Читать книгу Motte und Co Band 4: Die Insel der Drogenbande - Ulrich Renz - Страница 7
Оглавление1. KAPITEL
Wie alles anfing
Eigentlich hat alles schon lange vor den Ferien angefangen, ich kann mich noch genau an den Moment erinnern. Es war kurz nach Ostern, wir saßen abends am Tisch und waren gerade mit dem Abendessen fertig. Ich erinnere mich sogar noch, was es gegeben hatte, einen Kartoffel-Zucchini-Auflauf aus Mamas neuester Koch-Zeitschrift „Volles Rohr Öko“. Der Auflauf sollte, wie Mama uns vor dem Essen vorlas, „eine neue Epoche des Geschmackserlebnisses einleiten“. Wo in anderen Familien ein Tischgebet gesprochen wird, werden bei uns Rezepte verlesen, und zwar mindestens genauso feierlich. Das versprochene Geschmackserlebnis fand ich persönlich aber nicht so umwerfend. Wegen mir musste eigentlich keine neue Epoche anfangen.
Wir saßen also nach dem Abendessen am Tisch und ich wartete schon auf den Startschuss zum Aufstehen. Der kommt bei uns immer von Papa, er murmelt dann ein kaum hörbares „Also dann …“, und schon ist er zur Tür raus. Diesmal blieb Papa aber einfach sitzen und sagte gar nichts. Irgendwas war da merkwürdig. Ich schaute zu Mama – sie hatte eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt und rutschte auf ihrem Stuhl herum.
„Und jetzt lasst uns mal den Sommerurlaub planen“, sagte sie unvermittelt. So verschwörerisch wie sie dabei Papa anschaute, war schon klar, dass die beiden sich etwas ganz Besonderes ausgedacht hatten. Sommerferien, das hieß bei uns so lange ich denken kann: drei Wochen in dem hellblauen Ferienhäuschen am Staffelsee. Nicht, dass ich jetzt meckern wollte, wir hatten es immer schön am See, aber ich habe mir schon manchmal gedacht, dass wir auch mal ganz woanders hin gehen könnten, irgendwo weiter weg. Besonders dann, wenn meine Mitschüler nach den Ferien in der Klasse von Safaris in Afrika, Trekking-Touren durch Nepal und Schnorcheln im Roten Meer erzählten und auf den Handys die Bilder dazu zeigten.
„Wir haben uns gedacht …“ Mama schaute wieder zu Papa und machte eine Pause. Wahrscheinlich wollte sie es damit extra spannend machen. „Sag du, Reinhard!“
„Nein du, Solvejg, du hast das doch alles so schön ausgesucht.“
„Also wir dachten, dass wir mal in den Süden fahren könnten …“
Süden, das klang schon mal gut. Obwohl der Staffelsee ja eigentlich auch im Süden lag.
„... ans Mittelmeer …“
Das klang jetzt schon viel besser.
„... nach Griechenland – da scheint jeden Tag die Sonne.“
„Und vor allem“, übernahm Papa mit einem beglückten Gesichtsausdruck, „gibt es dort Kulturschätze ohne Ende zu besichtigen. Griechenland ist die Wiege der europäischen Kultur – das habt ihr doch bestimmt schon im Geschichtsunterricht gehabt. Und ihr habt bestimmt schon von der Akropolis gehört – und dem Parthenon-Tempel. Und vom Hephaistos-Tempel und dem Tempel der Aphrodite.“ Er konnte gar nicht mehr aufhören mit seinen Tempeln.
„Ich will keine Tempel besichtigen, ich will chillen!“
Klar musste das jetzt von Ute kommen. Chillen war ihr neuestes Lieblingswort, neben „krasser Shit“ und „voll heftig“. Vermutlich hatte sie das von ihren YouTuberinnen. Da wir zuhause keine Smartphones oder sonstigen elektronischen Medien benutzen dürfen, weil Mama Angst vor der Strahlung und vor allem um unsere geistige Entwicklung hat, verbrachte Ute jetzt jede freie Minute mit Melanie und deren Smartphone, das natürlich voll heftig und krasser Shit und alles war. Bei dem, was bei ihr vom Verblödungsfaktor her rausgekommen war, musste man Mama eigentlich Recht geben.
