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ОглавлениеNachdem wir unseren Schulleitern vom Kauf des Hofes erzählt hatten, versprachen sie, unsere achtzehn Wochenstunden nach den Sommerferien im Plan so zu verteilen, dass wir an jedem Donnerstagnachmittag losfahren könnten. Unter Umständen wäre es bei einigen Stunden Nachmittagsunterricht auch zu organisieren, uns montags erst mit den letzten zwei oder drei Stunden beginnen zu lassen, so dass uns drei volle Tage ohne Hin- und Rückreise blieben.
Natürlich begann nun die Zeit der Versetzungsanträge. An beiden Schulen ernteten wir mitleidiges Lächeln, Achselzucken. "Gott, habt ihr fromme Wünsche. Versetzt zu werden wäre für einen schon schwer genug. Das kann Jahre dauern. Und was macht ihr, wenn sie nur einen von euch ... ?"
Über eine solche Möglichkeit hatten wir noch gar nicht nachgedacht.
Jemand hatte versucht, durch das Kellerfenster in unseren Bereich einzubrechen. Die Verriegelungen an der Kellertür waren verbogen, die Schrauben gelockert. Wir sahen deutlich, dass jemand kräftig daran gerüttelt haben musste. Wirklich ins Haus zu gelangen war den Einbrechern offenbar jedoch nicht gelungen. Zum Glück hatten wir an den Türen zum Keller und zur Diele inzwischen zusätzliche Riegel und Schlösser angebracht.
"Jetzt hab ich aber genug von diesem Theater", schimpfte Robin und suchte in der Futterküche nach einem Dietrich. "Lass uns wenigstens nachschauen, ob dort noch Möbel oder andere Sachen von Auerbachs herumstehen. Wir können ja wieder abschließen, wenn da noch was von denen ist."
Ich sah ihm dabei zu, wie er versuchte, mit dem Dietrich das Türschloss zu öffnen. Es dauerte eine geraume Weile, doch dann hatte er es geschafft. Auerbachs hatten bis auf zwei Kisten mit Gerümpel alles ausgeräumt. "Dafür muss man uns hier nicht aussperren - für zwei blöde Kisten mit Gerümpel!", schimpfte nun auch ich.
"Weißt du was?", Robin packte eine der Kartons, "Die schaffen wir jetzt in die Garage. Danach holen wir neue Schlösser aus Fürstenau, und dann ist der Auerbach-Fall für mich hier gegessen. Dann können sie sich die Schlüssel, die sie noch haben, irgendwo hinschieben."
"Ich dachte eigentlich, dass wir ihnen genug entgegen gekommen wären." Ich fühlte mich getäuscht. "Schade, man kann kaum jemandem mehr trauen. Glaubst du, dass es Auerbachs waren?"
"Die oder ihr Makler", vermutete er. "Sie haben wahrscheinlich die Kaminbauteile gesucht."
Und die hatten wir vorsorglich in unseren Wirtschaftsraum geschafft. Noch wussten wir nicht, ob sie diesem Makler tatsächlich gehörten. Erste kleine Wermutstropfen in unserem euphorischen Tatendrang.
Wir waren froh darüber, dass Robins Bruder Konrad sich bereit erklärt hatte, beim Ausstemmen der Rinnen für die Heizungsrohre zu helfen. Am frühen Nachmittag erwarteten wir ihn mit seiner Familie. Noch am Morgen, machten wir uns daran, das für den Garten geplante Stück der wilden Wiese umzugraben, Queckenwurzeln und das übrige Unkraut herauszuwühlen und schließlich in den sandigen Boden einige Kohlpflänzchen zu setzen. Damit war der Anfang unseres Gemüsegartens geschafft, und ich konnte mich auf den Weg nach Fürstenau machen, um frische Vorräte für uns und unseren Besuch einzukaufen.
Als ich zurück kam, standen zwei Fahrräder am Straßenrand. Ich wunderte mich und war neugierig, wer uns in der Einsamkeit besuchen gekommen war. Ich ließ daher die Einkäufe zunächst im Wagen, um nach hinten in den Garten zu gehen und nachzuschauen.
Neben unserem frisch angelegten Gemüsebeet unterhielt Robin sich gut gelaunt mit einem jungen Paar, das sich offenbar interessiert unsere kleinen Kohlpflänzchen zeigen ließ. Die kleinen Hunde tanzten mir freudig japsend entgegen, wuselten mir um die Beine. Robin drehte sich herum und sah mir entgegen.
"Da kommt Christine", sagte er. "Sieh nur, wir haben Besuch. Unsere Nachbarn wollten schauen, was sich bei uns tut." Dann stellte er sie mir vor. "Das ist die Lilo, und das der Franz."
"Unsere nächsten Nachbarn?", fragte ich und schaute mich um. "Wo denn? Norden, Süden, Osten oder Westen?"
"Dort drüben hinter dem Wiechholz." Lilo deutete nach Süden, wo der Wald einen kleinen Schlenker zum Osten hin machte. "Im Winter, wenn die Bäume kein Laub tragen, könnt ihr unsere Dächer durch die Äste schimmern sehen."
"Na ja, ein Kilometer wird wohl zwischen uns liegen", brummte Franz. "Robin hat uns schon erzählt, dass ihr das Stadtleben leid seid. Das hier ist etwas anderes als diese kleinen Parzellen in einer Siedlung, bei denen sich ein Haus an das andere reiht, was? Hier hat man noch genug Platz, um sich aus dem Wege zu gehen, wenn einem danach ist."
"Habt ihr dort hinter dem Wald auch einen Hof?"
"Wir selbst nicht. Er gehört meinen Eltern", sagte Franz. "Wir durften uns auf ihrem Gelände nur ein zusätzliches Häuschen bauen."
