Читать книгу Mylopa - Ulrike Linnenbrink - Страница 6
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ОглавлениеIch weiß nicht mehr, der wievielte Versuch es an diesem Tag war. Aber auf der Apfelwiese vor unserem kleinen Häuschen in Erkenschwick regte sich nach dem Winter das Leben wieder. Pfirsich- und Pflaumenbäume leuchteten rosa und weiß über dem von Tag zu Tag rascher in die Höhe wachsenden Gras. Der immer währende Kreislauf von Werden und Vergehen nahm einen neuen Anlauf, und die Luft des warmen Aprilmorgens war erfüllt von den Düften des Frühlings. Die Nachbarskinder Johanna und Tobias stritten sich um die Schaukel, die Robert aus dem Schuppen gekramt, entstaubt und an den ausladenden Ast eines der alten Apfelbäume gehängt hatte. Dort hing sie in jedem Jahr, und dass sie dort hing, war für alle Bewohner des Krikedillweges wie der Startschuss für das Frühjahr.
Es war Samstag. Robin und ich mussten nicht zur Arbeit in die Schule. Wir hatten vor, wieder einmal loszufahren, um uns einige der Häuser anzusehen, die uns nach unseren Inseraten angeboten worden waren. An solchen Tagen waren wir jedes Mal voller aufgeregter Spannung und hatten keine Mühe, morgens aus dem Bett zu kommen. Liefen nicht - wie sonst üblich - nach dem Frühstück mit der Kaffeetasse in der Hand durch unseren Mini-Garten, um das Wachstum der Nacht zu inspizieren, um unseren Frosch Konrad im kleinen Teich zu begrüßen und zu schauen, ob sich wieder frische Spuren an den Rattenlöchern in unserem Komposthaufen zeigten.
Aufbruchstimmung. Ein neues Ziel, das Veränderungen, Hoffnung versprach. Wie schon so oft in diesem Jahr. Leider waren wir bisher immer enttäuscht zurückgekehrt, ohne auch nur die Spur des Gefühls: Das war es! Das müssen wir unbedingt haben, dafür würden wir hier alles hinter uns lassen! Unsere Umgebung, unsere Freunde. Aber in jeden neuen Versuch setzten wir neue Hoffnung. Jedes Mal waren wir wieder genauso aufgeregt, glücklich, ein neues Ziel zu haben, eine neue Möglichkeit.
"Sind Mütze und Dulle schon im Wagen?" fragte Robin und stellte die Thermoskanne zu dem übrigen Proviant in den Weidenkorb. Unsere beiden kleinen, wuseligen Hunde hatte ich bereits auf dem Rücksitz des Autos verstaut, damit sie uns in der Hektik nicht ständig zwischen den Beinen herumliefen.
"Wir sollten uns beeilen", sagte ich, "Dulle bekaut schon die Sitze. Es ist furchtbar, man kann sie wirklich keine zwei Minuten irgendwo allein lassen. Wenn wir nicht so lange unterwegs wären, würde ich sie lieber nicht mitnehmen."
Unser quirliges Hundebaby hatte ein ausgesprochen analytisches Interesse, sobald man es irgendwo für ein paar Minuten allein zurückließ. Mit Begeisterung nahm es alles auseinander, was seinen spitzen Zähnchen nicht standhalten konnte. Ganz anders als Dulles Mutter, die ich vor vielen Jahren 'Mütze' taufte, nachdem ich sie einem Bauern entrissen und vor dem Ertränken gerettet, sie dann in meiner Wollmütze nach Hause getragen hatte. "Wir sollten uns wirklich beeilen", sagte ich noch einmal und quetschte das Paket mit belegten Broten neben die Thermoskanne mit dem heißen Kaffee.
Robin lachte und hob den Korb vom Küchentisch. "Die Hunde nicht mitnehmen? Hast du nicht gesagt, sie müssen mit entscheiden, wo sie in Zukunft ihre Pinkelplätzchen einrichten wollen?"
Robert und Sonja saßen draußen auf der Bank, unserem gemeinsamen 'Kommunikationszentrum' zwischen den beiden Hauseingängen. Sonja hielt Baby Anna-Lena auf dem Schoß, zog ihr den Sauger aus dem Mund und stellte das Fläschchen mit dem Tee auf den runden Blechtisch davor.
"Geht es schon wieder los?", fragte sie. "Jetzt macht ihr aber Ernst damit, was? Beinahe jedes Wochenende unterwegs? "
"Wir sehen uns erst wieder ein paar Sachen an", sagte Robin. "Vielleicht ist ja auch heute noch gar nichts Schönes dabei."