„Aber natürlich darfst du auch ausspannen, Ute“, sagte Mama, „die Ferien sind ja dazu da, wieder richtig Energie zu tanken, gerade in der Pubertät ist das besonders wichtig.“
„Pubertät, von lateinisch pubertas, Geschlechtsreife“, murmelte Papa. Er hat diesen Tick, dass er jedes Fremdwort erklären muss.
Mama hatte jetzt einen bunten Prospekt in der Hand und faltete ihn feierlich auf.
„Wir haben da was ausgesucht, auf einer Insel, die soll eine der schönsten von ganz Griechenland sein. Eine Ferienanlage mit einem ganz neuartigen Konzept.“ Sie las vor: „Eine Kombination von Entspannung und Aktivurlaub. Die großzügig gestaltete Anlage liegt mitten in unberührter Natur.“ Sie legte den Prospekt auf den Tisch und strahlte uns an. „Schaut euch das mal an!“
Die Bilder sahen wirklich super aus: Auf der Luftaufnahme waren nette weiße Häuschen zu sehen, die sich um zwei türkisgrüne Swimmingpools gruppierten, ganz in der Nähe lag das Meer mit einem weiten Sandstrand.
„Und jetzt kommt’s“, fuhr Mama fort. „Für den kostenbewussten Urlauber ist ein wunderschöner Campingplatz angeschlossen.“
„Ich will nicht auf den Campingplatz“, heulte Ute los, „ich verbring doch meinen Urlaub nicht irgendwo auf dem Acker! Ich will auch am Pool chillen und schick essen gehen!“
„Das ist ja gerade das Tolle“, sagte Mama geduldig, „wir können alles nutzen, was die Anlage zu bieten hat, Swimmingpool, Cafés und das Restaurant. Aber wir müssen nicht in den teuren Appartements wohnen. Das könnten wir uns einfach nicht leisten, die Flüge kosten ja schon ein Vermögen.“
Gelegenheit für Papa, seine altbekannte Botschaft loszuwerden, dass wir „den Gürtel nun mal enger schnallen“ müssten, weil wir doch noch unser Haus abzubezahlen hätten. „Und das kostet uns jeden Monat fast tausend Euro.“ Eigentlich eine traurige Botschaft, aber er machte dabei einen ganz vergnügten Eindruck. Sparen ist sowas wie sein Lieblingssport.
„Alles steht uns offen“, fuhr Mama fort, „und natürlich dürfen wir auch den Strand nutzen. Und abends essen wir in diesem tollen Restaurant, da gibt es sogar Bio-Essen!“ Sie blätterte weiter. „Und hört euch das an, es gibt da auch ein Clubprogramm: ‚Für die aktive Freizeitgestaltung für alle Altersgruppen ist gesorgt, von Aerobic, Bogenschießen über Surfen, Schminkkurs bis Yoga und Zumba! Und jeden Abend ein buntes Unterhaltungsprogramm für Jung und Alt mit internationalen Stars in lockerer Atmosphäre‘.“
„Muss man aber nicht hingehen“, murmelte Papa. Party ist nicht sein Ding.
Ute dagegen schien die Sache mit dem Clubprogramm wieder versöhnlicher zu stimmen. „Schminkkurs“ war wahrscheinlich das Zauberwort gewesen. Jedenfalls hörte das Gemaule auf.
„Und dann haben wir uns noch was anderes überlegt …“ Mama hatte offenbar noch was im Köcher, ihrem bedeutungsvollen Blick nach zu urteilen. „Weil ihr beiden ja gerade nicht so viel miteinander anfangen könnt – es ist eben eine schwierige Phase so am Anfang der Pubertät …“
Sie kann es einfach nicht lassen.
„Wollt ihr nicht jeder einen Freund oder Freundin mitnehmen?“
„Melanie!“, platzte Ute gleich raus.
„Dann bleib ich zu Hause“, entfuhr es mir, obwohl ich eigentlich von Glückshormonen überschwemmt war. Aber Ute und Melanie, das ist für einen normalen Menschen einfach nicht auszuhalten.
Natürlich hatte ich mich jetzt der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht. Ute sprang auf und rannte raus, nicht ohne die Tür so hinter sich zuzuschlagen, dass es ein mittelschweres Erdbeben gab.