"Na ja, und Hof ist vielleicht auch ein bisschen zu viel gesagt", grinste Lilo. "Die Gebäude sehen vielleicht noch danach aus, aber er wird nicht mehr bewirtschaftet. Wir ackern nur noch für den Eigenbedarf."
"Mein Vater ist inzwischen in Rente", verriet uns Franz.
"Wir haben einen riesigen Gemüsegarten. Der macht Arbeit genug", ergänzte Lilo, lächelte mich weiter an und musterte mich sehr genau.
"Ja, es stimmt, was Lilo sagt, Geld verdienen wir nicht mehr mit der Landwirtschaft. Das machen wir inzwischen woanders. Schon lange."
"Gibt es hier überhaupt noch Bauern, die ihr Geld nur mit der Landwirtschaft verdienen?", fragte ich. "Unser Bauer Heinz hat das hier auch nur noch nebenbei gemacht. Eigentlich schade, nicht wahr?"
"Ja, schade", sagte Lilo. "Doch es lohnt sich einfach nicht mehr. Die kleinen Bauern haben heute kaum noch eine Chance. Ein paar Schafe, Enten und Hühner und natürlich Gemüse gibt's bei uns. Eben alles, was man für den Eigenbedarf so braucht - so wie ihr das auch vorhabt. Kommt doch einfach mal vorbei. Ich finde es richtig toll, dass hier endlich Leute in unserem Alter wohnen. So quasi um die Ecke. Eine gute Nachricht nach der schlechten der letzten Woche."
"So? Was gab es denn in der letzten Woche?", wollte ich wissen.
"Da hat sich eine unserer Nachbarbäuerinnen mit einer Flasche Weinbrand und einer Dose E605 auf die Gartenbank gesetzt und umgebracht", erzählte Franz und schaute hinüber zum Wiechholz, streckte seinen Arm in Richtung Westen. "Dort drüben hinter dem Wald. Wenn ihr auf dem anderen Weg, nicht auf dem asphaltierten, Richtung Schale fahrt, passiert ihr noch ein paar Höfe. Auf einem von denen war das."
"Um Gottes Willen!" Mich schauderte bei dem Gedanken. "Weshalb hat sie das denn getan?"
"Niemand weiß es", sagte Lilo, "aber man vermutet, dass sie verzweifelt war, weil ihr Mann eine Freundin hat. Außerdem muss er sie ziemlich schlecht behandelt haben. So erzählt man sich zumindest im Dort. Damit ist sie wohl nicht fertig geworden, hat das Gift genommen und die halbe Flasche Weinbrand in sich hinein geschüttet. Jedenfalls lag beides neben ihrer Bank auf der Wiese, als man sie fand."
Kopfschüttelnd schaute ich in die Richtung, in die Franz gedeutet hatte. Eine schreckliche Nachricht, fand ich, und etwas von diesem unangenehmen Gefühl ergriff wieder Besitz von mir.
"Ach, aber das ist noch nicht alles", schwatzte Lilo munter weiter. "Vor ein paar Wochen ist der Sohn eines anderen Nachbarbauern zwischen die Schaufeln des Mähdreschers geraten. Klar, dass von dem armen Mann nicht viel übrig geblieben ist. Er war gerade fünfunddreißig geworden."
"Und eure Nachbarin dort drüben", ergänzte Franz die Beschreibung des lokalen Schreckens und deutete in die entgegengesetzte Richtung, "hatte gleich zwei Schläge zu verkraften. Zuerst verlor sie ihren Mann. Er ist beim Kirschenpflücken von der Leiter gefallen und war sofort tot. Dabei hat er die Kirschen nicht mal für sich, sondern für Freunde gepflückt. Ja, und kürzlich hat man ihr selbst beide Beine amputiert."
"Himmel, das sind ja entsetzliche Nachrichten! Weshalb hat man das denn gemacht?"
"Zu viel geraucht vermutlich", spekulierte Franz mit angezogenen Schultern. "Sie ist auf jeden Fall operiert worden, und jetzt sind sie weg." Wohl eher aus Verlegenheit grinste er dabei, als sei alles nur ein Scherz.
"Ja, ja. Ist schon eine seltsame Gegend hier", sinnierte Lilo und zeichnete dabei mit dem Schuh kleine Halbkreise in den sandigen Boden. "Man munkelt, direkt unter uns hier", und dabei tippt sie mit der Fußspitze ein paar Mal in den Sand, "gäbe es eine Menge alter Hünengräber. Die Leute im Dorf erzählen wilde Geschichten darüber. Auf alten Karten sind sie sogar zum Teil eingetragen. Dort bei euch auf dem Grundstück zum Beispiel, hinten auf der Wiese", und sie deutet auf die Wiese vor dem Wald, "der große Stein dort, der ein Stück aus dem Boden ragt. Darunter könnte noch eines sein."
Sie musste den Stein meinen, über den ich einige Wochen zuvor fast gestolpert war. "Ein Hünengrab könnte darunter liegen, sagst du? Ach ..." Im Geiste sah ich mich schon auf Schliemanns Spuren mit dem Spaten in der Hand.
"Alles Quatsch. Ammenmärchen. Nichts weiter. Da wollen sich nur einige Leute wichtig tun", fuhr Franz Lilo an und klopfte Robin auf die Schulter. "Schlimm, diese Frauen, was? Immer vermuten sie gleich einen tieferen Sinn oder irgendeinen geheimnisvollen Kram hinter allem."
"Aber es ist wirklich viel passiert hier, das musst du zugeben. Neulich auch in ...."
"Jetzt hör auf damit!" Franz stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite. "Sieh dir Christine an. Du machst ihr Angst mit deinem Geschwafel."
