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Pflanzen im Garten: lebende Baustoffe oder Mitbewohner?

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Wo Pflanzen wachsen, da leben wir gerne. Wir freuen uns über die ersten Knospen, die sich im Frühjahr entfalten, über die Blüten, die folgen, über die Früchte im Herbst. Unterschwellig wissen wir auch: Nur weil Pflanzen wachsen, können wir leben. Der Sauerstoff, den wir atmen, wird von Pflanzen produziert. Ohne die Fotosynthese der Pflanzen enthielte die Atmosphäre der Erde keinen Sauerstoff. Unser Leben ist eng mit dem der Pflanzen um uns herum verbunden, ja wir sind sogar in unserer ganzen Existenz von ihnen abhängig.

Als Gartenplanerin kann ich Gärtner und ihre Gärten meist nur eine kurze Zeit begleiten, irgendwann heißt es Abschied nehmen, denn neue Projekte warten. Wenn ich dann nach einiger Zeit zu einem älteren Projekt zurückkehre, ist es immer wieder spannend, wie sich der Garten entwickelt hat. Dabei beobachte ich oft: Gärten sind umso schöner, je mehr die Menschen, die in ihnen leben und arbeiten, sich mit den Pflanzen emotional verbinden, einfacher gesagt: je mehr sie ihre Pflanzen lieben.


Gute Gärtnerinnen und Gärtner kennen ihre Pflanzen, manchmal jede einzelne individuell. Sie erkennen, wie gut oder schlecht es ihren Schützlingen geht, sorgen sich um ihre Pflanzen und sorgen für sie. Es ist für sie eine Freude, wenn die jungen Pflänzchen in den Saatschalen wachsen, und sie achten darauf, dass sie gedeihen, so wie sie auch Tierkinder versorgen würden.

Wenn es aber an die regelmäßigen Schnittaktionen im Garten geht, dann könnte man daran zweifeln, ob die Pflanzen im Garten auch wirklich als Lebewesen wahrgenommen werden. Da wird gesägt und geschnitten, was das Zeug hält. Gärtner, die wegen einer eingegangenen Topfpflanze traurig sind, sägen ohne Bedenken ihren Bäumen große Äste ab. Aber vielleicht bleibt da doch ein leiser Zweifel? Eine große Schnittwunde mit Wundverschlussbalsam zu bestreichen, gibt dem Gärtner zumindest ein gutes Gefühl. Ob es auch dem Baum nützt, ist erst mal nicht klar.

Wilde Gärten

Wahrscheinlich fingen die Menschen schon lange vor der Erfindung des Ackerbaus an, Pflanzen zu pflegen und zu nutzen. Wie solche »Wilden Gärten« entstanden, können wir bei den Ureinwohnern Australiens erfahren. Zum Beispiel wurden Grasbäume von den Aborigines als Nahrung und zur Werkzeugherstellung genutzt – aus dem Harz wurde ein Klebstoff gewonnen, der Stein-klingen an Holzträgern befestigte. Die Ureinwohner förderten begehrte Pflanzen unter anderem durch das Legen von Buschfeuern. Nutzpflanzenstandorte wurden in den »Songlines« weitergegeben. Die Frauen der wandernden Gruppe vermehrten auch bewusst bestimmte begehrte Pflanzen, indem sie Samen auslegten oder durch Stecklinge an besonders geeigneten und vielleicht sogar dafür vorbereiteten Stellen einpflanzten. Dabei pflegten sie diese vielleicht ähnlich, wie sie die Kinder der Gruppe pflegten. Die rasche Ausbreitung der Haselnuss nach der letzten Eiszeit bei uns in Mitteleuropa könnte in ähnlicher Weise von mittelsteinzeitlichen Jägern und Sammlern gefördert worden sein.

Es gibt Gärtnerinnen und Gärtner, die streicheln ihre Pflanzen, und es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die nachweisen, dass gestreichelte Pflanzen kompakter und widerstandsfähiger wachsen. Trotzdem behandeln wir unsere Pflanzen oft wie eine zwar vermehrungs- und wachstumsfähige, aber doch völlig unserem Willen zu unterwerfende Masse. Wir formen die Pflanzen nach unserem Wunschbild mit Heckenschere und Säge. Ja, es scheint sogar zu den Pflichtaufgaben des Gärtners zu gehören, die Pflanzen zu schneiden.

Ich erinnere mich an einen Garten, in dem eine durch einen Baum»pfleger« völlig verunstaltete Zeder stand. Fast alle Starkäste waren gekappt worden. Als ich die Gartenbesitzerin fragte, warum der Baum so stark beschnitten worden sei, antwortete sie, dass der Baum einer der Gründe gewesen sei, warum sie das Grundstück gekauft hätten. Er sei ja aber noch nie geschnitten worden, deshalb hätten sie sich und dem Baum diese teure Baumpflege geleistet. Und nun musste ich sie darüber informieren, dass der Baum durch die vermeintliche Pflege irreversibel geschädigt worden war, keine schöne Aufgabe!

