Читать книгу Einmal und Zurück - Ulrich Paul Wenzel - Страница 7

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Aus einschlägigen Erfahrungen waren mir die Schattenseiten ausufernder Saufabende in allen Facetten bekannt, insbesondere der jeweilige Morgen danach. Der kurz vor der Explosion stehende Schädel, die muffige Trockenheit im Hals mit einem Pelz auf dem Gaumen, der Würgegriff der Müdigkeit und das ständige Gefühl, jederzeit einen Strahl in die Gegend kotzen zu müssen. Dass sich fast all diese Symptome pünktlich am nächsten Morgen bei mir einstellten, überraschte mich demnach kaum. Lediglich die mir bekannte Neigung, schon beim etwas intensiveren Luftholen kotzen zu müssen, schien diesmal nicht so ausgeprägt zu sein. Schon das verbuchte ich als großen Erfolg. Dafür hatte ich Sand im Mund, als ich von der schon erstaunlich intensiven Sonne, es war gerade einmal acht Uhr, geweckt wurde. Ich schwitzte in meinem Schlafsack wie in einer finnischen Sauna. Cash war verschwunden, während Franky sägte wie was das Zeug hielt. Allerdings war von Jeanette nicht zu sehen. Wenn sie nicht irgendwo weiter unten in Frankys Schlafsack lag, was ich aufgrund der dort herrschenden Luftbewegungen eher weniger vermutete, war sie in ihr Zimmer zurückgekehrt. Ein Blick zu den Engländern trieb mir das blanke Entsetzen ins Gesicht. Sie lagen schnarchend auf dem Rücken, in nahezu derselben Anordnung, in der sie gestern Nacht zusammengesessen hatten. Einer hielt noch eine Dose Heineken umklammert. Erstmals wurde das wahre Ausmaß ihres Gelages sichtbar. Ein Meer leerer Bierdosen, Flaschen und Zigarettenkippen. Nach meinen vorsichtigen Schätzungen werden sie einen Normalzustand frühestens in drei Tagen erreicht haben.


Wir saßen um halb neun in der kleinen Frühstückstaverne von Jorgos. Hier sollte es nach Jeanettes Worten das beste Frühstück von Paleochora geben. An diesem Morgen, um diese Zeit und in unserem Zustand war es natürlich Perlen vor die Säue. Außer einem Pärchen, das scheinbar auch nicht so rechte wusste, warum es um diese Zeit beim Frühstück herumhockte, waren wir die einzigen. Ich hatte mir nur ein paar Scheiben Brot und einen Nescafè bestellt, Cash einen Nescafè und ein gekochtes Ei und Franky außer Nescafè und einem riesigen Frühstück noch einen griechischen Joghurt, der in etwa dieselbe Farbe hatte, wie sein Gesicht.

»Man, hatte ich gestern die Lampe an«, sagte Cash und klopfte mit dem Messer auf seinem hart gekochten Ei herum, als wolle er es weich schlagen.

»Kein Wunder, es waren ja auch einige Biere und dieser Retzina-Fusel«, sagte Franky. Bei dem Wort Biere glaubte ich umgehend meinen Magen zu spüren.

»Ich trinke heute keinen Tropfen Alkohol«, sagte ich und legte meine Scheibe Brot mit Honig zurück auf den Teller.

»Hör mal, du darfst das nicht so eng sehen«, sagte Franky, »heute Mittag geht es dir wieder richtig gut.« Er schien sein Frühstück als einziger von uns dreien richtiggehend zu genießen.

»Ich weiß gar nicht, ob ich die Busfahrt nach Chania überstehe«, meinte Cash gequält. »Musst du wirklich schon Kohle holen, Franky?« Ich hatte denselben Gedanken, blieb aber stumm, weil ich Angst hatte, dass mir die Calamari von gestern Abend hochkommen könnte.