Der Gedanke, dass sich alles so nah ereignet hatte, weckte tatsächlich Unbehagen in mir. Robin stand, auf seinen Spaten gestützt, mit der Steilfalte auf der Stirn einfach nur da und wiegte in der für ihn typischen Geste den Kopf.
"Ja, manchmal kann das Leben schon hart sein", meinte Franz und fragte nach unseren weiteren Plänen. Ich war jedoch innerlich noch damit beschäftigt, diese schrecklichen Nachrichten zu verdauen. Konnte nicht so rasch umschalten und tun, als sei dies eben eine ganz normale Unterhaltung gewesen. Irgendwo in mir arbeitete es. Ich schaute mich um. Sah nachdenklich hinüber zur Wiese mit dem Stein, zum Wald, in die Richtung, in der die Nachbarin wohnen musste, der nun die Beine fehlten.
"Wie kann man so weit draußen leben ohne Beine? Wie schafft sie das nur mit der Arbeit? Und dann auch noch ohne Mann?", fragte ich. "Wie kann man ein Stück Land im Rollstuhl bewirtschaften? Das geht doch gar nicht."
"Sie hat einen erwachsenen Sohn", erklärte Lilo. "Der muss jetzt alles machen."
"Da kann sie froh sein, dass sie damit nicht allein ist", murmelte ich.
Robin begann davon zu erzählten, dass wir gedächten, den Kuhstall zu einer zweiten Wohnung auszubauen. Offenbar war auch ihm soviel Tod und Krankheit nicht geheuer. "Die wollen wir dann vermieten, damit hier jemand ist, wenn wir zur Arbeit sind im Ruhrgebiet."
"Habt ihr schon Leute, die bei euch einziehen wollen?"
"Wir werden annoncieren müssen."
"Meine Cousine sucht dringend eine Wohnung", sagte Franz und wechselte schnell den Blick mit Lilo. "Die sucht mit ihrem Mann seit Monaten nach einer neuen Bleibe. Mensch, das hier wäre einfach ideal für die beiden, meinst du nicht auch, Lilo?"
Lilo nickte. "Könnte schon sein, dass sie sich dafür interessieren. Erstens lieben auch sie das Leben weit draußen, und zweitens wären sie dann nahe bei uns, müssten nicht mehr so weit fahren." Sie beugte sich zu mir herüber, griff nach meinem Arm und grinste mich an. "Die Männer schlucken hier nämlich ordentlich was weg. Hier auf dem Land musst du ohnehin aufpassen, wenn du mit dem Wagen unterwegs bist. Die nehmen das hier mit dem Alkohol nicht so genau."
Die Vorstellung, möglicherweise bald Mieter für den Kuhstall zu haben, hob meine Stimmung wieder. Auf diese Weise nähme uns der Zufall die lästige Suche nach Mietern ab. Zeitungsanzeigen, Besichtigungstermine, ständig neue Gesichter, und doch keine Sicherheit, ob wir die richtige Wahl treffen würden. Vielleicht war es gar nicht schlecht, an Leute zu vermieten, die jemand aus der Nachbarschaft schon kannte.
Die Steilfalte teilte Robins Stirn zwar noch immer, doch in seinen Augen las ich, dass auch ihm dieser Gedanke recht angenehm erschien. Natürlich waren wir uns im Klaren darüber, dass es schwierig werden könnte, die passenden Mieter für eine so weit außerhalb gelegene Wohnung zu finden. Auch wenn wir die Gegend traumhaft fanden, diese Einsamkeit musste nun wirklich nicht jedermanns Sache sein. "Dann könnten sie auch gleich mit entscheiden, wie sie die Wohnung gern hätten", überlegte er - auf seinen Spaten gestützt. "Kein schlechter Vorschlag. Wenn das klappte, liefe es ja wie geschmiert."
"Was glaubt ihr denn, wann alles fertig sein wird?", fragte Lilo. "Die sitzen so sehr auf heißen Kohlen, dass sie lieber heute als morgen umziehen würden."
"So bald wie möglich natürlich, aber wir können uns nicht zerteilen", sagte Robin. "Ich schätze Anfang September. Ja, schickt sie ruhig vorbei, nicht wahr, Christine?"
Natürlich sollten sie das. Wenn uns die Arbeit rasch von der Hand ginge, könnte das Haus also bereits nach den Sommerferien bewohnt und auf diese Weise unter ständiger Aufsicht sein.
In der Gesprächspause, die nun entstand, schauten beide sich um. "Gehört schon einiges an Pioniergeist dazu, ein Objekt wie dieses in Angriff zu nehmen, was? Zuerst würde ich diesen Giebel begrünen", meinte Franz schließlich und deutete auf das Haupthaus. "Wie wäre es mit Wildem Wein? Wilden Wein kann man einfach abschneiden und in die Erde legen. Der geht meistens an, und ihr braucht keine Pflanzen aus der Gärtnerei. Wenn ihr wollt", bot er an, "schneide ich bei uns ein paar der überhängenden Triebe ab und bringe sie euch vorbei. Je eher ihr sie im Boden habt, desto schneller wachsen sie an der Wand hoch. Sollte man machen, bevor es zu heiß wird."
"Jetzt gleich schon?" Robin sah sich zum Haus um.
"Warum nicht jetzt gleich? Umso eher könnte der Wein anwachsen und der Giebel wäre schneller grün."
"Das sähe wirklich hübsch aus", fand ich, sah das Ergebnis im Geiste schon vor mir und freute mich über das Angebot. "Wenn es dir nichts ausmacht noch mal herkommen zu müssen? Wir bekommen gleich Besuch, und dann liegt für heute Nachmittag hier eine Menge Arbeit an."
"In Ordnung, dann bring ich euch nachher rasch eine Tüte voll vorbei und bin sofort wieder weg", grinste Franz.