"Und es muss schon sehr beeindruckend sein, bevor wir das hier aufgeben", sagte ich, sah an der rosenberankten Fassade unseres gemeinsam gemieteten Doppelhauses entlang und fuhr dann dem Baby auf Sonjas Schoß über die Wange.
Es erkannte mich, lachte mich mit seinen wenigen Zähnchen an, streckte mir die kleinen Ärmchen entgegen und stieß ein paar Gigi-Gaga-Ki-Ki-Laute aus. Ki-Ki, das war ich. Christine auf Anna-Lenisch. Leicht würde es mir nicht fallen, alles hier hinter mir zu lassen und die vielen Freunde im Ruhrgebiet nur noch selten zu sehen. Und doch ...
Robin war schon auf dem Weg zu unserem in der Schottereinfahrt geparkten alten VW. Meine quietschgelbe Ente konnten wir heute nicht nehmen. Die war in der Werkstatt. Den VW hatten wir im letzten Herbst völlig abgeschliffen und grün angestrichen. Jede nicht mehr zu vertuschende, immer wieder durch den neuen Lack aufbrechende Rostblüte hatten wir mit einem dieser zur Zeit bei uns sehr in Mode geratenen Umwelt-Aufkleber verdeckt, und so sah unsere ehemalige Rostbeule inzwischen aus wie ein hemmungslos überladener Reklamewagen für Umwelt- und Friedenspolitik.
Vor ein paar Tagen hatten wir eine Annonce aus Hopsten-Schale entdeckt, einem Dörfchen, das uns auf der Rückfahrt von unserer letzten Besichtigungstour durch das Osnabrücker Land äußerst angenehm aufgefallen war. Wie wir später erfuhren, war das auch kein Wunder, denn sie hatten es dort schon mehrmals geschafft, im Wettbewerb 'Unser Dorf soll schöner werden' einen hervorragenden Platz zu belegen.
"Was denn, Sie rufen aus Schale an?", hatte ich den Sohn des Bauern ganz entgeistert am Telefon gefragt. "Ist das nicht dieses entzückende Dörfchen im nördlichen Münsterland? Das mit der romanischen Kirche, (oder war sie gotisch, Robin? Ich werfe das immer durcheinander) und den vielen, hübschen Fachwerkhäusern? Das mit diesem Gasthof Zur Post, dem schon Friedrich der Große einen Besuch abgestattet haben soll? Sprechen wir von Hopsten-Schale...?"
"Das wird es dann wohl sein, aber von romanisch, gotisch oder so hab ich keine Ahnung", hatte er etwas mürrisch gebrummt und den Termin für heute Nachmittag mit mir ausgemacht.
Ich kam mir reichlich fein gemacht vor. Normalerweise lief ich, besonders natürlich an den Wochenenden, aber bis auf wenige Ausnahmen auch in der Schule, in so einer Art Einheitstracht herum. Pumphose mit Latz, möglichst weit und bequem geschnitten, weil ich einige Pfunde mehr wog, seit ich mir das Rauchen abgewöhnt hatte. Dazu T-Shirt und Gesundheits-Sandalen, ab und zu auch ein Halstuch, weil ich am Hals seltsamerweise immer am ehesten fror. Solche Sachen trugen zur Zeit alle Leute, mit denen wir zu tun hatten. Robin sah außerhalb der Schule auch nicht viel anders aus. Latzhose, T-Shirt und bequeme Sandalen.
Für diese Besichtigungstour jedoch hatte ich mir extra einen neuen blauen Rock mit dazugehöriger blau-weiß karierter Bluse und eine blaue Weste gekauft, was dem Ganzen den Eindruck einer beinahe eleganten Kombination verlieh. Dazu trug ich blaue Lederschuhe mit einem kleinen Absatz, der mir beim Laufen Schwierigkeiten bereitete, und ich hatte beim Föhnen an meinen dunklen, widerspenstig krausen, langen Haaren so lange gezogen und gezerrt, bis sie glatt und glänzend auf die Schulter fielen.
Ich fand mich schon fast unangenehm gut gekleidet, fragte mich auch, ob es richtig sei, derart die eigene Persönlichkeit zu vergewaltigen, aber ich hoffte, auf diese Weise bei den fremden Leuten einen besseren Eindruck machen zu können. Auch Robin hatte sich den blonden Vollbart ein wenig gestutzt, war wieder auf bessere Jeans umgestiegen und hatte dazu den flauschigen, grauen Mohairpullover mit den weißen Streifen über der Schulter angezogen. Inzwischen gab es in seinem Schrank eine beträchtliche Auswahl an kreativen Pullovern, die ich ihm bisher aus den unterschiedlichsten, meistens edlen Materialien, mit schon fast süchtiger Begeisterung gestrickt hatte.
