Читать книгу Einmal und Zurück - Ulrich Paul Wenzel - Страница 4
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ОглавлениеNeben mir tauchte das Hinterteil der Stewardess auf und kurz darauf bremste sie ihren Container. Ich dachte an meine Nachbarin, die sich wahrscheinlich immer noch auf der Toilette für das Essen zurechtmachte. Könnte knapp werden. Die Stewardess reichte der Freundin meiner Sitznachbarin mit dem einladenden Lächeln einer Vorstadtschönheit eine Fressbox aus Plastik. »Und was darf ich ihnen zu Trinken servieren?«
Ich tippte auf Mineralwasser oder Orangensaft.
»Einen Weißwein bitte.«
Verstohlen schielte ich auf meine Armbanduhr. Kurz vor halb elf. Sie fängt ja rechtzeitig an. Ich bekam die gleiche Plastikfressbox auf mein Tablett gestellt.
»Und was darf Ihnen zu Trinken anbieten?«
»Ich hätte gerne auch einen Weißwein«, hörte ich mich sagen, obwohl ich ein Bier trinken wollte. Gleich nachdem die Stewardessen ihren Servierwagen weitergeschoben hatten, tauchte meine Sitznachbarin neben mir auf. Sie hatte ihre Lippen mit einem tiefen Rot nachgezogen, welches auf die Farbe ihrer Jeans abgestimmt zu sein schien und hatte einen Becher Mineralwasser in der Hand. Ganz der Kavalier griff meine noch verschlossene Fressbox und den Weinbecher und schnellte aus meinem Sitz hoch.
»He Alter, was trinkst du denn da?«, rief Franky in dem Moment, als meine Sitznachbarin sich auf ihren Platz schob. »Ist das Apfelschorle oder Pfefferminztee?«
»Weißwein, Franky.«
»Ist das nicht ein bisschen früh für Weißwein, Lukas?«, fragte Franky und hielt ein Bier hoch, Cash hatte ebenfalls eins und ich hätte eigentlich auch ein Bier in der Hand haben sollen.
»Wir sollten mal die Plätze tauschen, Lukas«, krächzte Cash, nahm einen kräftigen Schluck und rülpste unüberhörbar. Ich zuckte zusammen.
»Tausch doch mit Franky.«
»Was soll er mit mir tauschen?«, grunzte Franky, der den Plastikdeckel seiner Fressbox geliftet hatte und sich gerade sein Hühnchen vornehmen wollte, »ich habe das gleiche wie ihr, Hühnchen und Schlammkartoffeln. Und Schokopudding. Den kannst du übrigens von mir haben, Cash.«
»Deinen Schokopudding kannst du dir unter den Arm kleben, Alter.«
»Was, ich denke, du stehst auf Schokopudding«, wieherte Franky und haute Cash auf die Schulter.
»Bist du wahnsinnig. Von dem Zeug könnte ich kotzen.«
»Okay«, unterbrach ich die beiden und warf einen Blick auf meine Sitznachbarin, »ich setz’ mich dann mal wieder.« Vielleicht sollte ich den fatalen ersten Eindruck, den meine Sitznachbarin von uns bekommen haben musste, etwas korrigieren und ihr ein unverbindliches Gespräch anbieten.
»Wollen Sie auf eine Insel oder bleiben Sie auf dem Festland?« Die Frage kam nicht von mir, sondern von meiner Sitznachbarin. Ohne erkennbare Vorwarnung. Sie schien über uns genauso intensiv nachgedacht zu haben, wie ich über sie. Ich empfand ihre Frage sehr taktvoll. Sie hätte auch fragen können: ‚Benehmt ihr euch eigentlich immer so prollig?’ oder ‚Habt ihr eure pubertäre Phase immer noch nicht hinter euch gelassen?’ Insofern hatte sie in meinen Augen enorm gewonnen. Wahrschein hoffte sie jedoch, dass wir unser Urlaubsquartier nicht in ihrer Nähe hatten, was ich natürlich nachvollziehen konnte.
»Nach Kreta«, antwortete ich zurückhaltend.
»Ach, das ist ja toll. Dann haben Sie bestimmt auch keinen Direktflug mehr bekommen, oder? Wir wollen auch nach Kreta und müssen mit einem Inlandsflug nach Heraklion weiterfliegen. Es gab keine Direktflüge mehr.«
Von einem Direktflug war bei uns nie die Rede, weil Franky unbedingt mit der Fähre fahren wollte. Aber sie findet es toll, dass wir auch nach Kreta fahren und dabei hatte sie plötzlich einen Schwung in der Stimme, den ich so nicht erwartet hatte.