Motorengeräusche näherten sich. Vor unserem Haus verstummten sie. "Das muss mein Bruder sein.". Robin stieß den Spaten in den Boden und klopfte sich die Erde von den Händen. "Wir werden uns später noch sehen." Schon ein paar Schritte auf dem Weg nach vorn, winkte er beiden noch einmal zu.
Franz, Lilo und ich folgten ihm langsam. Am schmiedeeisernen Gartentor verabschiedete auch ich mich von ihnen.
"Falls ihr mal frische Milch wollt, auf dem Hof hinter uns könnt ihr sie bekommen. Quasi direkt von der Kuh", rief Lilo, schon auf dem Weg zu ihrem Fahrrad. Und Franz fügte mit einem Grinsen hinzu: "Keine Angst, das sind nicht die Leute mit dem E605-Selbstmord. Dort leben sie alle noch."
Robins Bruder Konrad und Schwägerin Leonie waren aus dem Wagen gestiegen und reckten sich nach der langen Fahrt erst einmal die Glieder. Unsere kleinen sieben- und vierjährigen Nichten Andrea und Stefanie kamen freudestrahlend auf uns zugelaufen und begrüßten uns mit der gewohnten, fröhlichen Umarmung.
"Ich wollte es fast nicht glauben", sagte Konrad und legte Robin den Arm um die Schulter. "Unterwegs dachte ich, verdammt noch mal, ich hab bei der Wegbeschreibung doch genau hingehört und alles notiert. Aber dann ging es hinter diesem Dorf immer weiter und weiter hinaus, und wir konnten uns schon nicht mehr vorstellen, dass es so weit draußen noch ein Haus geben könnte."
Leonie fächelte sich Luft zu. "Gott, war das heiß im Wagen." Dann ließ sie ihre Augen schweifen und verzog ein wenig skeptisch das Gesicht. "Die Lage ist ja wirklich ein Traum, aber das Haus?" Ein wenig angewidert, genauso wie Robin und ich es beim ersten Mal getan hatten, sah sie sich nach der Scheune um. "Mit den Gebäuden müsst ihr aber noch einiges anstellen, bis man die schön finden kann."
"Wir haben Fantasie, Leonie." Mit ausgebreiteten Armen ging ich auf sie zu und küsste ihr zur Begrüßung die Wange. "Und Zeit. Wir haben doch so viel Zeit."
"Hoffentlich auch genug Geld", entgegnete sie mit einiger Skepsis. Die Kinder betätschelten inzwischen die aufgeregt an ihnen hochspringenden Hunde
So schön es auch war, hier Ruhe und Einsamkeit genießen zu können: jetzt, nach all den seltsamen Geschichten über Tod und fehlende Beine, war ich froh darüber, dass sie gekommen waren. Es tat gut zu wissen, dass Konrad uns helfen würde, zumal bestimmte Arbeiten für mich einfach zu schwer waren.
"Wir haben etwas Feines mitgebracht", schmunzelte Konrad und öffnete den Kofferraum. Dort hatten sie neben einigen Klappstühlen ihren kompletten Gasgrill verstaut. Konrad tauchte mit seinem Oberkörper hinein, wühlte etwas aus einer der hinteren Ecken des Kofferraumes und hielt mir dann einen Plastikbeutel voller Grillfleisch, entgegen. "Wir waren nicht sicher, ob ihr genug Stühle für uns habt", zwinkerte er mir zu, und Robin half ihm, die Klappmöbel aus dem Kofferraum zu heben. Gemeinsam schafften wir alles an den Tisch hinter dem Haus. Ich kochte Kaffee und trug ihn zusammen mit dem Kuchen aus Fürstenau nach draußen. Dort herrschte inzwischen ausgesprochen fröhliche Stimmung.
Die Männer arbeiteten im Kuhstall, und die beiden Mädchen erkundeten, zusammen mit den Hunden, die Umgebung. Sie durchstreiften die Wiesen und waren hinter dem Gebüsch bald nicht mehr zu sehen. Nur ihre Stimmen drangen weiter zu uns herüber.
Leonie und ich wechselten hinüber zum Lagerfeuerplatz. Sie zog sich einen der Liegestühle aus dem Schatten der Kastanie, ließ sich hinein fallen, stellte ihre Wasserflasche neben sich ins Gras und streckte ihre Glieder. "Jaaa", seufzte sie ausgiebig, "sooo kann man es aushalten.
Ich mochte mich der Sonne lieber nicht allzu sehr auszusetzen, blieb mit meinem Stuhl unter der ausladenden Krone des Baumes, kramte die Baumwolle aus meinem Korb und begann damit, ein neues Gardinchen für das Upkammerfenster zu häkeln.
"Hast du für mich auch etwas zu tun?", fragte Leonie, die Augen mit der flachen Hand gegen das Licht abschirmend.
"Im Moment eigentlich nicht."
"Na dann." Sie grinste und lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück. "Gott sei Dank. Ich bin auch faul heute, hatte während der Woche so viel zu erledigen."
"Freu dich nicht zu früh", kicherte ich. "Wenn der Garten fertig ist, darfst du beim Unkrautjäten helfen. Heute hast du noch Schonzeit. Wir lassen es uns einfach mal gut gehen und genießen die Sonne."
"Schön. Genießen wir die Sonne. Unsere armen Männer", seufzte sie. Sie schloss die Augen und döste träge vor sich hin.
Ich häkelte ein paar Reihen des neuen Spitzengardinchens, hatte dafür ein neues Muster im Kopf und beeilte mich, weil ich gespannt auf seine Wirkung war. Das Summen der Insekten über den blühenden Wiesen wurde immer wieder übertönt vom lauten Hämmern aus dem Haus. Staubschwaden drangen aus dem geöffneten Fenster und verwirbelten über dem Stall, schwebten fast bis hinüber zu uns. Bei dieser Hitze musste die Arbeit im Haus für die Männer alles andere als die reine Freude sein.