Die Landkarte, die wir am vergangenen Wochenende noch brauchten, um diesen verfallenen Kotten bei Bohmte und anschließend, weiter nördlich, das winklig gebaute alte Kötter-Häuschen in Gehrde mit den zwei Linden vor der Haustür (leider auch mit der Schnellstraße in der Nähe) zu besichtigen, war heute nicht nötig. Wir kannten den Weg ja.
Mütze und ihre halbstarke, sehr verwöhnte und ein wenig hysterische Tochter Dulle freuten sich, dass wir endlich zu ihnen an den Wagen kamen, sprangen auf dem Rücksitz durcheinander und brachten sich halb um, so, als hätten wir uns tagelang nicht gesehen. Ich tätschelte beruhigend auf sie ein, verstaute unseren Proviantkorb im Fußraum vor meinem Sitz, und Robin setzte sich hinters Steuer. Die Hinfahrt wollte er übernehmen. Ungern zwar, weil es für ihn kein besseres Schlafmittel als das Autofahren gab, aber ich riss mich auch nicht gerade um den Platz hinter dem Lenkrad, und so musste die Fahrerei irgendwie, und zwar so gerecht wie möglich verteilt werden.
"Na, dann los", sagte er, startete den Motor und winkte mit mir zusammen noch einmal Robert und Sonja zu. Auch die beiden Kinder, Johanna und Tobias hatten sich von ihrer Schaukel getrennt, kamen von der Wiese gerannt und winkten uns hinterher. Dann ließen wir unseren Grünen den kleinen Hügel zur Hauptstraße hinunterrollen und waren auf dem Weg zu unserem neuen Zuhause.
Aber so konkret ahnten wir das natürlich damals noch nicht.
Unsere Bauern hatten sich mitten ins Dorf einen protzigen Neubau gesetzt. Zwischen andere Häuser einer frisch aus dem Boden gestanzten Siedlung. Wir mussten nicht lange suchen, denn zum Glück sind solche Dinge auf dem Lande im Gegensatz zu einem Ballungszentrum wie dem Ruhrgebiet immer sehr gut überschaubar.
Irgendwann gegen vier Uhr, zur Kaffeezeit also, parkten wir auf dem noch lehmigen Randstreifen vor ihrem Haus, ließen die Hunde im Wagen, weil es uns peinlich gewesen wäre, die Leute in ihrem feinen Palast gleich so massiv zu überfallen. Gingen dann langsam auf die doppelflügelige, ebenfalls sehr auffällige Eingangstür zu.
Sie schienen uns trotz der fest zugezogenen, dichten Gardinen bereits entdeckt zu haben und öffneten direkt nach unserem Klingeln. Die komplette Familie hatte sich zu unserem Empfang in der Diele versammelt. Die kleine, rundliche Bäuerin, die uns durch eine Zahnlücke freudig anstrahlte, (wobei man allerdings nicht genau erkennen konnte, wen von uns beiden sie eigentlich ansah, da ihre Augen in zwei Richtungen gleichzeitig zu sehen schienen), ihr hagerer, etwas größerer Mann, der uns durch seine dicken Brillengläser musterte, und ein wenig im Hintergrund ein jüngerer Mann mit dunkel gelockter, üppiger Haarpracht. Offensichtlich der Sohn, der mit mir telefoniert hatte.
Nach der Begrüßung führten sie uns in ihr stilmöbliertes Wohnzimmer. Genauso geräumig, wie wir es von außen her erwartet hatten, mit dicken, holzeingefassten Leder-Sitzmöbeln, einer bombastischen Eichen-Schrankwand und überladenen Wänden. Unser Geschmack war das alles nicht, aber wir wollten ja auch weder dieses Haus noch die Möbel darin kaufen. Die Leute zumindest erschienen uns recht freundlich, und wir ließen uns gern von ihrem Leben 'hinter dem Wiechholz' erzählen.
Dabei erfuhren wir, dass der Hof eigentlich schon verkauft war. Seit einem Jahr gäbe es einen Vertrag mit Leuten, die dort so etwas wie eine Pension, Ferien auf dem Bauernhof, aufziehen wollten, erzählten sie uns. Die Familie wohne mit ihren zwei Kindern auch schon drin, habe auch tatsächlich damit angefangen, den ganzen Kuhstall 'kaputtzumachen', um dort Zimmer für Feriengäste zu bauen. Aber mit dem Geld schien es bei denen nicht so recht zu klappen, und man sei inzwischen doch sehr ärgerlich, zumal auch 'dieses wunderschöne neue Haus' nicht umsonst zu haben war.
