Читать книгу Einmal und Zurück - Ulrich Paul Wenzel - Страница 6
4
ОглавлениеSchleicher war eine Institution. Der Stanglwirt der Subkultur im Herzen von Paleochora. Sein Name war Programm. Die Biere kamen wesentlich langsamer und waren wärmer als in jeder anderen Taverne, aber wenn man dazu gehören wollte, war Schleichers Taverne ein ‚muss’. Und wir gehörten natürlich dazu, nach unserem eigenen Selbstverständnis waren wir hier gar nicht mehr wegzudenken, obwohl wir erst vor einer Stunde angekommen waren. Jetzt, am frühen Nachmittag waren nur wenige Leute bei Schleicher, die meisten hingen bei einem Bier ab oder spielten Backgammon.
»Ich finde, wir sollten am Strand pennen«, sagte Franky und beleckte den Klebestreifen seiner gedrehten, völlig missratenen Zigarette an, »da sparen wir mindestens… Wie teuer ist hier eigentlich ein Zimmer?«
»Weiß ich auch nicht so genau«, sagte ich, »Arni hatte mir etwas von umgerechnet 10 bis 12 Mark die Nacht gesagt. Ich bin übrigens für ein Zimmer, wenn du mich fragst.«
»Ich habe dich ja nicht gefragt, wofür du bist, sonders was es kostet.«
»Ich bin auch für ein Zimmer, ist doch günstig«, mischte sich Cash ein.
»Denk doch nicht immer nur an das Geld. Am Strand ist es viel geiler. Unter freiem Himmel einschlafen, von der Sonne geweckt werden. Wie auf der Fähre. Das wäre doch scharf.«
»Und die Scheißhäuser auch wie auf der Fähre, was Franky? Ich brauche morgens jedenfalls ein sauberes Klo und eine Dusche.«
Franky konnte sich problemlos auf alles einstellen, das wusste ich, selbst auf chinesische Latrinen-Verhältnisse, wo sie alle ohne Abtrennungen nebeneinandersitzen, in Löcher zielen und sich dabei über die Vielfältigkeit der chinesischen Küche unterhalten.
»Jeden Morgen eine Dusche. Was bist du denn für eine Mimose? Du springst einmal ins Meer und dann bist du frisch.«
»Und wo soll ich scheißen?« Cash wurde sichtlich nervös. »Vielleicht gleich auch ins Meer?«
»Man, in der Taverne beim Frühstück, Alter. Irgendwie geht ihr mir fürchterlich auf den Sack mit eurer Scheißerei«, bellte Franky, schüttelte den Kopf und starrte seine verrunzelte Zigarette an. Für einen Augenblick schwiegen wir. Überall um uns herum Stimmen und das Geklapper von Würfeln und Backgammon-Steinen. Backgammon wurde hier nicht gespielt, Backgammon wurde zelebriert. Von Strategen und Großmeistern, wenn ich die wichtigen Gesichter über den zerfallenen Holzkästen und den abgewetzten Plastiksteinen um mich herum richtig deutete.
»Okay«, sagte ich, mir war die Schweigeminute unangenehm, »wir suchen uns einen Platz am Strand. Vielleicht geht’s ja. Was sagst du, Cash?« Cash brauchte nichts zu sagen, sein Blick sagte alles.
»Nur erst einmal auf Probe«, legte ich nach, »morgen sehen wir weiter, okay?«
Franky wandte sich an den Nachbartisch, wo ein Typ seiner Spielpartnerin gerade zwei matt polierte grüne Plastiksteine aus dem Kasten herausgekegelt hatte. »Gibt es hier eine Bank, Alter?«
»Hier? Soweit ich weiß, nicht«, brummte der Typ ohne aufzuschauen.
»Wie, ich kann in diesem Scheißkaff kein Geld umtauschen?«
»Nicht offiziell jedenfalls. Hier bei Schleicher und vorne am Strand bei Jorgos kriegst du was, aber einen schlechten Kurs machen die und keine Euroschecks.« Sein nächster Wurf hatte ihn noch ein Stück weitergebracht. Er räumte jedenfalls den nächsten Stein seiner Spielpartnerin aus dem Weg. Sie ertrug es gelassen.
»Und wenn ich Euroschecks eintauschen will?«
»Dann musst du nach Chania.«
Wir befingerten fast gleichzeitig unsere Brustbeutel aus Ziegenleder.