»Was ist denn los?«, fragte Franky. »Ich kann doch nicht wissen, dass es in diesem Kaff nichts gibt.« Ein Grinsen entfaltete sich in seinem Gesicht. »Gut, dass ich nicht so aussehe, wie ihr beiden. Macht mal 'ne Frau klar und legt ein paar Nummern hin, das baut den Alkohol ab.« Komischerweise hatte ich wieder denselben Gedanken, sagte aber auch diesmal nichts.

»Was ist übrigens mit dieser Freundin von Jeanette, Cash?«, setzte Franky nach und lehnte sich genüsslich zurück. »Du warst doch schon gut vorangekommen.«

»Sie wollte nicht mit zum Strand, war müde oder so. Ich bleib da am Ball.«

Cashs Ei sah mit der zertrümmerten Schale aus, als wenn es ein paar Runden in einer Waschmaschine im Schleudergang mitgedreht hätte.

»Wie viel Punkte? Sechseinhalb?« fragte ich beiläufig.

»Wer Nora?«, fragte Cash. »Ja, kommt ungefähr hin. Hat aber schöne Titten.« Darum ja sechseinhalb und nicht viereinhalb, dachte ich süffisant.

»Jeanette liegt jedenfalls bei achteinhalb«, stellte Franky selbstherrlich fest, »und die B-Note liegt noch etwas höher.«

»Was für eine B-Note?«, fragte ich. Auch Cashs Hals wurde länger.

»Die B-Note ist die künstlerische Note. Hab' ich mir gerade überlegt.«

»Eine Note fürs Vögeln?« fragte ich. »Was ist das denn für'n Quatsch.«

»Finde ich auch bescheuert«, sagte Cash während er die winzigen Schalenstücke von seinem Ei pulte.

»Ist auch egal«, grunzte Franky und trank seinen Kaffee aus, »sie war jedenfalls nicht schlecht.«

»Du solltest Jeanette mal sagen, sie soll nicht so quietschen, ich habe heute Nacht kaum ein Auge zugetan«, sagte ich.

»Das soll ich ihr sagen?« fragte Franky. »Hast du'n Rad ab, Alter? Da kann ich mit der im Schlafsack gleich Würfeln.«

»Zum Glück war ich so zu, dass ich nichts mitgekriegt habe«, sagte Cash grinsend, sein Ei soeben vom letzten Schalenstück befreit. » Aber erzähl' doch mal. Lukas.«

»Für die Tommies nebenan war das 'ne schöne Lachnummer«, sagte ich.

»Wenn Cash nichts mitbekommen hat, dann die schon gar nicht«, sagte Franky. »Die befinden sich doch immer noch im Koma. Außerdem interessieren die mich nicht. « Franky schaute gelangweilt aus dem Fenster. »Lasst uns mal zahlen, ich glaube der Bus fährt bald.«


»Sag' mal, wieso hast du eigentlich deinen Schlafsack mitgenommen?«, fragte Cash, nachdem wir die Bank mit Bündeln abgewetzter Drachmenscheine verlassen hatten und auf dem Weg zu einer Taverne waren. Franky glotzte mich ebenso fragend an. »Ja Lukas, das ist mir gar nicht aufgefallen. Willst du dein Geld dort einrollen?« Franky konnte sich das Feixen nicht verkneifen.

»Nein, ich werde heute nicht mit zurück nach Pale fahren.«

»Wieso das denn, Lukas? Eine Nacht in Chania?«, fragte Cash. »Ist das Nachtleben hier angesagt?«

»Hier gibt es bestimmt 'nen Puff«, sagte Franky und fing laut an zu wiehern. »Die Mädels machen das aber nicht im Schlafsack, Alter.«

»Ich fahre nach Rethimnon, Isabelle besuchen.«

Franky und Cash blieben ruckartig stehen, ich ging ganz langsam weiter.