Nun sitze man auf den immensen Kosten, müsse auch noch etliche Tausender wegen Aufgabe der Landwirtschaft entrichten, und von dem, was aus dem Verkauf zu erwarten gewesen sei, habe man nach einer kleinen Anzahlung, die man inzwischen aber eher als eine Art Pacht ansehe, keinen weiteren Pfennig mehr zu Gesicht bekommen.
Auf Anfragen habe es von Seiten dieser Leute kaum eine Reaktion gegeben, man habe nur immer wieder um zeitlichen Aufschub gebeten, da die Zuschüsse, die man sich erwartet hätte, nicht so flössen, wie zu Beginn angenommen.
Nun sei das Maß jedoch voll, das habe man denen auch unmissverständlich klar gemacht, und nun seien sie endlich damit einverstanden, dass der Hof neuen möglichen Käufern angeboten werde. Den Kaufvertrag habe man bereits entsprechend geändert.
Damit erübrigte sich die Frage, die uns auf der Zunge lag, ob man denn unter diesen Umständen einfach so zu einer neuen Besichtigung hereinschneien könne. Aber ein bisschen komisch war Robin und mir diese Situation schon. Wir schluckten innerlich, sahen uns an. Dann hörten wir weiter zu.
"Für uns war es doch sehr weit außerhalb", sagte die ehemalige Bäuerin Wanda, "zumal mein Mann schon lange woanders gearbeitet hat. Der ist zusammen mit Horst, unserem Sohn im gleichen Betrieb. Die Tochter ist verheiratet, wohnt auch schon lange nicht mehr bei uns, und so blieb die Arbeit auf dem Hof zum Schluss eigentlich nur noch an mir hängen. Schweine habe ich gezüchtet, bis es nicht mehr ging. Man kann sagen, dass dieses Haus hier", und sie fuhr mit dem Arm einen Bogen durch die Luft, "unter anderem auch mit meinem Schweinegeld finanziert wurde. Aber das wurde mir auf die Dauer zu viel, und als ich schließlich diese Krankheiten bekam, ging es einfach nicht mehr. Ohne Auto saß ich dort fest."
Etwas beunruhigt hakte ich nach. "Sie wurden krank?"
"Ja, so eine Art Krebs", sagte sie verlegen. "Nicht richtig. Eine Vorstufe, hat der Arzt gesagt. An der Gebärmutter. Außerdem noch ein paar andere Sachen." Über die wollte sie jedoch offenbar nicht reden. "Zuerst haben wir gedacht, es käme vom Wasser. Wir hatten dort eine Hauswasserversorgung. Eine Bohrung, über vierzig Meter tief."
"Und?", fragte ich gespannt.
"Wir haben es untersuchen lassen. Mit dem Wasser war alles in Ordnung."
"Ja, am Wasser hat es nicht gelegen. Aber das lohnte sich auch alles nicht mehr", bekräftigte der Bauer, der Horst hieß, wie sein Sohn, und kramte aus der massiven, überreichlich, schon fast erdrückend beschnitzten Eichenschrankwand eine Kiste mit Fotos hervor.
Eine leichte Beunruhigung meldete sich in mir. Doch ich schaltete sie rasch wieder ab, indem ich mir sagte, dass die Menschen zu allen Zeiten und überall krank werden. Ein Schluck Kaffee half mir dabei, dieses eigenartige Gefühl schnell wieder hinunterzuspülen.
Bauer Horst reichte uns einige vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos, diese ganz alten mit noch gezacktem Rand, herüber und kommentierte sie.
Dabei erfuhren wir mit Bedauern, dass wir uns auf diesen Bildern Dinge anschauten, die es schon gar nicht mehr gab. Eine niedliche kleine Fachwerkscheune zum Beispiel. Und er erzählte voller Stolz, dass man das 'alte Ding' vor Jahren abgerissen habe, um an die gleiche Stelle einen riesigen, modernen Klotz mit geräumigem Schleppdach zu setzen. "Da passt jetzt wenigstens ordentlich was rein!"
Schade, dachten wir beim Anblick des entzückenden alten Gebäudes. Wie kann man nur?!?