Mama nahm mich ins Gebet und war sofort wieder bei ihrem Lieblingsthema. „Du weißt doch, Motte, dass die Pubertät vor allem für Mädchen eine schwierige Zeit ist, in der die Umgebung viel Feingefühl aufbringen muss.“
„Also gut.“ Das mit dem Feingefühl hatte mich auf eine Idee gebracht. „Klar darf sie Melanie mitnehmen, aber ich bin nun mal auch in der Pubertät, jedenfalls so gut wie. Ich bring es einfach nicht übers Herz, von meinen Freunden nur einen mitzunehmen. Sollen die anderen denn zu Hause bleiben? Wenn, dann müssen alle mit.“
„Aber meinst du denn wirklich, dass Mariekje …“
Gut, da hatte sie wahrscheinlich recht, MMs Mutter würde ihre Tochter nie und nimmer zusammen mit Jungs verreisen lassen. „Aber Simon und JoJo auf jeden Fall!“
Mama schaute zu Papa. „Was meinst du? Ist doch eigentlich ein vernünftiger Vorschlag, Reinhard, oder?“ Damit war die Sache eigentlich schon geritzt. Es kommt bei uns nicht so oft vor, dass Papa anderer Meinung ist als Mama.
In dem Moment kam Ute wieder ins Zimmer gestürmt, in Tränen aufgelöst. Sie hängte sich Mama an den Hals, als ob sie am Ertrinken wäre. „Melanie kann nicht mitkommen, ihre Eltern lassen sie nicht!“ Mehr konnte sie vor lauter Schluchzen nicht sagen.
„Aber weißt du was, Ute?“, sagte Papa mit einem Augenzwinkern, das offenbar tröstend gemeint war. „Vielleicht kommt ja Simon mit.“
Böser Fehler. Er hatte es offenbar noch nicht mitgekriegt oder wieder vergessen. Mama schaute ihn beschwörend an und gab ihm einen Stoß in die Rippen.
„Simon ist mir so was von egal!“, brach es auch schon aus Ute heraus. Und schon hing sie wieder schluchzend an Mamas Hals.
Das Aus für Utes heiße Liebe zu Simon war gerade ein paar Wochen her. Und war, ich muss es gestehen, ganz und gar meine Schuld. Ich hatte es einfach nicht mehr mit ansehen können, wie der arme Simon von Ute regelrecht verfolgt wurde, er tat mir echt leid. Aber auch mit Ute konnte es so nicht weitergehen. Sie hatte nichts anderes mehr im Kopf als ihren „Saisai“, es war einfach nicht mehr normal. An einem schönen Sonntagabend sagte ich ihr dann klipp und klar, dass ihr Saisai rein gar nichts von ihr wolle und nur zu lieb sei, ihr das offen ins Gesicht zu sagen. „Merkst du denn nicht, dass du ihn nur nervst? Jetzt komm mal auf den Teppich!“ – So ungefähr. Es hatte jedenfalls gewirkt. Und zwar schlagartig. Drei Tage lang verkroch sie sich in ihrem Zimmer und hatte vermutlich pausenlos Melanie am Telefon, dann kam sie mit der Mitteilung wieder heraus, dass sie sich Simon „aus dem Herz gerissen“ hätte, und dass da jetzt eine große Wunde klaffte, die sich wohl nie, nie, nie wieder schließen würde und dass Simon für immer und ewig die „Liebe ihres Lebens“ bleiben würde, und sie auf ihn warten würde – lebenslänglich! – bis er so weit sei. Bis dahin würde sie keinen – wirklich keinen! – anderen „Mann“ auch nur mit dem Arsch anschauen, sondern geduldig warten, bis sie in ihrer gemeinsamen Liebe vereint seien. So sprach sie ein paar Tage lang. Mama war schon so verzweifelt, dass sie Ute zum Psychologen schleppen wollte. Aber dann wurde sie langsam wieder normal – soweit man bei einem Mädchen, das viel zu früh in den Strudel der Pubertät gezogen wurde, von normal sprechen kann.
Ute war inzwischen auf Mamas Schoß eingeschlafen. Mama streichelte ihr durchs Haar. „Große Ereignisse werfen nun mal ihre Schatten voraus“, sagte sie und schaute lächelnd von Papa zu mir: „Das wird ein Traumurlaub!“