»Was soll das denn?« rief Franky mir hinterher, »sollen wir alleine zurückfahren?«

»Lass ihn doch die Schnalle besuchen, Franky«, sagte Cash, »wir kommen auch alleine klar.«

»Und wann gedachtest du nach Pale zurückzukommen, Lukas?«

»Morgen Abend? Spätestens übermorgen. Tut mir bitte den gefallen und passt auf meinen Rucksack auf, ja.«

»Okay, Alter, geht klar. Dann hau' mal rein. Wir sind unten, wenn du uns brauchst.« Franky haute mir auf die Schulter.

»Und mach was draus«, sagte Dash grinsend.

Ich nickte lächelnd und ging zurück zum Busbahnhof, wo wir vor einer halben Stunde angekommen waren. Franky und Cash verschwanden in der alten Markthalle.


Das Aegean Sun war ein vierstöckiges Hotel und wurde nur durch eine schmale, ruhige Straße vom Strand getrennt. Es war ein unförmiger, architektonisch langweiliger Kasten und ähnelte den meistens Hotels, an denen ich auf der Fahrt vorbeikam. Ich ging durch die Eingangstür hinein und blieb mit meinem Schlafsack mitten im Foyer stehen. Wo will ich eigentlich hin, fragte ich mich und gleichzeitig fuhr mir ein gehöriger Schreck in die Glieder, denn ich kannte ja noch nicht mal Isabelles Nachnamen. Die kleine Griechin hinter der kackbraun getäfelten Rezeption musterte mich forschend. Noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte ich mich wieder umgedreht und das Hotel verlassen. Mir wurde in diesem Moment klar, wie schecht meine Aktion vorbereitet war. Cash hätte das ganz anders aufgezogen. Aber was hätte ich machen sollen? Ich beschloss, zum Strand zu gehen und erst einmal nachzudenken.

Der Strand war wesentlich schmaler als in Pale, aber doppelt so voll und mit Schirmen bestückt. Meine Zuversicht, Isabelle hier zu treffen war von einer Sekunde zur anderen verflogen. Ich kehrte zum Hotel zurück und setzte mich mit einer Dose Amstel, die ich mir am Kiosk gegenüber gekauft hatte, neben der Eingangstür in die Sonne. Kurz darauf schlief ich ein und träumte von einem Segelschiff mit lila Segeln, das vor der Küste auf und ab segelte und auf dem Piraten mit schwarzen Kopftüchern und Augenklappen herumturnten. Sie kamen immer näher an den Strand und schossen aus Kanonen. Panik brach unter den Menschen. Schreiend flüchteten sie…

»Na das ist ja eine Überraschung«, weckte mich eine Stimme aus dem Off, die irgendwie nicht in die Szenerie passte. »Lukas, hast du es wirklich wahr gemacht?« Das Segelschiff und die Piraten mit ihren Kopftüchern waren plötzlich verschwunden. Ich öffnete die Augen und blinzelte in das strahlende Gesicht von Isabelle. Sie hatte ihre blonden Haare am Hinterkopf zu einem wilden Knoten zusammengesteckt. In ihrem grasgrünen, figurbetonten Strandkleid sah sie richtig knackig aus. Ich entdeckte zum ersten Mal ein paar vereinzelte Sommersprossen auf ihrer Nase. Sie musste von Strand gekommenen sein, denn sie hatte eine große schwarze Stofftasche umgehängt, aus der ein lilafarbenes Badetuch herausguckte. Wie die Segel des Schiffes. War das eine Vorahnung? Meine rechte Hand umklammerte noch die Bierdose, die ich, um sie nicht zu sehr der Sonne auszusetzen, in meinem Schlafsack deponiert hatte. Sie war mir in diesem Moment ausgesprochen peinlich.

»Ich bin zufällig hier vorbeigekommen«, sagte ich.

