Читать книгу Einmal und Zurück - Ulrich Paul Wenzel - Страница 5
3
ОглавлениеDie Fähre, die uns auf das mediterrane Eiland bringen sollte, hörte auf den Namen King Minos und schien noch zu Lebzeiten dieses legendären minoischen Herrschers gebaut worden zu sein. Wir lagen auf den von der Tagessonne noch warmen Stahlplanken des Seelenverkäufers und weil ich in meinem stickigen Schlafsack nicht einschlafen konnte, dachte ich über Isabelle nach. Das heißt, ich dachte eigentlich mehr über mich selbst nach, beziehungsweise dachte ich darüber nach, warum ich mir über eine Frau Gedanken machte, die ich erst kurz zuvor kennen gelernt hatte. Insbesondere, da wir uns unausgesprochen einig waren, dass wir mit Frauen alles Mögliche machen wollten, außer über sie nachzudenken. Und dann fiel mir ein, dass es nicht lange her war, seit ich das letzte Mal über eine Frau nachgedacht hatte: über Sybille.
Der Anfang mit Sybille war vielversprechend. Ohne Frage. Sie beeindruckte mich schwer, als ich sie das erste Mal traf. Eindrucksvolles Äußeres und vor allem ein interessanter Job: Immobilienmaklerin. Im Zuge unserer erfolglosen Suche nach einer WG-geeigneten Dreizimmerwohnung in Schöneberg, Kreuzberg, Charlottenburg oder Wilmersdorf, stieg der Immobilienmakler in meinem persönlichen Berufsranking in atemberaubendem Tempo auf einen Spitzenplatz.
Wir hatten verschieden Maklerbüro aufgesucht und landeten desillusioniert im Büro von Sybille.
Cash entdeckte die Annonce in der Morgenpost am Sonntagvormittag und brachte die Anzeige am Abend mit in den Stall, eine Kneipe in Schöneberg, in der wir schon unzählige Abende miteinander verbracht haben. Dreizimmer-Wohnung in Schöneberg, 105 Quadratmeter, Bad, 700 Mark kalt, Abstand 1500 Mark. Am nächsten Morgen standen wir pünktlich um zehn Uhr in Sybilles schlichtem Büro in der Knesebeckstraße.
»Taxifahrer, Fahrer für Bürobedarf und Kellner? Ihr habt keine Chance, glaubt es mir«, sagte sie abschätzend und blickte uns der Reihe nach an. Dunkle Augen, halblange, glatte Haare, rot gefärbt. Die Nase war ein wenig groß geraten, aber das empfand ich nicht als Makel und es war definitiv nicht ihre Nase, von der ich in der folgenden Nacht geträumt hatte.
»Aber können wir sie nicht einmal sehen? Ich meine, ablehnen können sie uns immer noch«, setzte Franky noch einmal nach.
»Der Vermieter möchte ein älteres Ehepaar haben«, sagte Sybille, deren Namen ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht kannte.
»Dann gehst du mit Cash hin«, sagte Franky lachend und klopfte mir auf die Schulter. Sybille fand das anscheinend auch witzig und lächelte mit.
»Ich habe da aber noch etwas anderes«, sagte sie plötzlich und blätterte in einem Stapel Akten auf ihrem chaotischen Schreibtisch. »Drei-Zimmer, Altbau, 670 Mark warm, glaube ich.«
Unsere Hälse wurden bei jedem ihrer Worte länger, bis sie »in Neukölln« hinzufügte. Wir schluckten alle drei hörbar, Cash räusperte sich.
»Hier hab' ich die Wohnung. Friedelstraße, gleich beim Herrmann-Platz.«
»Da ist Karstadt«, hörte ich mich spontan sagen. »Soviel ich weiß, das größte Karstadt-Haus in Berlin.«
»Das ist nun wirklich scheißegal, ob da Karstadt ist«, murrte Franky, »Neukölln ist das Problem.«
»Wir sollten sie uns anschauen, Franky«, sagte Cash, »vielleicht ist das ja doch etwas«.
»Ich bin auch dafür«, stimmte ich ein und bemerkte die lächelnde Unterstützung von Sybille.