»Dann muss ich morgen wieder nach Chania«, maulte Franky. »Ist das eine Scheiße!«
Zum großen Badestrand auf der westlichen Seite der Landzunge war es nicht weit. Wir brauchten gut zehn Minuten. Eine malerische Bucht, wenn man nicht den Anspruch erhob, etwas ganz Besonderes malen zu wollen. Hinter der angrenzenden und mit Pinien gesäumten Straße, einem Lehmacker, gab es zwei Tavernen, die von weiten aussahen, wie Western-Saloons. Der Strand war jedenfalls gut bevölkert. Franky steuerte zielgenau zwei in der Sonne liegende Frauen an, die außer einer Sonnenbrille nichts an ihren Körpern trugen. Sie lagen auf ihren bunten Handtüchern mit aufgedruckten Hawaiipalmen und ließen sich in Kokosnussöl frittieren.
»Der Platz ist gut, oder?«, fragte Franky abschätzend und blickte uns abwechselnd an. So wie er dastand, erinnerte er mich an ein Gemälde von Heinrich Schliemann, der gerade die ersten Umrisse eines bedeutenden Fundes begutachtete. Die beiden Frauen zeigten nicht das geringste Interesse an uns und brieten weiter.
»Man, hier verbrennst du dir ja den Arsch!«, rief Cash und federte aus dem Sand hoch, auf den er sich gerade niedergelassen hatte. »Ohne Handtuch geht gar nichts!« Ich kramte mein weinrotes Badehandtuch aus dem Rucksack, Sibylles originelles Geschenk zum 25. Geburtstag.
»Acht Punkte«, raunte Franky, der Cashs Problem ignorierte. Cash und ich blickten gleichzeitig zu den beiden Frauen. Cash nickte abwägend, ich sagte gar nichts, sondern ließ meinen Blick erst einmal über den Strand gleiten, der sich einige hundert Meter hinzog. Sonnenschirme oder Liegen, wie ich sie von Bildern aus Reisekatalogen kannte, gab es hier nicht. Auch keine Strandbar. Dafür entdeckte ich eine rostige, schief stehende Brause.
Eine der beiden Frauen hatte sich jetzt aufgerichtet, blinzelte kurz zu uns rüber und fingerte sich routiniert mit einer Hand eine Zigarette aus der neben ihr liegenden Schachtel.
»Ihr seid schon länger hier unten, nicht?«, fragte Franky und ging vor ihr in die Hocke.
»Eine Woche, wie kommst du darauf?«, fragte die Frau, nachdem sie ihre Zigarette angezündet hatte und gerade mit spitzem Mund den ersten Rauch ausblies.
»Ihr habt schon ordentlich Farbe bekommen, im Gesicht«, sagte Franky und sah zu uns hoch und schien unseren Applaus für seine dämliche Anmache zu erwarten. Das Mädel überging seine Anspielung. »Und ihr seit heute angekommen, oder?«
Franky rückte näher an sie heran. »Vor einer guten Stunde.« Sie nickte abwesend. Wirklich zu interessieren schien sie das nicht.
»Und wo kommt ihr her?«, fragte Franky.
»Aus Köln.« Die zweite Frau hob in diesem Moment den Kopf, schob ihre Sonnenbrille, die sie im Haar stecken hatte, vor die Augen und schaute wortlos zu uns rüber, blieb aber liegen.
»Ah, Köln ist geil. Köln hat eine irre Szene«, sagte Franky mit dem Blick eines Kenners und nickte. Cash und ich schauten uns nachdenklich an.
»Ja, das stimmt. Die Südstadt", sagte sie. »Du kennst also Köln?«
»War irgendwann mal dort.«
Dass Franky jemals in Köln war, hörte ich zum ersten Mal, wahrscheinlich ist es eines seiner kleinen Geheimnisse. »Ich gehe mal zum Wasser«, sagte ich und stand auf. Franky fing an zu baggern, das war mit zu blöde.