Dann erfuhren wir, dass sie das Gelände auch nicht in langer Familientradition besessen hatten. Bäuerin Wanda kam ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, aus der 'Ecke' Gelsenkirchen, hatte hierher geheiratet und zusammen mit der Familie ihres Mannes das einsame Gehöft hinter dem Wiechholz gekauft. Da lebte der Großvater noch, und er züchtete Schafe auf den Wiesen hinter dem Wald. Das habe sich zwar auch nicht gelohnt, aber es sei doch eine recht schöne Zeit gewesen, und die Bäuerin zeigte uns stolz einige der wunderbaren Dinge, die sie aus der Schafswolle gesponnen und gewebt hatte.
Wir fragten nach dem Baujahr und dem Zustand der Gebäude.
Na ja, das ursprüngliche Haupthaus stamme aus den Zwanzigerjahren, aber die Scheune - wie schon gesagt - sei recht neu. Auch die Verklinkerung des Kuhstalles habe man erst vor wenigen Jahren machen lassen, und es gäbe sogar schon doppelverglaste Fenster. Aber eine Heizung? Nein, die gäbe es nicht, zumindest nicht zentral. Da habe man mit Ölöfen geheizt, und das sei doch immer recht praktisch gewesen. "Natürlich war dort im Winter nicht jeder Raum warm, aber das muss ja auch nicht sein."
Robin und ich wechselten einen raschen, verzweifelten Blick.
"Und das Gelände ist tatsächlich siebentausendfünfhundert Quadratmeter groß?", fragte ich, denn nach allem, was ich bisher gehört und gesehen hatte, erschien mir die Größe des Grundstückes noch am verlockendsten.
"Siebentausendfünfhundert", nickte der Bauer. "Wir haben das für diese Auerbachs extra neu vermessen lassen."
"Natürlich gehört das Land drum herum auch noch uns", ergänzte die Bäuerin und lächelte wieder mit unverhohlenem Stolz durch ihre Zahnlücke. "Schließlich wollten wir nicht gleich alles verkaufen."
Robin räusperte sich und schaute auf die Uhr. "Was ist, sollen wir nicht einfach hinfahren und es uns ansehen?"
Ich wollte auch gern fort aus diesem Wohnzimmer, und ich begann, wegen der Hunde im Wagen unruhig zu werden. An unserem alten Grünen war zwar nicht mehr allzu viel zu zerstören, aber man musste ja nicht unbedingt provozieren, dass Dulle ihre Kauleidenschaft dort weiter an den Sitzen austobte. Außerdem hatten wir die beiden nach der relativ langen Autofahrt noch gar nicht auf die Wiese gelassen. Und der gepflegte Rasen vor diesem Prachtbau erschien uns doch einigermaßen unpassend dazu.
Etwas skeptisch, wie uns schien, betrachtete Bauer Horst unseren alten Wagen, bevor er zusammen mit seiner Familie in seinem eigenen aus der Einfahrt fuhr. Mit Sicherheit wären ihm Zweifel auch an unserer Zahlungsfähigkeit gekommen, wenn wir zuvor nicht versichert hätten, dass wir als Beamte jederzeit kreditwürdig seien und zusammen mit unserer Bausparberaterin sogar schon einmal pauschal abgeklärt hatten, in welchen Größenordnungen wir uns finanziell bewegen durften. Dass dies sich durchaus noch im Rahmen des geforderten Kaufpreises befand, hatte ihm ein beruhigtes Lächeln hinter die Brillengläser gezaubert.
Wir hängten uns an und folgten dem Wagen. Einmal quer durch das Dorf, vorbei an einer kleinen Volksbank und einer Firma für Landmaschinen, bogen dann nach links Richtung Fürstenau ab, blieben eine Weile auf dieser schmalen Landstraße, vorbei an einem wunderhübschen Ententeich mit einer kleinen Insel mittendrin und einer mächtigen Trauerweide darauf, und bogen dann in einer scharfen Linkskurve nach rechts in einen asphaltierten Wirtschaftsweg ab.
Schnurgerade, gesäumt von Erlen, Birken, einigen Nadelbäumen auch und wunderschön wilden Hecken, zog er sich auf eine nächste Biegung zu und lief danach weiter wie auf dem Reißbrett gezogen geradeaus, bis er vor einer weit hinten gelegenen Baumgruppe wieder abknickte. Hinter den bewachsenen Böschungen erstreckten sich frisch umgebrochene, braune Felder oder umzäunte Wiesen, so weit das Auge reichte, knallgelb dann und wann, vom blühenden Löwenzahn, immer wieder auch unterbrochen durch kleine Wäldchen oder Hecken. Auf einigen der Wiesen liefen schon Kühe, und vor dem Wiechholz sprang direkt vor unseren Autos ein Rudel Rehe über den Weg.