»Der Vermieter ist ein älterer Herr. Ich habe sozusagen die Verwaltungshoheit über die Wohnung und die Schlüssel«, sagte Sybille aufmunternd. »Ihr könnt sie euch noch heute ansehen.«
Als wir mit zehn Verspätung am Nachmittag vor dem Haus in der Friedelstraße eintrafen, erwartete Sybille uns schon. Die Wohnung lag im ersten Hinterhof rechts, zweiter Stock. Drei Zimmer, 22, 18 und 16,5 Quadratmeter. Dazu eine riesige Küche und ein schmales Bad mit Badeofen aus der Jahrhundertwende. Wir schlichen durch die Wohnung wie eine Familie, die ein Fünf-Sterne-Appartement gebucht und drei Zwei-Sterne-Zimmer bekommen hatte. Eine zwanzigminütige Diskussion, an der auch Sybille teilnahm, führte zum Entschluss, die Wohnung zu nehmen. Besser als gar nichts, allerdings nicht viel besser.
»Wer von euch dreien begleitet mich denn nun nach Lichtenrade?«, fragte Sybille. »Dort wohnt nämlich Herr Allthoff. Einer müsst den Mietvertrag unterschreiben und es ist besser, wenn ihr nicht alle auftaucht.«
»Wie, nur einer von uns?«, fragte Cash.
»Genau. Es soll nicht gleich nach einer Männerwohngemeinschaft aussehen. Ihr könnt hinterher Untermietverträge machen. Das ist kein Problem. Aber einer muss der Hauptmieter sein.«
Wir schauten uns gegenseitig an. Der geborene Hauptmieter war in meinen Augen Cash, doch Franky hatte eine andere Idee. »Wir losen! Denken Sie sich eine Zahl zwischen 1 und 100«, wandte er sich an Sybille. »Wer am nächsten dran ist, geht mit.«
Das Los fiel auf mich und meine Lieblingszahl 7. Angeblich hatte Sybille sich die 10 gemerkt. Ich war überzeugt, dass sie nur deswegen die 10 nannte, weil sie mit mir zu dem Vermieter gehen wollte und weil es ihr auch ganz egal war, wohin wir gehen würden.
Wir verabredeten uns am folgenden Samstag um 11 an der Hasenheide vor dem Eingang zum Karstadt-Haus. Ich stand schon zehn Minuten vorher vor Ort. Um zehn Minuten später hupte sie und winkte aus einen zartgrünen Audi 80 heraus. Ich ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder und wurde von einer Parfümwolke erdrückt. Im Gegensatz dazu hatte sie sich dezent geschminkt, wie eine Hausfrau, die wegen ein paar fehlender Lebensmittel noch einmal zu Bolle ausrücken musste.
Die Althoffs waren grob geschätzt zwischen 65 und 70 aber noch gut in Form. Herr Althoff war Drogist und hatte in der Friedelstraße im Vorderhaus seine Drogerie, wo er am Monatsende auch die Miete bar empfangen wollte. Ich erschrak. Der Vermieter im eigenen Haus!
»Verheiratet sind Sie nicht?«, fragte Herr Althoff und schaute mich prüfend an. Ich hielt das für eine rein rhetorische Frage, denn wenn ich verheiratet wäre, hätte ich meine Frau mitgebracht.
»Wir haben uns gerade kennen gelernt«, antwortete Sybille an meiner Stelle und legte ihre Hand auf meinen Unterarm, »vielleicht heiraten wir bald.«
Ich musste Husten. Der erste Teil ihrer Aussage war einfach nur richtig wiedergegeben, der zweite Halbsatz war ein Schlag mit der Keule. Trotzdem vergaß ich nicht, zustimmend zu nicken. Herr Althoff schien damit vollauf zufrieden, denn auf weitere unangenehme Fragen, zum Beispiel nach meinem Beruf, meinem Arbeitgeber und all diesen Quatsch, verzichtete er. Der Rest war Formsache. Ich unterschrieb den Mietvertrag, nachdem ich mir alles genau durchgelesen hatte und steckte die Kopie und die Schlüssel ein.
»Und wie war ich?«, fragte Sybille als wir wieder in ihrem Audi saßen.
Ich wollte schon antworten, dass ich das gar nicht beurteilen könnte, weil wir es ja noch nicht zusammen ausprobiert haben, sagte dann aber: »Das war nicht schlecht.«
»Wir sollten das jetzt feiern«, überraschte mich Sybille. Zum Feiern war mir gar nicht zumute. Die Wohnung war alles andere als ein Hit, aber sie schien jede Wohnungsvermittlung zu feiern.