Als ich zurückkam, waren die beiden Kölnerinnen verschwunden. Franky hatte wahrscheinlich wieder einmal die Nummer des Unwiderstehlichen gespielt und ein wenig überzogen. Zumindest hatte er die wichtigsten Informationen über Paleochora. Gute Schlafplätze gab es in den Dünen. Der Hauttreffpunkt am Abend war die Taverne von Schleicher, was ich schon ahnte. Es gab zwei Diskotheken, eine am Strand und eine auf der östlichen Seite an den Klippen. Am besten Frühstücken konnte man bei Jorgos in der Hauptstraße von Paleochora und ansonsten gab es noch ein paar weitere gute Tavernen. Der Bus fuhr dreimal täglich nach Chania, um 9:00, um 13:30 und um 17:00 und die beiden Frauen aus Köln hießen Jeanette und Nora und hatten ein Zimmer in der Nähe des Strandes.
Am Abend saßen wir in einer Taverne am Hafen. Ich hatte Calamari bestellt. Als Franky etwas von frittierten Schließmuskeln erzählte, wollte ich sie stehen lassen. Auch Cash hatte etwas typisch Griechisches auf dem Teller. Seine Souflaki waren ein wenig angekohlt, während Franky's Spagetti mit Bolognese ein absoluter Langweiler waren. Nachdem der Sohn des Kellners uns den Wein mit drei einfachen Wassergläsern gebracht hatte und wir zum ersten Mal richtig auf unseren Urlaub angestoßen hatten, wäre unsere mehrjährige Freundschaft fast schlagartig beendet gewesen. Franky kotzte den ersten Schluck des Weines direkt neben meinen Stuhl und Cash griff sich entsetzt an die Kehle. Auch mir wurde schwindlig. Ich starrte in mein Glas, auf der Zunge den Geschmack von Terpentinöl und Baumrinde.
»Was ist das denn für ein Zeug?« schrie Franky, »willst du mich umbringen?«
»Da kann ich doch nichts für«, kläffte ich zurück und griff mir mit einem Schwung die Flasche. Dummerweise war ich es, der die beiden überredet, zum Essen einen Wein zu bestellen.
»Der ist wirklich zum Kotzen.« Cash hatte sichtliche Atembeschwerden.
»Das ist ein Retzina«, röchelte ich, ebenfalls noch leicht benommen von dem Schluck. »Von dem steht etwas in deinem Reiseführer. Das soll einer der bekanntesten griechischen Weine sein.«
»Im meinem Reiseführer? Den schmeiß ich weg!« Cash atmete schwer durch. »Mit diesem Fusel kannst du die Bremsen am Fahrrad gängig machen.«
»So, jeder entscheidet ab jetzt nur noch für sich selber, was die Getränke angeht«, maulte Franky mit mürrischem Blick, »und was mich angeht, ich sauf' hier nur noch Bier.«
Die Flasche hat einen Haufen Drachmen gekostet, überlegte ich während ich noch einmal vorsichtig an meinem Glas nippte, den kann ich nicht einfach stehen lassen. Und ich war überrascht, der zweite Schluck schmeckte schon wesentlich besser. Es war genauso wie mit meinem ersten Bier. Ich war zehn Jahre alt und mit meinen Eltern auf der Hochzeit meiner Tante in Cuxhaven. Mein Vater, selbst schon ordentlich die Lampe an, stellte mir unter dem halbherzigen Protest meiner Mutter ein Bier hin. Mein erstes Jever in der Flasche. Der erste Schluck flog umgehend wieder aus meinem Rachen und landete bei meinem neben mir sitzenden Onkel auf der Hose. Der schien das gar nicht bemerkt zu haben, denn er schlug sich, begeisterte von meiner Vorstellung, mit der flachen Hand mehrmals auf seinen nassen Oberschenkel. Ich war kurz darauf auf den Geschmack gekommen, leerte die Flasche Zug um Zug und wurde ein bekennender Anhänger des Jever-Pilsener.
Gegen zehn Uhr brachen wir in Richtung Diskothek auf. Auf Vorschlag von Franky für die über den Klippen. Angeblich sollte es ein Fußmarsch von zehn Minuten sein. Nach zwanzig Minuten ging ich davon aus, dass wir uns verlaufen hatten. Wir wollten gerade den Rückweg antreten, als wir in der Ferne Gitarrenriffs wahrnahmen. Erleichtert zogen wir weiter. Zwei Ziegen, deren Konturen sich scharf gegen das helle Mondlicht abzeichneten, schienen sich weder für die jetzt immer näherkommende Musik, Peter Framtons Do You Feel Like We Do, noch für uns zu interessieren. Sie knabberten ungestört an trocknen Distelbüschen herum.