Die Fahrt kam mir enorm lang vor. So weit weg vom Dorf hatte ich das Ganze nicht erwartet. Aber die Gegend war atemberaubend schön und so einsam, wie ich es mir erträumt hatte. Mag sein, dass solche Einsamkeit nicht etwas für jedermann ist, doch ich war begeistert. Mein Herz machte kleine Sprünge, als wir das Wiechholz durchquert hatten, der Wald nach einer sanften Rechtskurve den Blick auf weitere Wiesen und das einige hundert Meter entfernte Hofgelände freigab.
Da lag es, Mylopa, umgeben von ein paar alten, mächtigen Eichen, Buchen, Birken, Haselnussgebüsch, Holunder und ausladenden Kastanien. Außer der Scheune, deren Schleppdach sich bis etwa auf die Höhe von zwei Metern an den Boden zog, war von den anderen Gebäuden aus dieser Entfernung noch nicht viel zu sehen.
Eigentlich eher hässlich, dieser erste Anblick. Doch das machte nichts, denn die Lage erschien mir dermaßen traumhaft, dass fast gleichgültig war, wie die übrigen Bauten hinter diesem grauen Koloss aussahen. Gebäude konnte man verändern mit der Zeit. Die Lage musste man so nehmen wie sie war.
Unsere Wagen rollten in die Hofeinfahrt, und wir kamen nebeneinander auf einer Betonplatte zum Stehen. Robin und ich blieben einen Moment sitzen und sahen an der mit rotem Backstein verklinkerten Front entlang, verrenkten uns die Hälse, um uns nach dieser beinahe Furcht einflößenden, grau verputzten Scheune mit ihren gewaltigen grünen Schiebetüren umzuschauen.
Bauer Horst hatte seinen Wagen bereits verlassen, kam auf uns zu und rieb sich die Hände beim Gehen. Die Hunde gebärdeten sich wie wild, kläfften ihn an und sprangen gegen die Wagenscheiben. Wir beeilten uns mit dem Aussteigen, klappten die Sitze vor und ließen die kleinen Kläffer hinaus ins Freie. Blitzartig waren beide auf dem Grünstreifen, der die Betonplatte vom Wirtschaftsweg trennte, und sie gingen wie auf Kommando gleichzeitig in die Hocke. Das schien knapp gewesen zu sein!
Die ehemaligen Stallfenster im neueren Teil des Gebäudes waren durch quadratische, moderne, doppelverglaste Fenster ersetzt und hatten Rahmen aus dunklem Merantiholz. Bei einem klebte noch der Zettel mit der Firmenbezeichnung am Glas.
Wir gingen um die niedrige Mauer auf das Haupthaus zu, vor uns die entsetzlichste Haustür, die ich je gesehen hatte. Sie hatte einen noch unverfugten Vorbau, der wohl nachträglich angesetzt war und wie ein unfertiger Klotz wirkte. Das Dach hörte über ihm einfach auf, so dass der Vorbau oben wie abgeschnitten wirkte. Ehe ich jedoch genügend Zeit hatte, diese Eindrücke auf mich wirken zu lassen, wurde die Aluminium-Haustür geöffnet, und zwei kleine Kinder streckten vorsichtig ihre Köpfe heraus.
"Da sind sie, Mami", rief das Ältere der beiden ins Innere zurück. Gleich darauf erschienen zuerst eine junge Frau, die uns mürrisch entgegen sah, und danach ein Mann im grünen Arbeitskittel. Erst wischte er sich die Hände am Kittel ab, dann begrüßte er uns - etwas verlegen, während seine Frau, ein Kind links, ein Kind rechts, beide Arme um deren Schultern schlang.
Ich nickte ihr zu und versuchte dabei ein Lächeln. Aber auch mir war im Augenblick nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass diese Leute in naher Zukunft auf der Straße stehen würden. Ganz gleich, wer dieses Haus nun kaufen würde. Und spontan überlegte ich, wie lange wir ihnen wohl Zeit lassen würden, falls wir das wären.
In der eher bescheidenen, spartanisch möblierten Diele saß man gerade bei Kaffee und Schokoladenkuchen. Der Raum hatte so gar nichts von den Eingangsbereichen, wie ich sie mir bei alten Bauernhäusern vorstellte. Ein ganz normales Zimmer. Billige Pappmaschee-Türen mit Limba-Furnier. In jeder Wand eine. Ich nahm an, dass sie gegen die ehemaligen, massiven Füllungstüren ausgetauscht worden waren, weil man der Zeit folgen und den alten Plunder loswerden wollte. Bauer Horst nickte selbstzufrieden und bestätigte damit meinen Verdacht.