»Nein, wir fahren mit der Fähre weiter.«
»Lukas«, polterte Franky herüber, »willst du jetzt nicht mal ein Bierchen probieren oder machst du noch ein bisschen auf Etikette?«
Franky und Cash gingen mir im Augenblick gehörig auf die Nerven. Ich antwortete nicht, sondern wandte mich weiter an meine Sitznachbarin.
»Wir wollen übrigens an die Südküste, nach Matala.«
»Matala? Kenn ich nicht. Kennst du Matala, Petra?« Die Frage ging in an ihre Freundin mit dem Sommerkleid. Petras fragender Blick signalisierte mir, dass auch sie mit Matala nichts anfangen konnte. Das Kopfschütteln folgte prompt und unmissverständlich.
»Wir haben ein Hotel bei Rethimnon. Sagt Ihnen Rethimnon etwas?«, fragte meine Nachbarin. Natürlich nicht. Woher denn? Das schlichte Gesprächsniveau empfand ich angesichts meines brummenden Schädels angemessen. »Nein, ich war noch nie auf Kreta.«
»Ach, Sie waren noch nie auf Kreta?« Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Aber bestimmt schon auf anderen Inseln?«
»Natürlich, auf Sylt, auf Helgoland und auf Schwanenwerder, aber noch nie in Griechenland.«
»Waas? Ich liebe Griechenland«, säuselte meine Sitznachbarin. »Letztes Jahr war ich auf Rhodos und davor auf Kos.«
Ah ja! Von den beiden Inseln hatte ich etwas in einer von Sybilles Zeitschriften gelesen – die neben der Toilette. Und schon stand mein erstes Bild von meinen beiden Sitznachbarinnen: Bis mittags schlafen, anschließend, wie Sybille, am Strand durchbraten und nachts auf der Tanzfläche explodieren. Und alles in einer Vierzehntage-Schicht.
»Wir haben übrigens ein Auto gemietet und machen jeden Tag Ausflüge und sehen uns viel an«, fügte meine Sitznachbarin hinzu und nippte an ihrem Mineralwasser, während ich noch über ihr Nachtleben nachdachte.
»Das ist ja toll«, antwortete ich.
»Und Sie, haben Sie auch ein Auto gemietet?«
Was sollen wir mit einem Auto, wir sind drei Wochen am Strand und in den Tavernen und jeden Abend knüppeldicht. »Nein, mit einem Auto sind wir zu unflexibel.«
»Wie bitte? Das sollte jetzt aber ein Witz sein, oder?« Sie lachte kurz auf und zeigte ihre schneeweißen, geraden Zahnreihen. Ein kontrolliertes Lachen. Ich hatte das Gefühl, dass sie selbst beim Lachen die Form waren wollte.
»Das muss man etwas anders sehen. Wir trinken im Urlaub ab und an mal etwas Alkohol und wenn man etwas zu viel getrunken hat, kann man das Auto nicht gebrauchen. Und auf Kreta soll man überall auch gut mit dem Bus hinkommen.« Ich verzichtete bewusst darauf, die Geschichte mit dem Trinken etwas genauer auszuführen. Das hätte sie an dieser Stelle definitiv verwirrt.
»Da haben Sie allerdings auch wieder Recht, ein Auto ist nicht immer von Vorteil«, sagte sie und ihr Blick signalisierte: ‚So etwas Bescheuertes habe ich ja noch nie gehört’.
Vorsichtig zog ich den Plastikdeckel von meiner Fressbox. Ich hätte es lassen sollen! Ein Bild des Grauens wie nach einem Terror-Anschlag! Eine Hühnerkeule lag in einer fast braunen Tomatensoßenlache. Die Kartoffeln konnten ohne weiteres auch als zu groß geratene Gnocchi durchgehen.
»Na Alter, schmeckt's nicht?«, grunzte Franky. Ich fuhr zusammen. Er stand neben mir und glotzte erst auf die Hühnerkeule, dann zu meiner Sitznachbarin und anschließend zu mir.