»Du bist zufällig hier vorbeigekommen?«, fragte Isabelle und hätte fast angefangen zu lachen. »Dann wolltest du gar nicht zu mir?«

»Äh doch, ich bin nur zufällig schon jetzt gekommen.«

»Und wieso zufällig?«

»Weil ich zufällig gerade ich Chania war um Geld zu holen.« Die griechische Sonne bretterte mir erbarmungslos auf die Birne. »Und das habe ich gleich genutzt, um einen Abstecher nach Rethimnon zu machen.«

»Wie bitte, ihr habt nach zwei Tagen schon kein Geld mehr? Ist Matala so teuer?« Ach ja, dass wir in Pale waren und nicht in Matala, konnte sie natürlich nicht wissen. Das musste ich erklären. Selbstredend nicht mit der Offenbarung, zu blöde zu sein, um die richtige Fähre zu besteigen.

»Wir sind gar nicht in Matala. Wir sind nach Paleochora runter, das liegt ganz im Südwesten von Kreta. Haben in Piräus 'nen Tipp bekommen und sind mit der Fähre nach Chania gefahren.« Wenigstens der letzte Satz stimmte.

»Da ist es natürlich der Vorteil, wenn man kein Hotel gebucht hat«, sagte Isabelle und hob ihre Augenbrauen. Ich konnte ihren Blick nicht so richtig deuten. War es Anerkennung für unsere enorme Flexibilität oder eher Mitleid, weil sie ahnte, dass wir uns zu doof angestellt hatten?

»Ja, das stimmt«, erwiderte ich und erhob mich.

»Habt ihr jetzt eigentlich ein Zimmer genommen oder schlaft ihr am Strand«, fragte Isabelle. Die Frage schien ihr auf den Nägeln gebrannt zu haben. Es war ein Fehler, davon im Flugzeug angefangen zu haben.

»Am Strand«, erwiderte ich einsilbig und machte sogleich den nächsten Fehler. »Wo ist eigentlich Petra?« Um schnell das Thema zu wechseln, fiel mir nichtes besseres ein, als diese Frage. Ich hätte ihre Antwort ahnen müssen.

»Interessiert dich Petra?« Isabelle sah mich mit einem prüfenden Blick an.

»Ach, überhaupt nicht.«

»Petra hat gestern jemanden kennen gelernt. Sie sind in Rethimnon.«

»Das ging ja schnell.«

»Ja. Wollen wir noch mal zum Strand oder wollen wir einen Kaffee trinken gehen?« Isabelle lächelte wieder, während ich einen kurzen Blick auf ihre Brüste warf, die unter ihrem engen Strandkleid wesentlich besser zur Geltung kamen, als im Flugzeug unter dem weiten Oberhemd. Wie Sybille 75B?

»Ist mir eigentlich egal«, erwiderte ich, obwohl ich auf Strand nicht besonders scharf war. Sie musste meinen Blick anderes gedeutet haben. »Gut, dann gehen wir zum Strand. Ich bin gerne dort. Hast du Badezeug dabei?« und deutete auf meinen Schlafsack.

»Äh ja, das heißt eigentlich nicht.« Mir versagte die Stimme. Meine zweite Unterhose im Schlafsack machte sich als Badehose vermutlich nicht besonders gut.

»Macht auch nichts«, sagte Isabelle, fasste mich am Handgelenk und schlug den Weg zum Strand ein, »ich habe ein Badetuch, das ist groß genug für uns beide.«

Ich griff vorsichtig meinen Schlafsack, dann gingen wir Hand in Hand Richtung Strand, so als wenn wir uns schon jahrelang kannten. Links hielt ich die grazile Hand von Isabelle, rechts den Schlafsack mit der Dose lauwarmen Bieres. Krampfhaft schielte ich nach einem Mülleimer, in dem ich das Teil unauffällig entsorgen konnte, musste aber wieder einmal feststellen, dass das Aufstellen von Mülleimern nicht zu den bevorzugten Interessen der Griechen gehörte.