Wie aus dem Nichts trat Franz plötzlich mit einer Plastiktüte voller Weintriebe zu uns an den Lagerfeuerplatz. Wir hatten sein Kommen in unserer trägen Abwesenheit gar nicht bemerkt, und so räusperte er sich, ehe er fragte, ob er kurz mal stören dürfe.
Sofort machte ich Anstalten, mich aus meinem Liegestuhl zu erheben, doch er meinte, ich solle um Himmels Willen sitzen bleiben, er sei ohnehin – wie besprochen - nur auf dem Sprung. Dann stellte er die Tüte neben meinem Liegestuhl ins Gras. "Das müsste eigentlich reichen. Wenn sie nicht angehen, versuchen wir es einfach noch mal."
Er hob kurz zum Abschied die Hand und war wieder verschwunden. Leonie öffnete blinzelnd die Augen. "War da gerade jemand?"
Ich griff nach der Tüte. "Der Nachbar hat uns Wilden Wein für den Giebel gebracht. Bleib nur liegen, ich werde ihn rasch in die Erde schlämmen, damit er nicht vertrocknet."
Die feuchten Hände wischte ich an der Latzhose ab, ehe ich meinen Stuhl ein wenig weiter in den Schatten zog, das Häkelzeug wieder aus dem Korb nahm und mich setze. Leonie schien eingeschlafen. Franzs Anwesenheit hatte mir die schrecklichen Geschichten des Vormittags zurück gebracht. Mir schwammen immer wieder Bilder von Menschen ohne Beine, toten Nachbarinnen auf Gartenbänken und menschenfressenden Mähdreschern durch den Sinn. Nur schwer konnte ich diese Szenarien abschütteln, und sie beschäftigten mich, während ich in der mir inzwischen zur Gewohnheit gewordenen Geschwindigkeit meine Schlingen in das Garn zog. Die Geräusche aus dem Haus waren verstummt. Robin und Konrad schienen eine Pause eingelegt zu haben.
"Meinst du, du kannst deinen Kummer mit der Kinderlosigkeit hier ein wenig vergessen?", fragte Leonie unvermittelt in die summende Stille und riss mich damit wieder heraus aus meinen unheilvollen Gedanken.
Zu oft hatte ich mich seit Jahren bei ihr ausgeweint, als dass dieses Problem nicht immer noch ein Thema zwischen uns gewesen wäre. So kam ihre Frage für mich nicht sehr überraschend. Ich hielt in meiner Arbeit inne, legte das Häkelzeug in den Schoß, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Zumindest habe ich schon lange nicht mehr darüber nachgedacht."
"Kann es sein, dass dies hier auch wieder ein wenig Flucht in die Aktion ist?"
Ich musste lachen. "Flucht in ein neues Projekt, meinst du?" Ich überlegte einen Augenblick und fragte mich das selbst noch einmal. Auch die politische Arbeit in Erkenschwick hatte von Problemen - wie die Fehlgeburt zum Beispiel - abgelenkt. Probleme, die ich nicht ständig anschauen wollte. "Ja, vielleicht ist es auch eine Flucht. Unter anderem - vielleicht."
"Wovor genau fliehst du, Christine?"
Ich räusperte mich. "Nicht mehr vor der Kinderlosigkeit, denke ich. Aber sicher hat unsere Beziehung sich verändert, und ich bin nicht sicher, ob diese Veränderung mir gefällt. Da ist mit den Jahren zwar ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen, aber unser Sexualleben ist nach der Fehlgeburt damals ziemlich müde geworden, muss ich zugeben. Es war in der Zeit davor wahrscheinlich zu sehr 'Arbeit' und zu wenig Vergnügen." Ich konzentrierte mich einen Moment auf mein Häkelmuster, sah dann wieder zu Leonie herüber. "Aber ist der Sex wirklich so wichtig, wenn man sich ansonsten gut versteht?"
"Für mich schon", grinste Leonie.
"Nun ja", ich grinste zurück. "Da ist halt jeder anders."
"Herrje, man hört gar nichts mehr, wo stecken sie nur?" Leonie stand abrupt auf und hielt Ausschau nach den beiden Mädchen.
"Keine Angst", beruhigte ich sie und nahm mein Häkelzeug wieder auf. "Hier werden sie wohl nicht verloren gehen."
"Na, schau mal einer an. Meine Blumenkinder. Die pflücken doch tatsächlich Wiesenblümchen. Selbst die Große. Niedlich." Sie atmete tief ein, lächelte und setzte sich wieder. Währenddessen fischte ich konzentriert nach der Masche, die sich dem Zugriff meiner Nadel hartnäckig verweigern wollte. Nachdem ich das Problem in den Griff bekommen hatte, nahm ich unseren Gesprächsfaden wieder auf. "Natürlich fände ich es schöner, wenn es beim Sex auch zwischen Robin und mir wieder besser klappen würde. Ich erinnere mich gut, dass wir in den ersten Jahren, als ich mir meine Fruchtbarkeit noch nicht beweisen wollte, kaum aus dem Bett kamen. Aber unter diesem entsetzlichen Druck haben wir unsere Lust schlicht und ergreifend tot gebumst."
Tot gebumst. Es traf die Sache auf den Punkt, und ich litt darunter, dass mir Robins Streicheln mittlerweile eher unangenehm war, dass ich sogar davor floh ihm körperlich nah zu sein, weil ich ständig befürchtete, er könnte weiter gehen, als ich bereit war zuzulassen. Auch für mich ein bedrückender Zustand, und ich hoffte, dass es sich wieder ändern würde - irgendwann. Denn ich liebte ihn und konnte mir nicht vorstellen, mit einem anderen Mann zu leben.