In unserer Haltung zu Pflanzen und ihrer Pflege scheinen wir also zwischen zwei Extremen zu schwanken: Einmal behandeln wir Pflanzen wie unsere Hausgenossen, wir sorgen für sie wie für ein Haustier. Dann wieder nehmen wir Pflanzen als eine wachsende Masse wahr, die in ihre Schranken gewiesen werden muss, damit sie so wächst, wie wir uns das wünschen. Wir gehen mit den Pflanzen um, als sei ihr Wachstum unendlich, ja vielleicht sogar bedrohlich. Wenn wir Pflanzen so als einen wachsenden Baustoff wahrnehmen, dann gerät aus dem Blick, dass die Pflanzen, die wir schneiden, lebendige Individuen sind, deren Gesundheit wir durch Verletzungen gefährden können.

Jede Pflanze ist ein Lebewesen mit einer eigenen Schönheit. Um diese zu pflegen, das heißt sie zu erhalten und zu entwickeln, ist in erster Linie nicht gutes Werkzeug, sondern sind Verständnis und Einfühlungsvermögen gefragt. Es geht darum, zu verstehen, wo und wie Pflanzen wachsen und wie sie sich entwickeln, wie ihre individuelle Gestalt entsteht. Weiterhin geht es darum, zu verstehen, wie Pflanzen auf Verletzungen reagieren, welche Gefahren für die Pflanzengesundheit mit einer Verletzung verbunden sind und wie Pflanzenwunden heilen.

Es ist aber nicht nur wichtig, die Pflanzen zu verstehen, sondern auch unsere eigenen Bedürfnisse zu kennen. Soll ein Apfelbaum besonders große und süße Früchte tragen, soll ein Zierstrauch dekorativ aussehen und reich blühen oder soll ein Gebüsch entstehen, in dem Vögel sicher brüten können? Die Funktion, die eine Pflanzung erfüllen soll, bestimmt in großem Maße die nötigen Pflegemaßnahmen. Was für die eine Zielsetzung eine richtige Pflegemaßnahme darstellt, kann für eine andere Funktion genau falsch sein: Wenn Blütensträucher einen lockeren und luftigen Aufbau haben, sehen sie dekorativ aus, können aber kaum als Nistgehölz für Vögel dienen. Beerensträucher in einer dichten Vogelschutzhecke tragen das eine oder andere Vogelnest, aber nur wenige und saure Früchte.

Ich möchte Sie einladen, die Pflanzen in Ihrem Garten neu und neugierig zu betrachten. Wir werden verschiedene Perspektiven einnehmen, den distanzierten Blick der Naturwissenschaft, den einfühlsamen Blick des Pflanzenliebhabers, aber auch die kreative Herangehensweise der Gestaltenden. Es geht darum, unseren Umgang mit den Pflanzen nicht nach überkommenen Regeln, seien es die Regeln unseres Nachbarn, unseres Großvaters oder eines Lehrbuches, auszurichten, sondern nach einem Verständnis für die Bedürfnisse aller, die in unserem Garten leben dürfen: wir, die Nutzer des Gartens, die Pflanzen, die uns erfreuen, und die Tiere, die wir in unserem Garten als Mitbewohner willkommen heißen.


Jede Pflanze hat ihre individuelle Gestalt, ein sanfter Schnitt fördert ihre Schönheit. Die Kornelkirsche ist ein Großstrauch, der im Alter zu einem kleinen Baum mit kurzem Stamm und kugeliger Krone heranwächst. Im zeitigen Frühjahr erfreut sie uns und die Bienen mit ihren leuchtenden, gelben Blüten.

Kleine Streicheleinheiten für Pflanzen

Mechanische Reize können im Gartenbau als Alternative zu Stauchungsmitteln eingesetzt werden. Im Gewächshaus wie im Haus tendieren Pflanzen dazu, lange und instabile Triebe zu bilden. Sobald Zimmerpflanzen im Sommer nach draußen gestellt werden, wachsen sie schöner und kompakter und leiden auch weniger an Schädlingen. Neben dem erhöhten Lichtangebot sorgen offensichtlich auch die mechanischen Reize durch Wind und Wetter dafür, dass das Längenwachstum der Zellen gebremst wird, dass dickere, stabilere Triebe und kräftigere Blätter gebildet werden.

Inzwischen wird dieser Effekt auch von einigen Zierpflanzengärtnereien eingesetzt, die »Streichelmaschinen« über ihre Pflanzenbestände fahren lassen und so ein kompaktes Wachstum der Pflanzen erreichen.

Erhöhte Konzentrationen von Pflanzenhormonen, die das Streckungswachstum der Zellen hemmen, konnten in den behandelten Pflanzen nachgewiesen werden.

Der sanfte Schnitt

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