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2.1. Vom „ich“ und dem „Ich“ und dem„Wir“: anthropologische Konstanten

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Jeder Mensch sagt „ich“, sei er nun Europäer, Amerikaner, Afrikaner oder Asiate. Dieses „ich“ gehört zur menschlichen Sprache, einem gesellschaftlichen Phänomen, denn es existiert nur in der Interaktion mit einem Du und geht verloren, wenn der Mensch radikal vereinsamt. In Verbindung mit einem Verb und der entsprechenden Situation kann es jedoch so selbstverständlich sein, daß es manchen Sprachen genügt, es durch die entsprechende Endung des Verbs auszudrücken, z.B. im Lateinischen. Wenn freilich zum Abschluß der katholischen Beichte der Priester sagt: „Ego te absolvo“, anstatt sich – sprachlich möglich – auf ein „te absolvo“ zu beschränken, wird das „ich“ mit Bedeutung aufgeladen und darum besonders betont; immerhin spricht der Priester im Namen Gottes. Wenn im 9. Jahrhundert das althochdeutsche Hildebrandslied mit dem Satz beginnt „Ik gihorta dat seggen“, kann man dies übersetzen. „Ich hörte glaubwürdig berichten“: Das „ich“ des Sängers wird ähnlich dem erwähnten „ich“ des Priesters mit Bedeutung aufgeladen: der Sänger verbürgt in seiner sozialen Rolle, ähnlich dem Priester, die Glaubwürdigkeit des Gesagten.

In der Regel gilt: „Wer „ich“ sagt, meint nicht schon sich selbst. Wer dagegen „Ich“ sagt, hat dieses Selbst im Blick, von dem er weiß, daß es ein anderes ist als alles andere und als alle anderen“.22 Denn irgendwann in der Geschichte der Evolution gab es jenen Moment, wo der Mensch entdeckte, daß er sterblich war; dies war dann auch der Moment der erwachenden Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, bei der ein „ich“ entdeckte, daß es ein „Ich“ ist. Dieses „Ich“ war damit gleichsam ein Objekt geworden und mit anderen „Ich“-Objekten in seiner Umgebung vergleichbar.

In dieser Umgebung gab es Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, Gro-ße und Kleine, Reiche und Arme usw. Alle erwähnten Verschiedenheiten waren so genannte Eigenschaften, deren größten Teil ein „Ich“ sich nicht aussuchen konnte, da sie ihm von Geburt an zugeteilt waren, die es von anderen Menschen unterschieden, einigen als ähnlich erscheinen ließen, was alles zunächst jedoch keine Rolle spielte, denn vor allem war man Teil eines „Wir“. Dieses „Wir“ war dann Familie, Horde, Clan, Stamm, und sehr viel später gab es auch eine so genannte Nation.

Es gibt kein „Ich“ ohne dieses „Wir“. Am Anfang war das „Wir“: Es verbindet den Menschen mit den Tieren. Wir Menschen waren und sind, ungeachtet unseres „Ichs“, Herdentiere: Wenn Gefahr droht, sucht man Schutz in der Herde, rückt zusammen: „Gemeinsam sind wir stark!“ – so lauteten noch die Appelle des Präsidenten der USA nach der nationalen Katastrophe des 11.09.2001, und dazu gehörten dann vereinfachende Polarisierungen und Feindbilder, die das Zusammenrücken förderten.

Denn auf Angst reagiert der Mensch als Fluchtwesen: Zurück in den Mutterschoß, in die wärmende Höhle, in Kriegszeiten in Keller und Bunker, dann in die typischen Sicherheiten der Menschenherde, d.h. Religion, Nation, Leitkultur, Staat und neue Gesetze zur inneren Sicherheit. Dieser ratsame und vermeintliche Schutz gewährende Anlehnung an Autoritäten des „Wir“ – später heißt dies als kollektive Verpflichtung dann Solidarität – begrenzt erwünschtermaßen auch die Angst generierende Freiheit eigenen Denkens, Handelns, Partizipierens und der so genannten Zivilcourage – die Verantwortung tragen schließlich die anderen, eben diese Autoritäten. Im Ernstfall kann dann das Leittier, dem die Herde folgt, auch einmal Stalin oder Hitler oder Mao Tse Tung oder Pinochet oder Sadam Hussein oder Assad oder Putin oder Erdogan oder … heißen.

Das „Wir“, in welches man ohne eigene Entscheidung hineingeboren wurde, kümmerte sich dann um die Prozesse der Anpassung; die Älteren sagten einem, was man zu tun und zu lassen habe. Später nannte man das dann „Erziehung“ oder „Bildung“, die dafür zu sorgen hatte, daß man sich von den anderen möglichst wenig unterschied, denn die Tatsache, daß man sich – im Unterschied zu den Tieren – selbst und die anderen beobachten und diese Beobachtung wieder mit den Beobachtungen anderer vergleichen konnte, war nicht ungefährlich. Denn da bestand das Risiko, daß man unter Umständen anders sein wollte als die anderen, und das konnte gegebenenfalls sogar lebensgefährlich sein, denn man entzog sich damit dem schützenden „Wir“, man entzog sich auch der Art und Weise, in der dieses Wir kommunizierte, der schützenden gemeinsamen Sprache. Denn diese bestand ja gleichsam aus Zitaten, d.h. aus Wörtern und Sätzen, die man im Clan schon tausendmal gehört – und schließlich auch gelernt und selbst gebraucht hatte, denn sonst hätte man einander ja nicht verstehen können. Das Risiko, unter Umständen anders sein zu wollen als die anderen, betraf dann auch die Sprache und konnte zu unangenehmen Mißverständnissen führen. All dieses sind anthropologische Konstanten, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart kaum verändert haben.

Das europäische Ich

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