"Ich glaube, dass ein Projekt wie dieses unsere Beziehung eher festigen kann." Wieder ein verlegenes Lachen. "Nun ja, sagen wir mal: ich hoffe es. Und was unsere körperliche Flaute anbetrifft ..." Ich machte wieder eine kleine Pause und fühlte mich zurück versetzt in eine dieser Situationen, über die wir gerade redeten. "Sexualität war für mich eine Weile eben nur noch Druck. Aber was sollten wir auch machen? Wir mussten ja den Schlafplan einhalten. Ich hab mich immer schon innerlich zurückgezogen, wenn ich mich in irgendeiner Form unter Druck gesetzt gefühlt habe. Dazu kam, dass mich Robins lustloses Gesicht beim Ausziehen verletzt hat. Sicher konnte ich ihn auch verstehen, denn für mich war es ja ebenfalls Stress. Auch mich hat ja nicht gerade das Verlangen nach erotischen Hochgenüssen auf die Matratze getrieben, doch bis dato hatte ich immer gedacht, Männer können und wollen immer und sind froh über jede Gelegenheit. Das war schon mal eine Fehleinschätzung, und dabei zweifelte ich natürlich heftig an meiner erotischen Ausstrahlung. Schizophren – irgendwie, ich weiß ..."
Sie zuckte mit den Schultern. "Nun ja, bei Pflichtübungen machen auch Männer schon mal schlapp. Aber nun glaubst du, wird es wieder bergauf gehen?"
"Ich weiß nicht. Der Kick der ersten Jahre wird wohl nicht wieder zurück kommen. Doch wo gibt es den schon noch - nach so langer Zeit? Vielleicht haben auch sexuelle Bedürfnisse so etwas wie ein Verfallsdatum - selbst bei Leuten, die keinem Kinderwunsch hinterher hecheln." Ich zwinkerte zu ihr hinüber. "Du bist da anscheinend eine der rühmlichen Ausnahmen."
Sie lächelte, schob sich die Arme hinter den Kopf. "Scheint so. Bei mir ist ohnehin einiges anders gelaufen als bei dir. Ich brauchte die Hose immer nur ans Bett zu hängen, da war's dann auch schon passiert. Peng waren sie da, meine Flower-Power-Damen."
"Nun ja", seufzte ich mit einem Blick hinüber zur Weide, auf der das Löwenzahngelb und das Wiesenschaumkrautweiß nicht weniger zu werden schien, obwohl die Mädchen unermüdlich weiter pflückten. "Ich delegiere das Gebären in Zukunft und lasse es demnächst die Viecher für mich erledigen. Die werden ja wohl hoffentlich nicht die gleichen Schwierigkeiten haben wie ich." Ich strich das Häkelzeug auf meinen Knien glatt. Ja, so langsam konnte man eine Struktur erkennen. Sah schon recht nett aus. "Aber verstehst du", fuhr ich fort, "irgendwo in mir wird wohl diese leise Wehmut darüber bleiben, dass fast alles in der Natur so funktioniert, wie es funktionieren soll. Alles - außer mir. Irgendwie fühle ich mich manchmal, als habe ich als Frau fürchterlich versagt."
"Moment", unterbracht Leonie mich. "Wieso versagt? Von versagen kann man nur sprechen, wenn man einen Verlauf beeinflussen kann, wenn man Möglichkeiten nicht wahrnimmt, wenn man eine Chance hatte nicht zu versagen. Hattest du eine derartige Chance?"
Nachdenklich schüttelte ich den Kopf. "Nein, offenbar nicht. Doch da ist etwas nicht in Ordnung bei mir, verstehst du? Ich fühle mich wie eine Fehlkonstruktion. Ich funktioniere nicht. Nicht so wie du, wie Nele, Lydia, Sonja ..."
Leonie richtete sich auf, nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, spuckte ihn jedoch gleich wieder aus. Angewidert fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Lippen. "Bah, viel zu warm!"
"Wird Zeit, dass wir hier einen Gefrierschrank haben. Dann könnte ich Eiswürfel machen. Ich hol gleich neues Wasser aus der Futterküche."
Die Häkelreihe wechselte, und ich musste mich einen Moment lang wieder auf meine Arbeit konzentrieren. "Diese Gedanken hab ich aber wirklich nur manchmal, Leonie. Denk jetzt nicht, ich wühl da ständig in mir herum. Ich finde es einfach nur noch schade, dass ich irgendwann sterben werde, ohne einen Teil von Robin und mir neu in den Kreislauf des Lebens zurückgegeben zu haben. Ein Stück von uns, das über uns hinaus weiterlebt. Und wenn ich andere - auch euch - mit euren Kindern erlebe, komme ich mir manchmal vor wie ein Neutrum. Als hätte ich die weibliche Reifeprüfung nicht bestanden. Verstehst du?"
"Na, na, na." Sie lachte. "Du scheinst den Schwerpunkt einfach falsch zu setzen. Weshalb konzentrierst du dich darauf, was du nicht kannst und übersiehst dabei völlig, was dich ansonsten ausmacht? Mein Gott, wenn ich daran denke, was du auf die Beine gestellt hast seit ich dich kenne. Schau jetzt mal nur, wie blitzartig du zum Beispiel dieses wunderhübsche Teil da gehäkelt hast." Sie deutete auf das Ergebnis auf meinem Schoß. "Halt mal hoch und lass sehen."
Ich straffte die fertigen Reihen und hielt sie in die Höhe. Inzwischen war das Muster zu erkennen.
