Читать книгу Mylopa - Ulrike Linnenbrink - Страница 4
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ОглавлениеNach all den Jahren, den Odysseen von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik, nach all den Hormonpillen, Muss-Beischläfen, bei denen von Lust keine Rede mehr sein konnte, nach dem siebenten Fieberthermometer und einer dicken Kladde voller Basaltemperaturkurven, nach allen im Vier-Wochen-Zyklus wiederkehrenden Enttäuschungen - nach all diesem psychischen und körperlichen Stress - endlich ein kleiner grüner Kreis im Röhrchen aus der Apotheke!
Vor Freude fast durchdrehen, morgens, im Bett neben Robin. Ihm das Ding vor die Nase halten. Mein Amüsement über seinen ungläubigen Blick. Sein langsames Begreifen. Gemeinsame Suche nach einem Namen ...
Philip wäre für einen Jungen nicht schlecht ... Ja, wäre nicht schlecht ... Hedda vielleicht für ein Mädchen ... Um Gottes Willen nicht Hedda, das klingt fürchterlich! ... Wieso? ... Irgendwie zappelig. Hedda, Hedda, hör dir nur an, wie das klingt! Diese beiden 'd's hintereinander, schauderhaft! ... Ich finde aber, das hat was nordisch Kühles und ist doch voller Leidenschaft, wie aus einem skandinavischen Melodram ... Ich hab ja gesagt, das klingt mir zu negativ ...
Vertagung der endgültigen Entscheidung. Wir hatten schließlich noch Zeit.
Etwas beunruhigend vielleicht, mein merklich in sich gekehrter Freund und Lebensgefährte Robin. In den Wochen nach dem Testergebnis schien er mir mit seinen Gedanken oft meilenweit weg. Ich fragte mich in manchen Augenblicken, was ihn mir plötzlich so fremd machte, warum er sich mit einem Mal wieder so tief in seine Bücher vergrub, psychologische in der Hauptsache. Doch ich erklärte es mir mit der veränderten Situation, auch für ihn. In neue Situationen musste er sich immer erst einlesen. Rat holen, Unterstützung, Bestätigung, Hilfe. So ging jeder von uns anders mit seinen Problemen um. Er leise, mit dem, was irgendjemand irgendwann einmal zu irgendeinem Problem geschrieben hatte, im Anschluss dann mit sich selbst. Ich eher laut, Freude teilend, mit anderen Pläne schmiedend und weit vorausschauend, kleine Hürden dabei gern übersehend. Vertrauensvoll, gutgläubig.
Ich versuchte, mich nicht einfangen zu lassen von seiner Stimmung, seiner nachdenklichen Ruhe. Das würde ohnehin bald vorübergehen. Dann, wenn sich nach dem inneren Chaos für ihn die Dinge langsam wieder ordneten. Für mich war jetzt schon alles klar, auch ohne psychologische Literatur. Ich wollte mir keine negativen Gedanken machen, mich nicht fragen, ob es gut oder nicht gut sei, dieses Kind zu bekommen. Ich wollte mich nur freuen darauf und auf alles, was damit verbunden war. Endlich würde auch ich mit so einem Bauch herumlaufen, wie im Augenblick - nein, seit Jahren - die meisten jungen Frauen um mich herum. Anscheinend hatten sie sich alle abgesprochen, meine Freundinnen. Eine nach der anderen wurde schwanger, und sie begegneten mir mit dieser geheimnisvoll wissenden, spürenden Mütterlichkeit im Blick und mit diesen aufgetriebenen, blassen Lippen. Jede von ihnen hat sich fast entschuldigt bei mir, wenn es mal wieder so weit war.
Doch jetzt würde alles anders. Jetzt würde auch ich bald die Arme um meinen Bauch schlingen und verträumt lächelnd nach innen horchen. Mit einem Bauch, der Sinn machte, der nicht nur anschwoll, weil ich über den Winter zu viel Schokolade und Nüsse in mich hineingestopft und ein paar Pfunde zugelegt hatte. Jetzt war ich endlich auf der anderen Seite des Lebens, mit 'normalen' Körperfunktionen. So, wie es sich für eine gesunde junge Frau gehörte.
Und jetzt hatte ich verdammt noch mal Blutungen!