Die Diskothek lag direkt über dem tiefschwarzen Meer, auf dem sich das Licht des Vollmondes spiegelte. Trotz der überdimensionalen, dröhnenden Lautsprecherboxen hatte ich in diesem Moment eine Vorstellung von einer romantischen Sommernacht bei Vollmond am Mittelmeer, von der mir Sybille einige Male vorgeschwärmt hatte. Sie hätte diesen Ort, der mir immer sympathischer wurde, wahrscheinlich genauso als atmosphärischen Offenbarungseid bezeichnet, wie seinerzeit den Dschungel. Dort mit ihr aufzukreuzen war einer meiner schwersten Fehler während unserer Beziehung. Ich musste ihr das die anschließende halbe Nacht lang über erklären.
Franky und Cash waren losgezogen, um Bier zu holen. Während aus den Lautsprecherboxen Faith Healer der Alex Harvey Band dröhnte, versuchte ich mich zu orientieren. Alles was jung war schien sich hier versammelt zu haben. Zwischen den Bäumen hingen bunte Glühlampen Die große Tanzfläche war rappelvoll. Mein Blick ging zur Bar und blieb bei zwei Frauen hängen, die ich schon einmal gesehen hatte: Jeanette und Nora, die Kölnerinnen vom Strand. Sie standen in ihren knallengen Jeans am Ende und nippten an ihren Weingläsern. Jeanette, es war diejenige, die sich mit Franky am Strand unterhielt, trug ein weißes T-Shirt, unter dem sich ihre hübschen Titten deutlich abzeichneten, während Nora eine rote Bluse anhatte. Ich ging davon aus, dass sie jemanden zum Vögeln suchten. Warum waren sie sonst hier? Umgehend stellte ich für mich fest, dass ich nicht in Frage kam, denn ich fühlte mich schon an Isabelle vergeben. Mein zweiter Gedanke war, dass dies nicht unbedingt ein Ausschlusskriterium sein musste. Im Gegenteil, Isabelle tanzte wahrscheinlich gerade jetzt, wo ich über sie nachdachte, in einer noblen Disko in Rethimnon mit verspiegelter Decke und Flashlight, ließ sich anschließend in ihrem Hotelzimmer von dem schwarzhaarigen Griechen aus meinem Traum das Feld bestellen und verschwendete nicht den Furz eines Gedanken an mich.
»Hast du gesehen, die beiden Kölnerinnen vom Strand sind auch da«, sagte Cash plötzlich neben mir und reichte mir eine Flasche Fix, die griechische Braukunst.
»Ja, hatte sie auch gerade entdeckt. Die mussten ja hier sein, von denen hatte Franky den Tipp.«
»Lasst uns mal hingehen.«
Wir zogen an der Tanzfläche vorbei, auf der alle ihre Matten kräftig schüttelten. Einige Typen spielten wilde Riffs auf Luftgitarren. Wenn man das Ganze mit etwas Abstand betrachtete, käme man leicht auf den Gedanken, einem entrückten Schauspiel der neueren Art beizuwohnen.
Jeanette und Nora unterhielten sich gerade miteinander, als wir zu ihnen stießen. Zum ersten Mal sah ich Noras Gesicht, nachdem sie mir am Strand nur ihren öligen Rücken zugewandt hatte. Spontan zog ich meine acht Punkte wieder zurück und gab sechseinhalb, was immer noch obere Mittelklasse darstellte. Ihr Gesicht hielt leider nicht das, was ihr ausgesprochen wohlgeformter Arsch am Strand versprochen. Nora hatte kürzere Haare, langweiliges Mittelblond, und ein fliehendes Kinn. Ihre etwas zu eng zusammen liegenden kleinen Augen erinnerten mich ein wenig an einen Hamster. Jeanette hielt ihre acht Punkte locker. Die wenigen Sommersprossen, die sich unterhalb ihrer blaugrauen Augen gleichmäßig verteilten, verliehen ihrem ovalen Gesicht einen Schwung Fröhlichkeit. Nachdenklich stellte ich fest, dass mir am Strand gar nicht ihr hübsches Gesicht aufgefallen war.
»Hi«, sagte Franky, »ihr seid ja auch hier. Ist wirklich ein geiler Laden!«
»Darum sind wir ja hier«, sagte Jeanette und schnippte mit dem Fingernagel an ihr Weinglas.
»Was trinkt ihr da, Retzina?« fragte Franky und grinste. Es sollte ein Witz sein.