"Himmel, was für eine gnadenlose Fummelei. Ich würde mir die Finger brechen dabei. Aber super sieht es aus. Arbeitest du dich da quer durch? Von Zacke zu Zacke sozusagen? Wie heißt das, sagst du, Filethäkelei? Seltsame Bezeichnung. Mir würde bei 'Filet' eher das Wasser im Mund zusammen laufen." Wieder lachte sie und ächzte, während sie sich aus ihrem tiefen Liegestuhl erhob. "Zeig mal her." Sie nahm mir das Gardinenfragment aus der Hand.
"Hmm. Interessant. Die geschlossenen Kästchen bilden also die Figur, die man gegen das Licht sieht. Schön. Soll das ein Schmetterling sein?"
"Sieht es so aus?"
Sie nickte.
"Na gut, dann ist es einer." Jetzt musste auch ich lachen.
Leonie gab mir meine Handarbeit zurück, ging neben mir in die Hocke und setzte sich ins Gras. "Ich denke, jeder hat seine Aufgaben im Leben. Jeder muss damit leben, was ihm gegeben ist."
"Ach, Leonie, denkst du denn, das weiß ich nicht?" Ich legte meinen Arm um ihre Schulter. "Es ist ja auch nicht so, dass ich ständig dieses Schicksal beweinen würde und nichts anderes mehr im Kopf hätte. Wenn du damit jetzt nicht angefangen hättest, hätte ich nicht mal dran gedacht. Es hat sich viel verändert in mir. Bin heute sogar manchmal froh, dass ich nicht mehr an Verhütung denken muss."
Leonie sah zu mir hoch und tätschelte meine Hand. "Das beruhigt mich. Ich hatte fast den Eindruck, du säßest immer noch in diesem Loch." Sie lehnte sich an den Stamm der Kastanie und schloss die Augen. Ich nahm meine Arbeit wieder auf, hörte, wie die Mädchen auf der Wiese lachten und die Hunde bellten. Offenbar war nach dem Blumenpflücken nun Fangenspielen an der Reihe.
"Manchmal sehe ich mein Leben wie einen Spaziergang durchs Moor", nahm ich das Thema wieder auf. "Je weiter ich gehe, um so vertrauter werden mir die Wege, um so besser kenne ich mich in diesem Moor aus, um so geschickter weiche ich den sumpfigen Fallen aus. Ich weiß wo sie auf mich lauern, und ich weiß inzwischen auch, wie ich den Fuß wieder herausbekomme aus diesem Morast, wenn ich irgendwo stecken geblieben bin. Vielleicht helfen mir Projekte wie dieses, das Loch, in dem ich zeitweise gesessen und gelitten habe, nach und nach immer weiter zuzuschütten. Vielleicht brauche ich Herausforderungen - oder nenn es ruhig Ablenkung. Was ist verwerflich daran?"
"Verwerflich ist daran gar nichts. Ich frage mich nur, ob es sinnvoll ist, sich von einem Projekt ins nächste zu stürzen. Aber frag mich nicht, was genau man dagegen tun könnte. Keine Ahnung, nur so ein Gefühl."
Die Kinder stürmten an uns vorbei – gefolgt von Dulle, die versuchte, Stephanies Wade zu erwischen. Blumen flogen in Leonies Schoß. Ein atemloses: "Verwahr die mal kurz für mich, Mama. Ich will mir daraus nachher einen Kranz binden. Wann gibt's was zu essen?" Und ehe eine von uns antworten konnte, waren sie auch schon wieder weg, rannten mit wehenden Haaren in Richtung Scheune.
Einmal angestoßen konnte ich mich kaum lösen von unserem Thema. "Von einem Projekt ins nächste", wiederholte ich langsam ihre Worte. "Flucht. Vor dem Gleichmaß, vor dem stinknormalen Alltag. Ja, kann schon sein, dass es das ist. Ich brauche eben ständig neue Aufgaben, muss Dinge formen und verändern können. Hier kann ich das, denke ich. Ich spüre, es wird mir gut gehen dabei. Warum soll ich es dann nicht machen?"
"Dass du dich im Augenblick gut dabei fühlst, glaube ich dir unbesehen", lächelte sie, während sie Stephanies angequetschte Blumen aus ihrem Schoß sammelte und zu einem Sträußchen drapierte. "Ich bin auch sicher, dass hier ein kleines Paradies entstehen wird. Wenn ich daran denke, wie Häuschen und Garten in Erkenschwick aussahen, bevor ihr es in die Finger bekamt. Für mich hätte die Vorstellungskraft nicht gereicht. Nie im Leben. Erinnerst du dich noch, wie skeptisch ich auch damals schon war?"
"Ja, daran erinnere ich mich gut. Und ich merke, dass du schon wieder skeptisch bist. Es ist doch nicht nur die Sorge, dass ich vor mir selbst auf der Flucht sein könnte, du findest auch, dass wir uns das falsche Haus ausgesucht haben. Du findest hier alles furchtbar hässlich, nicht wahr?" Ich versuchte, Robins Steilfalte auf der Stirn nachzuahmen und sah sie gespielt grimmig an. "Gib es zu!"
"Ich muss gestehen, ich hätte an deiner Stelle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und die Flucht ergriffen." Sie zog eine Grimasse, als habe sie in eine Zitrone gebissen, und drehte sich zum Haus um, wies in seine Richtung. "Sieh dir doch nur diese grässliche Scheune an, dieses hässliche Haus. Ja, und dann dieses wilde, völlig unbearbeitete Land. Ich bewundere dich für deine inneren Augen. Ich hätte absolut keinen Schimmer, wo ich da anfangen sollte. Aber du siehst schon wieder vor dir wie es hier später einmal wird, stimmt's?"