Die Tür an der Stirnwand gegenüber der Alu-Eingangstür mit Riffelglasfüllung führte, wie man uns sagte, in die ehemalige Küche, die gleichzeitig der Durchgang zum Schweinestall war. Wir schauten kurz hinein und entdeckten drei weitere Türen. Eine rechts um die Ecke und zwei links direkt nebeneinander. Durch eine der beiden Zwillingstüren kam man über eine Steintreppe in ein dunkles Kriechkellerloch, hinter der anderen verbarg sich eine kurze, ziemlich vergammelte, teppichbelegte Holztreppe, die hinauf in die Upkammer, direkt über dem niedrigen Kellerraum führte.
Durch die gegenüberliegende Tür ging es nun in einen Wirtschaftsraum, in dem rechts um die Ecke die großen Behälter der Haus-Wasseranlage standen und links, zur hinteren Eingangstür hin, eine Kühltruhe und eine Waschmaschine. Von dort führte eine massive Holztür hinter das Haus in einen zugigen Raum, den überdachten Durchgang zum alten Stall. Aus Bauer Horsts Erzählungen wussten wir bereits, dass diesem alten Fachwerkgebäude um ein Haar das Schicksal erspart worden war, ebenfalls abgerissen zu werden.
Wir kehrten wieder um und schauten uns einen anderen Trakt des Hauses an. Nichts war wirklich schön. Nichts hätte man so lassen können wie es war. Doch mein inneres Auge sah anders. Baute bereits um.
"Eigentlich hatte ich vor, auf Dauer den ganzen alten Kram hier dazwischen wegzuhauen", sagte Bauer Horst, "und Zimmer für Zimmer neu hochzuziehen. Mit diesem hier haben wir angefangen, und wir wollten so lange weitermachen, bis wir den Anschluss an den neuen Kuhstall gehabt hätten."
Um Gottes Willen! Wie gut, dass ihr vorher ausgezogen seid!, dachte ich, schaute aus dem Fenster der besten Stube und bewunderte die ausladenden Rhododendrenbüsche vor dem Haus. Noch hielten sie ihre Blütenknospen fest verschlossen, aber was für eine Pracht mochten sie sein, wenn wir erst Mitte Mai hätten.
Nach einer Weile landeten wir wieder in der Diele bei den Kindern mit den vom Schokoladenkuchen verschmierten Gesichtern. Wir folgten dem Bauern durch die letzte Tür, die von der Diele aus in den neueren Bereich führte. Diesmal ging es in Richtung Kuhstall.
"Hier wollten wir das Frühstückszimmer für unsere Gäste machen", erzählte die junge Frau, und sie sah dabei gar nicht glücklich aus.
Der erste wirklich schöne Raum mit einer Abtrennung aus alten Eichenbalken, etwa zwei Meter dahinter eine frisch gezogene Wand und ein offener Mauerdurchlass zum Stall. Wir befanden uns auf einer inzwischen stillgelegten Baustelle. Von einem langen Mittelflur gingen rechts drei, links zwei kleine Zimmerchen, Duschräume und Toiletten ab.
"Ja, und hier sollten die Leute schlafen und Urlaub machen", sagte der Mann im grünen Kittel, und meine Fantasie richtete sich im Frühstückszimmer schon die Küche ein.
Wir schauten überall kurz hinein, traten schließlich am Ende des langen Flures durch die neue Eingangstür aus Holz und befanden uns wieder draußen vor der Scheune. Ich fühlte mich noch immer erschlagen von diesem Ding. Es schüttelte mich ein wenig, und fast taten mir die beiden Island-Pferde Leid, die hinten im Schleppdach in provisorisch zusammen gezimmerten Boxen standen. Als wir zu ihnen herein kamen, hörten sie für einen Moment damit auf, Heu aus den Raufen an der Wand zu zupfen und schauten sich mit großen, mir traurig erscheinenden Augen kauend nach uns um.
Doch dann geschah es. Wir liefen am Schweinestall und einem daran anschließenden, vor Altersschwäche fast zusammenbrechenden Holzschuppen entlang nach hinten auf das Gelände, und ich weiß noch heute, wie mir beim Blick unter den Kronen der Kastanien hinweg, über die Wiesen bis hinüber zum Wald, fast das Herz stehen blieb. Mich durchströmte ein solches Glücksgefühl wie ich es nie zuvor und selten danach wieder erlebte, und ich bin sicher, dass ich es nie wieder in der gleichen, gewaltigen Intensität erleben werde. Das war ganz einfach Liebe auf den ersten Blick.
