, das durch die Fenster dringt, darf nicht mehr das von draußen sein: In den bemalten Fenstern erzählt es Geschichten, die denen gleichen, die der Priester von Ihm erzählt, und was erzählt wird, gibt es, und also gibt es Ihn.

Unsere Domus Dei, das Haus Gottes, liegt außerhalb der Stadt – in einer Wiese, in der im Sommer blauer Lavendel blüht. Manchmal kommen Kinder und spielen darin, ihr Lachen läßt vermuten, daß sie dann glücklich sind. Wenn sie das Gotteshaus betreten, haben sie Angst vor dem Dunkel. Dann sitzen da auch manchmal einzelne Menschen, in sich gebeugt, die gar nicht fröhlich aussehen: Man nenne das Beten, erklärt man ihnen, und dabei rede man mit Gott. Sie schauen verwundert und rennen wieder auf die Wiese.

Vielleicht gab es vor dem Bau der Kirche ja nur eine Wiese mit blauem Lavendel – wo war dann Gott? Vielleicht sollte man die Kinder fragen, sie lachen dann verschämt und bleiben die Antwort schuldig – oder sie antworten später, wenn sie groß sind. Dann ist oft die Antwort – das Unglück der Frage.

20 Die Abbaye Notre Dame de Sénanque, 1148 von Zisterziensermönchen gegründet, liegt unweit des Städtchens Gordes im Gebirge des Lubéron, im südfranzösischen Département Vaucluse.

Das europäische Ich

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