Der Strand war immer noch gut gefüllt. Lange Schatten, weiche, satte Farben und tiefblaues Meer. Isabelle zog ihre weißen Stoffschuhe aus, steckte sie in die Tasche und stapfte zu einem freien Platz. Ich folgte ihr langsam.

»Ist das hier okay für dich?«, fragte sie. Noch bevor ich nicken konnte, hatte sie sich ihr Badetuch geschnappt, breitete es aus und ließ sich darauf nieder. Und dann passierte das, was passieren musste. Als ich mich setzen wollte, stieß ich den vorher vorsichtig platzierten Schlafsack um und warmes Bier verteilte sich über ihrem Badetuch. Eine Feuerwalze durchpflügte meinen Kopf. Isabelle schaute mich irritiert an und fing an zu lächeln. »Hast du dir etwas zu trinken mitgebracht?«

»Ja, das hatte ich noch im Schlafsack.«

Isabelle schien kurz darüber nachzugrübeln, was ich wohl noch alles im Schlafsack hatte. Ohne die Pfütze auf ihrem Handtuch weiter zu beachten, zog sie ihr Strandkleid aus. Stück für Stück kam ein schwarzer Bikini zum Vorschein. Sie legte das Kleid auf ihre Tasche und nahm das Bikinioberteil auch ab. Ich zwang mich, auf das Meer zu schauen, es wollte irgendwie nicht klappen. Isabelle steckte sich ihre Sonnenbrille in die Haare, setzte sich, die Armen vor den Knien verschränkt und blinzelte mich an.

»Willst du dir nicht auch dein T-Shirt ausziehen? Ich habe Sonnenmilch dabei.«

»Kann ich machen«, sagte ich und zog den Bauch ein, was ich immer tat, wenn dieses entblößte Teil irgendwo zum Vorschein kommen musste, wie beispielsweise beim Arzt. Etwas behäbig schälte ich mich aus dem T-Shirt. Im Gegensatz zu ihr sah ich aus wie ein Stück Käsekuchen, empfand meine Körperfarbe aber immer noch besser, als die des Paares rechts neben uns, die mich in ihrem blassroten Teint an die Himbeerschnitten unseres Bäckers erinnerten. Isabelle wühlte ein gelbes Plastikfläschchen mit Sonnenmilch aus ihrer Tasche und begann sich einzucremen, während ich den Horizont nach Schiffen absuchte, nicht ohne immer wieder einen knappen Blick aus den Augenwinkeln auf sie zu werfen.

Irgendwie muss ich mich neu sortieren, überlegte ich, die Geschichte mit Isabelle nahm langsam Fahrt auf. Geheuer war mir das nicht, aber die Sache hatte eine Eigendynamik entwickelt, die ich mir so nie vorgestellt hatte. Ebenso wenig wie ich mir jemals vorstellen konnte, schon nach zwei Tagen auf Kreta zwischen Unmengen von durchgegarten Pauschaltouristen einer Bettenburg zu sitzen.

Wir lagen nebeneinander auf Isabelles Badetuch und unterhielten uns über belanglose Dinge, die, genauer betrachtet, gar nicht so belanglos waren. Zum Beispiel über unsere gegenseitigen beruflichen Karrieren. Dummerweise hatte ich in dieser Hinsicht nicht allzu viel zu aufzubieten, zumindest versetzte ich Isabelle nicht in den Zustand zügelloser Ekstase, als ich ihr erzählte, dass ich im fünften Semester auf Berufsschullehrer studierte. Da war sie schon etliche Meilen weiter. Mein Kinn bewegte sich jedenfalls ruckartig nach vorne, als sie mir sagte, sie sei Ärztin. Der Klassenunterschied war plötzlich spürbar. Die nette Frau mit dem weißen Kittel. Ich bildete mir ein, dass es auf einmal statt nach Sonnencreme nach beißender Voltaren-Salbe und Heftpflaster roch. Ärztin war aber schon ein Hammer! Diesen Beruf hatte ich überhaupt nicht auf meiner Liste, als ich schon auf der Fähre darüber nachdachte, was sie beruflich machen würde. Anwältin, Floristin, Lehrerin, sogar an Schuhverkäuferin hatte ich für möglich gehalten, aber niemals Ärztin.