»Nicht besonders, wieso fragst du?«
»Du machst irgendwie so’n angespannten Eindruck.«
»Das sieht nur so aus, Franky. Kannst du nicht mehr sitzen?«
»Nee, ich will nur zur Toilette, kurz was abschmeißen und dann noch zwei Pils besorgen. Willst du auch eins?«
»Danke Franky, im Moment nicht.« Ich beäugte meine Sitznachbarin aus den Augenwinkeln. Sie betrachtete sich ihre schlanken, fein manikürten Fingernägel und tat so, als wenn sie unseren niveauvollen Dialog nicht mitbekommen hatte. Franky verzog sich.
»Sind das Ihre Freunde?« Die Frage hatte ich erwartet. Ich versuchte es mit einer Erklärung. »Ja, wir sind heute sehr früh aufgestanden.«
Sie schaute mich mit ihren blaugrünen Augen an, als wenn ich nicht ganz dicht wäre. Mir blieb nur ein Zucken mit den Schultern und ein verlegenes Lächeln, war mir aber nicht sicher, ob letzteres wirklich angemessen rüberkam.
»Was für ein Hotel haben Sie in Malaga? Also viel viele Sterne?«
»Matala«, verbesserte ich, »Ma-ta-la!« Und hör endlich mal mit dem scheiß ‚Sie’ auf.
»Ach richtig, wie komm’ ich auf Malaga? Das liegt doch in Spanien.« Sie kicherte vor sich hin und ich fragte mich, was sie daran so witzig fand.
»Wir nehmen uns ein Zimmer«, erklärte ich trocken, »die kosten nicht viel. Außerdem haben wir Schlafsäcke mit.« Einen kurzen Moment zu spät wurde mir bewusst, dass mein zweiter Satz Fragen aufwerfen würde. Die erste kam umgehend. »Wieso Schlafsäcke, wenn Sie ein Zimmer haben?«
»Falls es doch kein Zimmer gibt.«
»Und wo bitteschön schlafen Sie dann? Auf einem Campingplatz, nehme ich an.«
Mit ihrem ‚Sie’ trieb sie mich fast in den Wahnsinn!
»Nein, am Strand!« Butter bei die Fische!
»Am Strand?« Meine schöne Sitznachbarin starrte mich an, als wenn ich gerade als Sauerstoffmaske von der Decke gesegelt wäre. Entsetzen und Anerkennung wechselten sich in ihrem Blick ab. »Und was ist mit Waschen, Zähneputzen und Toilette?«
Sie dachte jetzt ganz intensiv nach, das war offensichtlich. Wenn wir auf einer Parkbank nebeneinandergesessen hätten, wäre sie in diesem Moment definitiv aufgestanden und an das äußerste andere Ende gerückt – oder gegangen.
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Ich räusperte mich zweimal. »Ich gehe aber davon aus, dass wir ein Zimmer kriegen.«
»Wir haben übrigens ein Hotel direkt am Strand. Vier Sterne. Zimmer mit Dusche, WC und Balkon, Meerblick.«
»Das ist ja irre«, antwortete ich etwas hohl und gähnte unabsichtlich. Sie interpretierte es natürlich falsch und wendete sich augenblicklich ihrer Freundin zu.
Ich wachte von den Tritten eines kleinen Jungen gegen meine Rückenlehne auf. Meine Sitznachbarin schien ebenfalls zu schlafen. Sie hatte ihre flachen, schwarzen Schuhe ausgezogen. Ich blickte auf rot lackierte Fußnägel. Rot wie die Hose und die Lippen. Dazu ihre blaugrünen Augen und das schneeweiße Hemd. Tutti kompletti.
»Nehmen Sie ein Taxi zum Schiff?«, fragte sie plötzlich, ohne ihre Augen zu öffnen, während ich gerade versuchte, die Konturen ihres Busens zu identifizieren. Ich schluckte und zog meinen Kopf ruckartig zurück. »Nein, wir nehmen den Bus, der ist viel billiger.«
Ich entschloss mich spontan zum Angriff auf das unsägliche ‚Sie’.