»Meinetwegen«, erwiderte ich, »ich weiß aber gar nicht, ob ich Cash und Franky erreiche.«
»Ach was, jetzt feiern wir erst einmal alleine.«
Keine schlechte Idee, dachte ich, wann lud mich schon mal eine hübsche Immobilienmaklerin ein, irgendetwas mit ihr zu feiern. Wir feierten in ihrer Wohnung, einem Vier-Zimmer-Palast mit fast vier Meter hohen Räumen und Stuckdecken in der Giesebrechtstraße. Ich war schwer beeindruckt und überlegte intensiv, ob meine Entscheidung, eine dunkle Kemenate in der Friedelstraße zu beziehen, wirklich die richtige Entscheidung war. Sybille selbst und diese Wohnung schienen als Komplettpaket eine Alternative zu sein.
Unsere kleine Feier begann mit einem Glas Chablis auf ihrer edlen blaugrauen Ledercouch und endete mit einem Glas aus der mittlerweile dritten Flasche in ihrem französischen Bett aus Messingrohr mit dunkelblauen Bettbezügen. Noch während ich neben Sybille lag und ihren geschmeidigen Körper streichelte, überlegte ich angestrengt, was wir noch alles zusammen feiern könnten. Meine Vorstellungen förderten plötzlich die nichtigsten Anlässe zum Vorschein.
Am Abend gingen wir essen. Auf Sybilles Frage, ob ich ein besonderes Restaurant wüsste, wollte ich, weil ganz in der Nähe, den Athener Grill am Lehniner Platz vorschlagen, den größten durchgehend geöffneten Fresspavillon Westberlins, empfand das aber doch unpassend und schüttelte den Kopf. Sybille führte mich darauf hin in ein italienisches Restaurant am Adenauerplatz, wo wir bis kurz nach Mitternacht auf ihre Kosten spachtelten, was die Karte hergab. Anschließend feierten wir unter ihrer blauen Bettdecke weiter.
Ich dachte also darüber nach, wie es mit Sybille anfing und endete. Eine gewisse innere Spannung konnte ich nicht leugnen, zumal einige Parallelen zu Isabelle offensichtlich waren. Ich fragte mich, wie die Geschichte mit Isabelle in den nächsten Wochen wohl weitergehen würde und zog eine erste Zwischenbilanz, obwohl eigentlich noch gar nichts zu bilanzieren war. Bezeichnenderweise umtrieb mich am meisten die Frage, wie ich das Ganze Franky und Cash beibringen sollte. Dieses Problem hatte ich, wie gesagt, nicht das erste Mal, eine Routine wollte sich allerdings nicht einstellen. Im Gegenteil, ich entwickelte Franky und Cash gegenüber Schuldgefühle. Es war wie nach einer Liebesnacht mit einer fremden Frau kurz vor der eigenen Silberhochzeit.
Die von der Morgensonne in ein rostiges Rot getauchten Bergzüge Kretas kamen immer näher. Auch die weißgetünchten Häuser nahmen Konturen an. Ein atemberaubendes Panorama, das ich niemals vergessen sollte.
»Weist du, wo die Busse nach Matala fahren?« fragte Cash den Typen, der neben ihm auf dem Deck der Fähre seinen Schlafsack zusammenrollte.
»Ihr wollt nach Matala? Soviel ich weiß, fahren die in Heraklion ab.«
»Das weiß ich auch. Ich meine, wie kommt man zum Busbahnhof?«
»Ihr solltet euch erst einmal erkundigen, wie ihr nach Heraklion kommt.«
»Sag mal, willst du uns verarschen, wir sind doch gleich da.«
»Wir sind gleich in Chania, nicht in Heraklion!«
Cash wurde merklich blass. »Was sagst du da? Chania?«.
»Ja, diese Fähre geht nach Chania. Ungefähr 100 km westlich von Heraklion.«
Cash blickte zu Franky, der zu mir und ich auf die Stahlplanken. Erklären konnte ich mir das nicht.
»Schöne Scheiße! «, maulte Cash. »Der Typ im Hafenoffice hat uns die falschen Tickets ausgestellt und uns die falsche Fähre gezeigt. Und jetzt?«
»Mich hat dieser Arsch sowieso genervt. Hat sich mit allen Dingen gleichzeitig beschäftigte «, schimpfte Franky und spuckte einen schleimigen Rotzer über die Reling, den er aus seinem tiefsten Inneren hervorgeholt hatte. »Der hatte doch nur seine schmierigen Drachmenscheine im Kopf, die ihm vor seinem Ventilator fast durch die ganze Bude geflattert wären.«
Das war wenigstens eine Erklärung.