"Wir helfen ein bisschen nach", meinte mein Arzt und verschrieb mir ein Hormonpräparat. "Machen Sie sich keine Sorgen, das muss gar nichts heißen." Und dann sprach er nicht weiter, sondern kritzelte in seiner unleserlichen Handschrift auf dem Rezept herum. "Das Präparat nehmen Sie dreimal am Tag." Er reichte mir das Rezept herüber. "Und dann legen Sie sich ein paar Tage hin und schonen sich. Ich schreibe Sie krank." Er füllte mir ein Attest für die Schule aus. Gab es mir auch. "Wenn die Blutungen übermorgen nicht weg sind, melden Sie sich wieder. Unter Umständen schicke ich Sie zur Sicherheit dann doch in die Klinik."
Robin klappte mir die grüne Schlafcouch in seinem Arbeitszimmer auseinander. Sein Arbeitszimmer war der einzige Raum, in dem es bei uns einen Fernseher gab. Ohne Ablenkung wäre ich verrückt geworden. Er blieb bei mir und korrigierte Hefte an seinem Schreibtisch.
"Was ist, wenn ich es verliere?"
"Dann verlierst du es." Er schien automatisch zu antworten, sah dabei weiter die Arbeiten seiner Schüler durch.
Ich ließ das, was er gesagt hatte, ein paar Sekunden in mir nachhallen. "Wärst du nicht traurig?"
Er legte seinen Stift zur Seite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sah mich nicht an, sah aus dem Fenster in die beginnende Dämmerung. Draußen trudelten dicke Schneeflocken am Glas entlang, und der dichte, graue Wattehimmel, den ich von meiner Schlafcouch aus im Blick hatte, versprach noch eine Menge mehr davon. "Ich weiß es nicht."
"Du weißt es nicht? Freust du dich denn nicht auch?"
"Ich weiß es nicht. Es hat mich auch erschreckt. Vielleicht habe ich mich im Grunde darauf verlassen, dass es weiterhin nicht klappt. Es war schon so normal, dass es nicht klappte. Vielleicht ist es für mich doch noch ein bisschen zu früh."
"Zu früh? Ich bin dreiunddreißig und du neunundzwanzig! Wann hast du gedacht, soll ich mein erstes Kind bekommen?"
"Ich weiß im Augenblick nicht, ob ich überhaupt ein Kind will. Ich weiß nicht, ob mir die Verantwortung nicht doch zu groß ist. Ich weiß im Moment eben gar nichts mehr."
Er hätte mir genauso gut mit dem Knüppel eins überziehen können.
"Ja, wozu, wieso haben wir denn dann die ganze Maschinerie durchgemacht? Wieso renne ich von einem Arzt zum anderen? Wieso schlucke ich Hormonpillen und prüfe jeden Morgen meine Temperatur? Wieso machen wir unsere Turnübungen, wenn du gar keine Lust auf ein Kind hast?"
"Weil du ein Kind willst", sagte er, drehte sich jetzt zu mir herum. "Weil du ein Kind willst, und weil ich weiß, dass das sehr wichtig für dich ist - aus welchen Gründen auch immer."
"Du machst das alles nur mit, weil ich ...? Alles nur wegen mir?" Ich hielt mir den Bauch. Das, was er gesagt hatte, schien mich dort wie mit kleinen Messern zu treffen. Weiß Gott, er hatte es tatsächlich geschafft, mich von meinen Blutungen abzulenken!
"Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich Probleme mit meiner möglichen Vaterrolle habe, aber da hast du offenbar nie richtig hingehört. Ich habe ganz einfach Angst zu versagen, zu sehr gebunden zu sein, noch nicht erwachsen genug."
"Doch, doch, ich hab schon hingehört, hab diese Probleme auch verstanden. Probleme mit einer so weitreichenden Entscheidung sind normal für einen Mann wie dich, habe ich immer gedacht. Das legt sich, wenn es erst mal so weit ist. In der konkreten Situation. Er denkt eben auch dieses Thema bis in den letzten Winkel durch. So etwas muss wirklich gut überlegt sein, hab ich gedacht. Ich fand sogar gut, dass du so ernsthaft darüber nachgedacht hast. Abgewogen hast. Und letztendlich hast du doch mitgemacht! Ich hab dich zu nichts gezwungen, oder?"