»Spricht eigentlich etwas Wichtiges dagegen, dass wir uns duzen? Das ‚Sie’ bin ich gar nicht gewöhnt. Ich heiße übrigens Lukas.« Hoffentlich hat sie bei meinem Namen nicht die gleichen Assoziationen, wie seinerzeit Sybille, die mich spontan fragte, ob ich Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer aus dem Fernsehen kennen würde. Meine Sitznachbarin schien auf mein Angebot gewartet zu haben. Noch während meiner Gedanken nickte sie. »Ich heiße Isabelle und das ist meine Freundin Petra.«
Petra lächelte steif. Während ich noch auf Petras Grübchen starrte, fragte Isabelle: »Weißt du wie wir zum Terminal für innergriechische Flüge kommen, Lukas?«
Mein Gott, sie hörte sich ganz anders an. Ohne dieses ‚Sie’ fühlte ich mich viel näher an ihr dran. »Keinen Schimmer! Ich wusste bisher gar nicht, dass es in Athen mehrere Terminals gibt.«
Isabelle hat sich heute Morgen vor dem Badezimmerspiegel oder auf der Bordtoilette viel Mühe gegeben. Ich entdeckte immer neue Spuren ihrer Schönheit und verharrte einen kurzen Moment auf ihren makellos gezupften Augenbrauen.
»Was für ein Auto habt ihr denn gemietet?«, fragte ich.
»Einen kleinen Fiat.«
Ich weiß nicht, warum ich mehr erwartet hatte, als einen solchen Elefantenrollschuh. Warum eigentlich nicht? »Ihr habt es gut, ihr seid heute Abend schon in eurem Hotel.«
»Ja, gegen 17 Uhr, wenn alles gut geht«, sagte Isabelle. »Ist nicht weit vom Flughafen entfernt.«
»Die Nordküste würde mich auch interessieren. Vielleicht schaue ich sie mir mal an.«
Isabelles Antwort entsprach genau dem, was ich mir vorgestellt hatte.
»Dann kannst du uns ja besuchen. Wie wohnen im Agean Sun bei Rethimnon!« Ich glaubte ein Leuchten in ihren Augen entdeckt zu haben, wollte mich jedoch nicht darauf festlegen und schon gar keine Schlüsse daraus ziehen. Bei früheren Begegnungen mit Frauen waren es meistens die falschen gewesen.
Das Flugzeug setzte in diesem Moment krachend auf der Landebahn auf. Der Pilot schien noch nicht so oft gelandet zu sein. Es gab aber trotzdem rauschenden Beifall in der Kabine, wie nach einem Stück in der Schillertheater. Nicht dass die beiden Piloten gleich aus ihrer Kanzel kommen und sich ebenso verbeugen wie die Schauspieler, dachte ich süffisant.
»Wir können ja auf dem Flughafen noch einen Kaffee trinken«, schlug ich Isabelle vor und half ihr, die schwere Handtasche aus dem Fach zu ziehen.
»Gute Idee. Wir treffen uns bei den Gepäckbändern.«
Bevor es raus ging musste ich Franky und Cash wecken, die die tatsächlich schnarchend überstanden.
Während Franky und Cash an der Bushaltestelle des Flughafens warteten, brachte ich Isabelle und Petra zu ihrem Bus nach Rethimnon. Nach Größe und Gewicht ihrer Taschen – ich trug beide – zu urteilen müssten sie vier oder fünf Monate bleiben. Petra verabschiedete sich lächelnd und kletterte in den Bus, Isabelle blieb noch. »Vielleicht kommst du mich ja wirklich mal besuchen«, sagte sie, »ich würde mich freuen.« Ich registrierte sofort, dass sie ‚mich’ gesagt hatte, nicht dieses anonyme ‚uns’, wie noch im Flugzeug. Mein Puls schnellte sofort auf 180 hoch. Vor mir tauchte die Abschiedsszene von Casablanca auf, anstelle dieses alten Propellerflugzeuges hätte jedoch ein fast ebenso antiker griechischer Überlandbus und seine gigantische Abgaswolke als Kulisse herhalten müssen. Sie schien genauso angespannt zu sein wie ich selbst.
»Mach‘s gut, bis bald«, sagte sie plötzlich und unterbrach mich dabei, wie ich gerade in Gedanken die nächsten Wochen mit ihr grob vorskizzierte. Einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie wollte mir einen flüchtigen Kuss geben. Das bildete ich mir immer ein, wenn ich eine Frau verabschiedete und rührte wahrscheinlich noch aus der Zeit, als meine Mutter mich schweren Herzens im Kindergarten absetzte. Isabelle reichte mir nur die Hand, die sich zart und samtig anfühlte und die ich in diesem Moment gerne noch länger gehalten hätte.
Isabelle lächelte ein letztes Mal, drehte sich um und verschwand im Bus. Auf dem Weg zum Flughafengebäude spürte ich zum ersten Mal den Konflikt in mir aufkommen, der mich lange Zeit nicht loslassen würde.