»Oh, Ärztin. Eine Göttin in Weiß.«

»Ach hör' auf.«

Noch sichtlich beeindruckt fragte ich Isabelle, wo sie in Berlin ihre Praxis hatte. Ich stellte mir ein kleines Wartezimmer mit von Strahlern beleuchteten Kandisky-Drucken an schneeweißen Wänden vor, mit einer Yuccapalme in der Ecke und einem mit Zeitschriften bedeckten, modernen Glastisch vor.

»Ich bin keine praktizierende Ärztin, sondern arbeite im Urban-Krankenhaus als Anästhesistin«.

Ach so, dachte ich und nickte wissend, obwohl ich mit dieser Fachrichtung nicht besonders viel anfangen konnte. Aber das hatte nichts zu sagen, ein Freizeitfußballer wie ich kannte nur Orthopäden. Noch als ich dabei war, Anästhesist gedanklich zu buchstabieren, fuhr Isabelle fort, mir ein paar Einzelheiten über ihren Beruf zu erzählen. Dass sie bei Operationen dabei sei und auch bei Geburten, dass ihr Schichtdienst sehr stressig, dafür die Bezahlung im Gegensatz zu niedergelassenen Ärzten ziemlich dürftig sei und so weiter. Ich nickte fortwährend.

»Zur Entspannung besuche ich oft Kunstausstellungen oder klassische Konzerte«, fügte sie hinzu. Ich schnappte hörbar nach Luft. Das beeindruckte mich nachhaltig.

Natürlich wollte Isabelle auch wissen, was ich neben dem Studium alles so machen würde. Ich hielt es für angebracht, mein Freizeitverhalten zunächst nicht allzu detailliert zu beschreiben. Dass ich, anders als sie, zur Entspannung sieben oder acht Pils trinke oder zu Konzerten von Iggy Pop und Herman Brood gehe, empfand ich in diesem Augenblick nicht weiterführend. Also plauderte ich über Kino. Kino war die neutrale Zone, in der sich fast alle bewegten. Hier konnte ich nicht viel falsch machen, weil ich in den letzten beiden Jahren selbst nur drei Filme gesehen hatte. American Graffity, mit Richard Dreyfuss war mein Lieblingsfilm, den ich auch immer gern aufgriff. Ich erzählte voller Begeisterung, wie sie mit Straßenkreuzern durch die Stadt fuhren und in Discos herumhingen, wo die Bedienung mit Rollschuhen Budweiser und Jack Daniels servierte. Isabelles mitfühlender Blick signalisierte mir, dass sie meine Begeisterung nicht ganz teilte. Wahrscheinlich fand sie meine Schwärmereien für den Film sogar ein wenig pubertär.

Als nächstes stellten wir fest, dass wir beide nicht aus Berlin kamen. Isabelle war schon vor sieben Jahren aus Oberhausen gekommen. Das wenige, was ich über Oberhausen wusste war, das es irgendwo im Ruhrgebiet lag. Zwischen Essen und Duisburg, nördlich von Mühlheim, versuchte Isabelle die Lage zu beschreiben, obwohl ich es für unerheblich hielt. Ich merkte noch an, dass Rot-Weiß Oberhausen vor einigen Jahren mal in der Bundesliga spielte, was sie wiederum nicht die Bohne zu interessieren schien. Mich überrasche allerdings, dass sie über Bremen und seine Sehenswürdigkeiten einiges wusste, zumindest kannte sie die Bremer Stadtmusikanten und den Roland.

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