»Ja«, sagte Jeanette, »Retzina. Wir trinken nur Retzina, stimmt’s Nora? Möchtest du mal probieren?« Sie hielt Franky das Glas hin.
»Ne, lass mal stecken, ich bleibe bei Bier«, sagte Franky und wich zurück, »aber du kannst Lukas mal fragen, der steht auch auf Retzina.« Franky lachte, drehte sich zu mir um und tätschelte mir die Wange. Irgendwie schon toll, wie er mich ins Spiel gebracht hatte. Ich nickte nur und zog die Augenbrauen hoch.
»Habt ihr eigentlich eure Schlafplätze gefunden«, fragte Nora mit einer weichen dunklen Stimme. Ihre Stimme hörte sich gut an, dachte ich und überlegte, doch noch einen halben Punkt draufzulegen. Natürlich passte ihre Stimme überhaupt nicht zu ihrem Gesicht. Ich hatte mehr eine Fistelstimme oder ein Krächzen erwartet. Ich rechnete noch mal nach: Arsch und Stimme acht Punkte, Gesicht fünfeinhalb, machte im Schnitt sechseinhalb Punkte. Cash schien gerade auch noch einmal die Punktzahl durchzugehen.
»Wir ratzen am Strand«, sagte Franky voller Stolz. Ich machte mir in diesem Moment Gedanken darüber, ob wir wirklich zum Schlafen kommen würden, denn neben uns hatten sich vier Engländer niedergelassen. Sie becherten schon am Nachmittag, was das Zeug hielt und waren noch gut im Geschäft, als wir unseren Schlafplatz verließen.
»Wisst ihr eigentlich die Bundesligaergebnisse von heute?«, fragte ich Jeanette und Nora. Irgendwie musste ich mich ja in das Gespräch einbringen, warum nicht mit Fußball. Schnell wurde mir klar, dass es der falsche Einstieg war. Ihren Blicken nach zu urteilen hätte ich auch fragen können, wo sich die nächste Tankstelle befindet. Auch Cash sah mich belämmert an, während Franky wahrscheinlich ebenso gerne die Antwort gewusst hätte, aber souverän und gönnerhaft lächelte.
»Wir interessieren uns für alles Mögliche, aber bestimmt nicht für Fußball«, sagte Jeanette.
»Aber ich denke ihr kommt aus Köln? In Köln soll sich jeder Zweite für Fußball interessieren«, stellte Franky fest.
»Wir aber nicht. Wir stehen auch nicht auf Karneval, falls das deine nächste Frage ist.«
»Karneval ist doch bescheuert. Spießiger Ringelpietz. Aber mal ehrlich, was habt ihr denn gegen Fußball? Schließlich ist der 1. FC Köln schon einige Male Deutscher Meister geworden.« Franky ließ nicht locker.
»Fußball ist genauso bescheuert wie Karneval. 22 Spieler laufen einem Ball hinterher«, sagte Nora und fing an zu lachen. Natürlich, die alte Formel der Anti-Fußball-Fraktion.
»Na ja, ganz so einfach ist das nicht«, mischte ich mich ein. »Fußball ist mehr, als nur einem Ball hinterher zu rennen.«
»Ich weiß, zum Fußball gehören Taktik und Ballgefühl und so'n Scheiß«, sagte Jeanette.
»Woher weißt du das denn, wenn ihr euch gar nicht für Fußball interessiert?« fragte Franky interessiert. Die gleiche Frage wollte ich auch stellen, kam aber um Sekundenbruchteile zu spät.
»Weiß ich von meinem Freund. Der versucht jedes Wochenende mit mir über Fußball zu diskutieren.«
»Und wo ist dein Freund?« Franky begann ein Kreuzverhör.
»In Köln.«
»Versteh ich nicht. Ich meine, warum bist du ohne den hier?«
»Es gibt ein paar Gründe, ohne ihn hier zu sein. Du bist sehr neugierig.«
»Das stimmt«, sagte Franky, »Neugierde ist eine meiner ganz wenigen Schwächen.«
»Ist dein Freund auch in Köln geblieben?«, fragte Cash und schaute zu Nora rüber. Cash hatte bisher noch gar nichts gesagt. Dass er sich gleich nach Noras Freund erkundigte, schien mir verdächtig.
»Ich habe augenblicklich keinen Freund«, sagte Nora.