Ich nickte lächelnd und packte mein Häkelzeug zurück in den Korb. Jetzt, da meine Neugierde, was die Wirkung des Musters anbetraf, gestillt war, hatte ich plötzlich keine Lust mehr. "Ja, ich sehe es. Und es gelingt mir, mich auf dem Weg dahin auch über die kleinen Schritte zu freuen. Über dieses winzige Gemüsebeet, das wir heute Morgen geschafft haben, zum Beispiel. Komm mal mit. Hier wird es jetzt ohnehin wieder laut und ungemütlich." Im Kuhstall hatte der Boschhammer seine lautstarke Arbeit wieder aufgenommen. Ich erhob mich und reichte Leonie die Hand, damit sie sich mit meiner Hilfe auf die Beine ziehen konnte. Sie klopfte sich den Po ab, und wir gingen hinüber in den zukünftigen Gemüsegarten.
"Schau, wie das kleine Beet dort drüben fast verschwindet." Wir stapften durch das hohe Gras. "Aber ist es nicht schön?" Ich bückte mich und strich sanft über die Blätter der kleinen Kohlpflänzchen, die Robin und ich vor wenigen Stunden in die Erde gesetzt hatten. "Ich kann es kaum erwarten, das wachsen zu sehen."
Leonie hatte Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen und hüstelte in die vorgehaltene Faust. "Also, ich will dich ja jetzt nicht, aber – nein, doch, es ist wirklich toll."
"Ja, spöttele du nur", brummte ich, richtete mich wieder auf und knuffte sie in die Seite. "Ich weiß ja, ich weiß, es ist ein ziemlich popeliger Anfang. Aber es ist ein Anfang."
Mit beiden Händen stützte ich meinen Rücken ab und sah hinüber zum Wald. Sie hatte ja Recht. Aber ich hatte das Gefühl, dies hier könnte genau der Ort sein, an den ich gehörte, der mich vielleicht sogar brauchte, um seine ganze Schönheit entfalten zu können. Eine meiner Lebensaufgaben, wer weiß? Wir würden dieses Gelände in einen Garten, in einen Park, in ein natürliches Kunstwerk verwandeln, diese hässlichen Gebäude in ein Märchenschloss. "Ach, ich finde es einfach schön hier, Leonie. Die Arbeit macht mir unheimlichen Spaß, und es hält eben, so lange es hält. Basta."
"Sicher. Zumindest so lange, bis diese Aufgabe unter Umständen auch wieder drückt oder an Reiz verliert."
"Oh Gott, ja. Wenn man immer wüsste, was das Leben einem bereit hält. An so etwas will ich jetzt noch nicht denken." Ich hakte mich bei ihr unter, und wir stapften langsam zurück zum Lagerfeuerplatz. "Jetzt freue ich mich erst einmal auf ein schönes Haus, auf einen wundervollen Garten. Jetzt will ich genießen, all das hier langsam wachsen sehen. Ich habe nicht vor, mir über solche Eventuell-Und-Vielleicht-Dinge jetzt schon den Kopf zu zerbrechen."
"Schon gut, schon gut", sagte Leonie und betätschelte beim Gehen meinen Atm, "ich wollte dich nicht verunsichern. Ich mache mir halt meine Gedanken. Schließlich kenne ich dich inzwischen eine ganze Weile. Ich denke, du bist ein Mensch, der sich den ewigen Frühling wünscht. Kannst wenig anfangen mit dem Herbst, was? Mit dem Winter schon gar nichts. Der ist dir zu tot, dauert dir viel zu lange und kommt dir viel zu statisch vor."
"Geht das nicht allen Menschen so?"
"In gewissen Ausprägungen schon. Doch bei dir, meine ich, ist alles eine Nuance extremer. Dein Enthusiasmus beim Anblick einer geschlossenen Rosenblüte. Deine Melancholie, wenn die Blätter fallen. Ich glaube, die Ernte ist dir im Grunde nicht wirklich wichtig. Im Gegenteil, sie macht satt, und du fürchtest dich davor, satt zu sein. Ein wenig Hunger, ein wenig Vorfreude muss immer bleiben, damit du nicht die Lust verlierst, hab ich Recht? Pflanzen und wachsen sehen. Gebären - und dann? Bist du sicher, dass du glücklicher wärst, wenn es geklappt hätte damit?"
"Du meinst: Bekommen aber nicht haben - werden aber nicht sein? Denkst du, dass ich so bin?" Nachdenklich entzog ich Leonie meinen Arm und blieb stehen. "Ich weiß nicht. Vielleicht. Robin jedenfalls scheint mich ähnlich einzuschätzen. Er sagte neulich, wenn dieser Hof schon jetzt das wäre, was ich aus ihm machen möchte, hätte mich das Ganze gar nicht interessiert."
Langsam folgte ich Leonie, die schon einige Schritte weiter war, ihr Glas vom Boden hob, den Inhalt ins Gras kippte, nach Stephanies Blumen griff und nickte. "Ja, auch er scheint dich recht gut zu kennen."
"Sicher, es stimmt schon. Etwas beginnen, etwas aufbauen, das liegt mir einfach eher, als etwas zu erhalten, zu pflegen. Ich meine, ich mach dann zwar weiter, was erledigt werden muss, aber eben nicht mehr so gern, und ich werde unruhig und schiele nach etwas Neuem." Ich lachte ein wenig verlegen. "Wenn ich bedenke, wie oft ich in meinem Leben schon etwas begonnen habe, wie viele erste Spatenstiche ich hinter mir habe. Dabei wäre es auch schön, irgendwann einmal unter einem selbst gepflanzten, großen, alten Baum sitzen zu können." In dieser Weise hatte ich über mich bisher niemals nachgedacht. Ich wollte solche Gedanken im Grunde auch nicht weiter vertiefen. Zumindest nicht in diesem Augenblick. "Ich weiß auch nicht", wich ich daher der unangenehmen Konfrontation mit mir selbst aus. "Was meinst du, sollten wir nicht mal schauen, wie weit unsere Männer mit ihrer Arbeit sind?"