»Und nun?«, fragte ich ratlos.
»Und? Alles klar?«, fragte der Typ, den Cash angesprochen hatte und schulterte seinen überdimensionalen Rucksack.
»Ne, natürlich nicht«, entgegnete Cash.
»Ich mach' euch einen Vorschlag, ist nur so'n Tipp: Fahrt nach Paleochora. Da brennt die Luft genauso wie in Matala. Ich schätze die sind hier alle auf dem Weg nach Paleochora.«
»Okay, dann geht es eben erst nach Paleochora«, entschied Franky und begann auch seinen Schlafsack einzurollen.
»Sag mal, hast du sie nicht alle, du Knallfrosch?«, maulte Cash ärgerlich. »Wir wollten nach Matala! Dann können wir auch gleich hier oben an der Küste bleiben.«
Dieser Vorschlag gefiel mir komischerweise sehr gut. In der Nähe von Rethimnon. Dieser Tipp schien mir etwas zu gewagt. Stattdessen sagte ich: »Lasst uns doch Paleochora mal ausprobieren und von dort nach Matala.«
»Sag ich doch, Alter, wir haben doch Zeit«, stimmte Franky mir zu, »und von hier nach Matala dauert es bestimmt einen ganzen Tag.«
Der Nescafè in der Frühstücksbar direkt neben dem Busbahnhof von Chania schmeckte wie das Abwaschwasser nach einem deftigen Grillabend. Wir dösten vor uns hin, während wir auf den Bus warteten. Ich war mit meinen Gedanken natürlich wieder in irgendeinem Vier-Sterne-Hotel in Rethimnon und meinen Gedanken entsprang ein Traum: Ich klopfe, einen überdimensionalen Strauß Schwertlilien in meiner schweißfeuchten Hand, an ihre Zimmertür. Schwertlilien waren meine absoluten Favoriten für besondere Anlässe, wozu allerdings auch Beerdigungen und goldene Hochzeiten zählten. Die Tür ihres Zimmers öffnet sich und Isabelle stand vor mir, ein weißes Hotelbadetuch vor der Brust verknotet, die Haare von der Nacht wild zerzaust. Leuchtende Augen, schmachtende Stimme. ‚Lukas, das ist ja eine Überraschung! Ich habe mich die ganze Nacht dir verzehrt. Endlich bist du da!’. Ich schlängele mich durch die Tür, werfe den Blumenstrauß auf das leinenbezogene Bett und umschlinge sie mit meinen Affenarmen. Das Handtuch löst sich von ihrem Körper und gleitet zu Boden. Ich reiße mein Hemd auf und schiebe sie sanft zum Bett. Meine Stimmung kumulierte. Plötzlich ein Riss. Ein zweites Szenario bahnte sich den Weg durch mein Gehirn. Die Vorgeschichte, ich mit den Schwertlilien an der Tür, war dieselbe, ging jedoch anders weiter: Ein braungebrannter Typ mit schulterlangem, schwarzen Haaren und Seehundbart, über 2 Meter groß und fast annähernd so breit, das weiße Hotelbadetuch über den Hüften verknotet, zieht die Tür sperrangelweit auf und rotzt mir mit funkelnden Augen entgegen: ‚Was willst du denn hier, du Arsch? Verpiss dich!’ Er reißt mir meine Schwertlilien aus der Hand, zerlegt den Strauss mit drei Kreuzhieben auf meinem Kopf und hämmert die Hoteltür zu, so dass kurz darauf überall im Flur die Türen aufgehen und verschlafene und verständnislose Blick an mir auf- und abgleiten.
»Hey Lukas, denkst du an die Schnalle aus dem Flugzeug?«
Ich zuckte zusammen. Franky sah mich etwas mitleidig an. Seine Stimme traf mich unvorbereitet.
»Wie kommst du denn darauf?« Ich merkte selbst, dass meine Antwort nicht überzeugend klang.
»Ich weiß nicht, war nur so eine Frage. Wir können gerne mal vorbeifahren. Die beiden wohnen doch irgendwo in der Nähe, oder?« Ich zuckte ein zweites Mal zusammen. Franky's gut gemeinter Vorschlag war die dritte Version meines Traums. Würde ich mit Franky und Cash an ihrer Tür auftauchen, könnte die Geschichte genauso enden wie Version zwei: die Tür würde wieder ins Schloss fliegen.