Es klingelte unten an der Haustür. Fast erleichtert ließ er mich zurück, lief die Treppe hinunter und öffnete. Lautes Gelächter vor der Tür. Unsere Freunde aus der Nachbarschaft, bierlaunig, fröhlich. Ich hatte ganz vergessen, dass Karnevalszeit war. Alles, nur das jetzt nicht! Nicht ein solches Kontrastprogramm!
Er kam wieder nach oben, streckte den Kopf zur Tür herein.
"Hast du was dagegen, wenn ich dich eine Weile allein lasse? Die wollen draußen vor Robert und Sonjas Tür einen Schneemann bauen. Als Überraschung, wenn sie nachher aus dem Kino nach Hause kommen."
"Geh nur, ich bin sowieso müde, ich werde jetzt schlafen." Ich schloss die Augen und drehte mich zur Seite.
"Bist du wirklich nicht böse, wenn ich jetzt gehe?"
"Nein, nein", sagte ich - und als er fort war, weinte ich mich in den Schlaf.
Seltsamerweise hatte ich geschlafen wie ein Stein. Robin brachte mir das Frühstück ans Bett.
"Entschuldige", sagte er, "ich wollte dir gestern mit dem, was ich gesagt habe, nicht wehtun. Ich bin eben nur unsicher im Moment, aber ich wollte dich nicht verletzen. Nur, wenn du mich fragst ... Soll ich lügen? Ich weiß, bei mir klingen die Dinge manchmal zu hart. Natürlich hätte ich nicht mitgemacht, wenn ich überhaupt nicht gewollt hätte, ich bin doch keine Marionette!"
Ich richtete mich auf und stopfte mir das Kissen fester gegen den Rücken. Ließ mir dann von ihm das Tablett auf die Beine setzen. Es war nicht das erste Mal, dass sich für Robin die Dinge von einem auf den anderen Tag in einem ganz anderen Licht darstellten. Seit ich ihm vor vier Jahren während der Referendars-Zeit unserer Lehrerausbildung begegnet war und mich unsterblich in ihn verliebt hatte, mich für ihn von meinem Mann trennte und später scheiden ließ. In all der Zeit hatte ich zwischendurch immer wieder in einem Wechselbad seiner Gefühle gesessen. Mal heiß, mal lau, mal kalt, dann wieder heiß - und so weiter. Nicht leicht, sich jedes Mal neu zu orientieren, von Glück auf Unglück, von Euphorie zu Depression, von wattiger Zufriedenheit hin zu alles infrage stellenden Überlegungen. Zuweilen kam ich mir vor wie ein Chamäleon. Immer wieder die Farbe wechselnd, sich der jeweiligen Situation anpassend. Auch jetzt versuchte ich, mich auf die veränderte Stimmung einzustellen, auch wenn es mir schwerfiel.
"Schon gut. Habt ihr euren Schneemann gestern Abend noch fertigbekommen?"
"Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als sie nach Hause kamen!" Er lachte und goss mir Tee ein. "Sie kamen kaum durch die Tür. Du musst dir das Ungetüm nachher ansehen, bevor du zum Arzt fährst. Wie geht es dir überhaupt?"
Es hatte sich nichts verändert. Auch durch die Medikamente nicht. Durch so etwas wie innere Ruhe schon gar nicht. Nicht nach dem, was Robin gestern Abend gesagt hatte. Gut, er hatte in der Tat schon früher davon gesprochen, dass ihm die Entscheidung für ein Kind nicht leichtfiel. Dass ihn auch Bedenken beschäftigten. Mit der Betonung auf auch. Vermutlich hatte ich ihn dabei nicht ernst genug genommen, weil es daneben diese andere Seite an ihm gab. Diesen Robin, der sich aktiv daran beteiligte, dass aus meinem intensiven Wunsch eines Tages Wirklichkeit werden sollte, der bewusst das gesamte Programm mit mir gemeinsam durchzog. Auch wenn das für ihn, genauso wie für mich, nicht immer die reine Freude war. Dass er mir jedoch nun, da die Situation so eingetroffen war, wie ich es mir ersehnt hatte, so klar und deutlich seine im Grunde ablehnende Haltung offenbarte, hatte mich wirklich verletzt. Ausgerechnet in diesem Augenblick, in dem die lang erwartete Schwangerschaft aufs Höchste bedroht war und die Sorge darum mich tief bedrückte.
