Читать книгу „. . . in einer steinernen Urkunde lesen“ - Ulrike Glatz - Страница 13
ERZBISCHOF HATTO UND DER MÄUSETURM – EIN FEHLURTEIL DER GESCHICHTE
ОглавлениеEr war ein Mann von großer Klugheit, der zur Zeit des jugendlichen Ludwig über das Reich der Franken mit brennender Sorge wachte, viele Zerwürfnisse im Reich einer Versöhnung zuführte …
(Widukind von Corvey über Erzbischof Hatto, in Res gestae Saxoniae, 10. Jh.)*
Unweit von Bingen liegt auf einer Felseninsel im Rhein der sog. Mäuseturm, ein im Kern mittelalterlicher, mehrgeschossiger Bau. Die neben der Loreley-Sage bekannteste Sage des Mittelrheins bringt ihn mit dem Mainzer Erzbischof Hatto in Verbindung. So soll Hatto in Zeiten einer großen Hungersnot die Armen in einer Scheune zusammen gerufen haben. Dann befahl er, die Scheune anzuzünden. Als er das Jammergeschrei hörte, bemerkte er: „Hört ihr, wie die Mäuse pfeifen?“ Alsbald verfolgten ihn Mäuse, er floh auf den Turm im Rhein, doch die Mäuse kamen durch das Wasser hinter ihm her und fraßen ihn auf.
Der historische Ausgangspunkt der Sage liegt in karolingischer Zeit. Im 9. Jh. regierten in Mainz zwei Bischöfe mit Namen Hatto, Hatto I. (891–913) und Hatto II. (968–970).
Bischof Hatto I. stammte aus dem alemannischem Adel; er wurde um 850 geboren. Über seine frühen Jahre ist wenig bekannt, seit den 880er-Jahren gehörte er zu den Beratern König Karls III. Als Abt des Klosters Reichenau wurde er 888 eingesetzt, wenige Jahre später zum Erzbischof von Mainz ernannt (892), blieb aber gleichzeitig Abt der Reichenau. Dem einflussreichen Bischof kam eine besondere Rolle im Reich zu, in dem in der zweiten Hälfte des 9. Jhs. infolge häufiger Reichsteilungen instabile Verhältnisse herrschten. Er fungierte in der Regierungszeit dreier Könige (Arnulf von Kärnten, Ludwig das Kind und Konrad I.) als „Königsmacher“ und galt als „Primas von Germanien“ (so Abt Regino von Prüm in einer Widmungsanrede).
Bingen, Mäuseturm mit Burg Ehrenfels (hist. Aufnahme)
Auch als Stifter von Kirchenbauten und Kunstwerken ist Hatto bekannt. Es wird berichtet, dass er vor einer Reise nach Italien seine mitgeführten Schätze seinem Freund, Bischof Salomo von Konstanz, übergab „aus Misstrauen gegen seine Mainzer“, mit der Bitte, die Schätze zu seinem Seelenheil zu verschenken, sollte er von seinem Tod hören. Salomo verkündete wahrheitswidrig den Tod Hattos und verteilte die Schätze an die Armen und an die Kathedrale von Konstanz. Hatto beließ es bei seiner wohlbehaltenen Rückkehr aus Italien dabei. In Mainz erbaute er den „Alten Dom“ (wohl die heutige Johanniskirche). Über Hattos Tod im Jahr 913 wurden verschiedene Versionen verbreitet. So soll er durch eine List den Grafen Adalbert von Babenberg an den König (Ludwig das Kind) ausgeliefert und somit dessen Hinrichtung zu verantworten haben. Deshalb sei er eines plötzlichen Todes gestorben, sein Grab ist nicht bekannt. Das fehlende Grab hatte zur Folge, dass im 13. Jh. die Mär aufkam, Hatto sei von Teufeln gepackt und in den glühenden Schlund des Ätna geworfen worden. Ebenfalls im 13. Jh. entstand die Version der Verfolgung durch die Mäuse, die aber vornehmlich Bischof Hatto II. angedichtet wurde. Dieser zweite Hatto hat allerdings nur zwei Jahre regiert; über sein Leben und Wirken sind wenig gesicherte Quellen bekannt. In dieser Zeit ist aus Hatto I. der grausame Bischof geworden, dem man viele Untaten anlastete, obwohl ihn seine Zeitgenossen als mächtigen, klugen, großzügigen und kunstsinnigen Mann beschrieben haben.
Spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks findet die Hatto-Sage weite Verbreitung. Während der Reformationszeit wurden die Geschehnisse instrumentalisiert, der Wahrheitsgehalt geht unter im Streit der protestantischen Gegner und der katholischen Verteidiger des Bischofs. Seit dieser Zeit werden beide Bischöfe vertauscht, die Geschichte wird endgültig unübersichtlich. Auch der Turm im Rhein bei Bingen wird im 16. Jh. in die Erzählung mit einbezogen. Abbildungen des Turmes mit Mäusen finden sich u. a. in Sebastian Münsters Cosmographia (1545).
Vermutlich im 14. Jh. ließ der Mainzer Erzbischof auf einer Rheininsel bei Bingen eine Zollstation errichten, an strategisch günstiger Stelle, an der sich das Rheintal verengt. Der Name Mäuseturm ist wohl abgeleitet von Mautturm = Zollturm. Zusammen mit den Burgen Ehrenfels am Steilhang auf der rechten Rheinseite und Burg Klopp auf der linken Seite des Rheinufers bildete er zudem ein Wehrsystem, das das Territorium des Erzbistums Mainz absicherte und zugleich Zeugnis der erzbischöflichen Machtpolitik war. Seit dem 17. Jh. verlor der Turm seine Funktion und war immer mehr dem Verfall preisgegeben. Nach verschiedenen notdürftigen Reparaturen setzte sich in der 2. Hälfte des 19. Jhs. der preußische König Friedrich Wilhelm IV. persönlich für die Wiederherstellung nach Plänen des Kölner Dombaumeisters Zwirner ein.
Orientiert an historischen Abbildungen wurde der Turm, dessen untere Geschosse in ihrer mittelalterlichen Substanz erhalten blieben, im oberen Teil in neugotischen Formen ergänzt. Sein Äußeres mit dem Ecktürmchen und den Zinnenkränzen wurde so zu einem Sinnbild der Rheinromantik. Hinzugefügt wurde ein großes Relief mit dem preußischen Adler, Zeichen des preußischen Hoheitsgebietes. Durch die Rheinromantik hatte die Sage neuen Auftrieb bekommen. Vor allem in englischen Reiseführern war die Erzählung beliebt, bot doch der gespenstisch in den tobenden Wogen des Binger Lochs stehende Turm die ideale Kulisse für eine Schauergeschichte.
Der Mäuseturm und Erzbischof Hatto sind durch eine jahrhundertelange Überlieferung verbunden, obwohl es dafür keinen historischen Anlass gibt. Das Bild des grausamen Erzbischofs entstand im Mittelalter durch bewusst unrichtige Überlieferungen. Es hat sich im Laufe der Zeit so verselbständigt, dass der historische Hatto völlig dahinter verschwunden ist.
Literatur
Winfried Wilhelmy (Hrsg.), Glanz der späten Karolinger – Hatto I. Erzbischof von Mainz (891–913) – Von der Reichenau in den Mäuseturm, Mainz 2013.
* zit. nach: Winfried Wilhelmy (Hrsg.), Glanz der späten Karolinger – Hatto I. Erzbischof von Mainz (891–913) – Von der Reichenau in den Mäuseturm, Mainz 2013, S. 43.
Karolingisches Kapitell aus Ingelheim