»Dann verstehst du wirklich nichts von Fußball, oder?«, sagte Cash.
»Nicht die Bohne.« Nora verdrehte ihre kleinen Augen. Das sah schon wieder gut aus. Ich schaute zum Tresen, hinter dem zwei blonde Frauen und ein Typ hektisch mit Gläsern jonglierten. Alles in deutscher, holländischer oder englischer Hand, vermutete ich. Aus den leidgeprüften Boxen dröhnte Hellbound Train von Savoy Brown. Es war einer meiner absoluten Lieblingsrocksongs noch aus der Zeit, als ich in Berlin eintraf. Ich verabschiedete mich zur Tanzfläche.
Als ich zurückkam, hatte Franky bei Jeanette angedockt und Cash bemühte sich intensiv um Nora, schien allerdings nicht richtig voranzukommen. Das sollte sich zum Leidwesen Cashs den ganzen Abend nicht ändern.
Der Rückweg zum Strand dauerte annähernd doppelt so lange wie der Hinweg. Wir waren richtig dicht. Cash stolperte in Höhe der Ziegenweide und schlug lang hin, was die beiden Ziegen, die sich mittlerweile ein gemütliches Plätzchen besorgt hatte, hochschrecken ließ. Ich bemerkte irgendwann, dass ich im Zickzack lief, während Franky auch nicht mehr den aufrechten Gang draufhatte. Nur die beiden Kölnerinnen schienen noch halbwegs bei Bewusstsein. Als wir unsere Schlafplätze erreichten, tagten die Engländer immer noch. Ich hatte es befürchtet. Meinem Eindruck zufolge waren sie um einiges dichter als wir. Sie fläzten in einer Halde aus leeren Bierflaschen um ein spärlich glimmendes Feuer herum und diskutierten lautstark über Fußball. Das ich von denen die Bundesligaergebnisse erfahren könnte, war aber eher unwahrscheinlich.
Franky hatte es tatsächlich geschafft, Jeanette mit zum Strand zu locken, während Nora sich vorher von uns verabschiedet hatte und in einem kleinen Durchgang verschwunden war. Aus meiner Sicht hatte Cash bei ihr noch einen langen Weg vor sich. Aber es war ja noch Zeit genug.
Meine Vermutung war richtig, an Schlafen war eine ganze Zeit lang nicht zu denken. Die Engländer feierten, was das Zeug hielt. Ich lag auf dem Rücken in meinem Schlafsack und versuchte die Sterne zu zählen. Irgendwann in der Nacht ging den Engländern die Luft oder das Bier oder beides aus. Ich atmete durch und genoss das Rauschen des Meeres. Die Stille hielt nur kurze Zeit. Jeanette, in Frankys Schlafsack, fing an zu stöhnen. Scheiße noch mal, dachte ich, die Engländer geben Ruhe und die beiden neben mir fangen an zu vögeln. Vorsichtig richtete ich mich auf und blickte mich prophylaktisch nach einem ruhigeren Schlafplatz um. Es war stockdunkel. Frustriert ließ ich den Kopf wieder sinken. Jeanette wurde immer schriller, sie hörte sich wie ein schlecht geölter Handwagen an. Zwischendurch hörte ich immer wieder Franky grunzen. Ich nahm das Sternezählen wieder auf, musste jedoch bei 47 aufhören, weil ich bei dem Lärm neben mir immer wieder verzählte. Wahrscheinlich wurden auch die Engländer von Frankys Nummer geweckt. Sie fingen erneut an zu diskutieren. Meine Englischkenntnisse waren eigentlich ganz passabel, aber ich verstand kein Wort. Waren das wirklich Engländer? Britisch klang das aber vielleicht waren es auch Schotten oder Iren. Ich hatte irgendwo einmal gehört, Schotten mögen uns Deutsche unter anderem deswegen, weil wir ein ähnliches Englisch sprechen wie sie selbst.
Jeanette stöhnte und japste unaufhörlich in kurzen, fast regelmäßigen Abständen und begann auf einmal zu quieken. Die Engländer, wenn es tatsächlich welche waren, hielten inne und schienen sich jetzt über Franky und insbesondere über Jeanette zu amüsieren. Von Cash hörte ich nichts. Musste der einen Schlaf haben. Wenn Cash allerdings demnächst auch noch Nora mitbringt, überlegte ich, halte ich es hier nicht mehr aus.