Der Arzt überwies mich in die Klinik. Abortgefahr. Weil Robin zur Schule musste, fuhr unsere Nachbarin Sonja mich hin. Der Professor untersuchte mich. Mit den Händen, denn Ultraschall gehörte damals noch nicht zum Routineprogramm.
"Ganz klar intrauterin. Das behandeln wir konservativ." Was so viel heißen sollte wie: Es sitzt dort, wo es hingehört, in der Gebärmutter. Therapie: Spritzen, Bettruhe und Beobachtung. Fast eine Woche lang.
Robin brachte zu einem seiner Besuche Alexander mit, meinen Geschiedenen. "Wie kommen Sie nur an all diese schönen Männer?", fragte mich eine Krankenschwester anschließend.
Ich reagierte gereizt, beleidigt, spöttisch. "Vielleicht bin ich eine Granate im Bett, wer weiß?"
Mitleidiges Kopfschütteln bei ihr. Ich muss wirklich furchtbar ausgesehen haben in diesem Zustand!
Und dann - Robin saß gerade an meinem Bett und hatte mir eine Palette Fruchtjoghurt mitgebracht, das, worauf ich im Augenblick absoluten Heißhunger hatte - dann ging plötzlich alles sehr schnell. Schneidender Schmerz schien meinen Unterleib zu zerteilen, der Joghurtbecher entglitt meinen Händen, ich krümmte mich, griff mit einem entsetzten Schrei nach meinem Bauch, bekam kaum noch Luft.
"Mein Gott, sie wird leichenblass!", schrie meine Bettnachbarin. "Um Himmels Willen, tun sie doch was! Rufen Sie die Schwester!"
Robin stürzte aus dem Zimmer, kam mit der Schwester zurück. Die sah mich, rannte wieder hinaus und eilte kurz darauf zusammen mit einer Kollegin auf mich zu. Sie lösten die Sperren an meinem Bett, schoben es auf den Flur, zum Fahrstuhl, zwei Etagen abwärts, aus dem Fahrstuhl wieder heraus, hinein in einen anderen Flur. Ich wand mich weiter in meinen Schmerzen. Wurde von ihnen überrollt, zermalmt, aufgefressen. Die Ereignisse überschlugen sich. Ich registrierte kaum mehr, was in dieser rasenden Geschwindigkeit mit mir geschah. Nahm alles um mich herum wie unwirklich wahr. Wie durch bizarr verzerrendes Glas, hinter dem ein Film lief, den ich nicht klar erkennen konnte. Zu schnell alles, zu unfassbar! Über mir rasten die Neonlampen der Deckenbeleuchtung vorbei, Stimmengewirr, Klappern von Metall, Geruch nach Äther, aber alles weit weg.
Eine Nadel in meinem Arm, meine Beine hochgerissen in die Halteschalen. Der Professor vor mir. Ganz weit weg auch, was er zu mir sagte. "Ich steche jetzt den Douglasschen Raum an. Wenn Blut kommt, müssen wir sofort operieren ..."
Ein Gesicht über mir. Bis auf die Augen verdeckt hinter einem Mundschutz. Ein Stich mehr, kaum merklich hinter anderem Schmerz, dann Auflösung der Konturen, wegschwimmen, abtauchen, nichts mehr.
Sie hatten Robin nach Hause schicken wollen, aber er war nicht gegangen. Langsam wurde sein Gesicht neben mir wieder deutlicher. Meinen Bauch beschwerte ein Sandsack.
"Ich hab es verloren, nicht wahr?"
Er nickte und griff nach meiner Hand.
"Du kannst froh sein, dass du noch lebst. In deinem Bauch war schon alles voller Blut. Es saß nicht in der Gebärmutter, es saß im Eileiter. Wenn sie dich erst von zu Hause hätten abholen müssen, hättest du es nicht mehr geschafft. Gut, dass du schon hier warst." Er streichelte meinen Arm und rückte näher an mich heran. "Sei nicht traurig, Schatz, vielleicht war es besser so."
"Ja, vielleicht", sagte ich leise und spürte, wie mir Tränen die Wangen herunterliefen. "Vielleicht war es besser so ..."