Seit diesem Augenblick weiß ich, dass es so etwas gibt. Das Gefühl, endlich irgendwo angekommen und zu Hause zu sein. Etwas, das sich wie eine warme Decke um die Schulter zu legen scheint und eine Geborgenheit gibt, nach der man zeitlebens auf der Suche war. Wie eine warme Woge überrollte mich dieses Gefühl, riss mich mit in einem wilden inneren Sturm, und ich ahnte, ja, ich wusste: Robin ging es ebenso.
Er schaute mich an und lächelte, und auf dem Rückweg, einmal ganz herum um den Schweinestall bis an die südliche Grenze des Geländes, schlang er mir den Arm um die Schulter und zog mich mit sanfter Gewalt an sich heran. Wir hatten beide genug Vorstellungskraft, um im Geiste aus dem unbearbeiteten, von Unkraut überwucherten Land wundervolle Staudenbeete, neue Räume schaffende Hecken und Obstwiesen entstehen zu lassen. Mit vielen immer wieder anderen Gelegenheiten zum Sitzen und der Möglichkeit, aus unterschiedlichen Perspektiven unsere zukünftige Idylle betrachten zu können. Mit Wasserflächen auch, unter der Sonne glitzernd, umgeben von üppiger heimischer Vegetation und vielen der Findlinge, die wir auf dem Weg hierher überall an den Ackerrändern herumliegen gesehen hatten ...
Wir hatten genug gesehen, verabschiedeten uns von Auerbachs, versprachen der Bauersfamilie, dass wir uns bei ihnen melden würden, so bald wir uns endgültig entschieden hätten, luden die Hunde wieder ins Auto und krochen zurück Richtung Dorf. Mussten uns dabei immer wieder umsehen und konnten uns kaum losreißen von diesem Anblick.
Nach ein paar hundert Metern hielten wir an, wendeten in einer Weideneinfahrt und fuhren zurück. Diesmal wollten wir uns alles noch einmal allein und aus der Ferne ansehen. Unsere Wolldecke auf der Wiese ausbreiten, den Picknickkorb aus dem Wagen holen, uns mit Frikadellen, Eiern, Kartoffelsalat, Tomaten, ein paar Broten und Kaffee ins Grüne hocken, essen, schauen und nachdenken.
Die Hunde tobten ausgelassen über den Acker nebenan, und Robin lag auf dem Bauch, hatte das Kinn in die Hände gestützt und sah hinüber zum Hof. "Was meinst du?", fragte er nach einer Weile.
"Ich denke, wir sollten es kaufen", sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee. "Wir könnten von unterwegs gleich anrufen."
Zuerst wieder diese Steilfalte auf seiner Stirn. "Wir werden uns bis unter die Achseln verschulden." Dann jedoch lächelte er und griff über dem Korb nach meiner Hand. "Meinst du wirklich? Hast du diese entsetzliche Haustür bemerkt? Diesen angeklatschten Flachdach-Anbau?"
"Ja, furchtbar!"
"Aber die Gegend hier ist einfach toll. Nirgends hatte ich bisher ein so gutes Gefühl. Du etwa?"
Ich schüttelte den Kopf. "Und zu teuer ist es eigentlich auch nicht."
"Im Geiste sehe ich schon den Garten vor mir", sagte er, "und aus den Gebäuden könnte man etwas machen."
"Glaubst du, dass das Wasser wirklich in Ordnung ist?" Ein wenig von meiner Beunruhigung war offenbar noch da. Obwohl es wirklich tragisch wäre. Jetzt, da mein Herz hier schon Wurzeln geschlagen hatte.
"Denkst du, dass sie lügen? Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Außerdem, dann wären ja auch die anderen krank geworden", sagte Robin und wischte damit dieses eigenartige Gefühl schnell wieder fort.
"Stimmt. Am Wasser wird es wohl nicht gelegen haben."
Kein Gedanke mehr daran, uns auch das andere Haus noch anzuschauen. Das bei Osnabrück, das eigentlich für heute Nachmittag noch mit auf dem Plan stand.
Es begann zu dämmern, und wir packten unsere Sachen wieder zusammen. Fuhren noch einmal langsam am Hof vorbei, weiter geradeaus, nahmen einen anderen Weg zurück, als den, auf dem wir hergekommen waren. Ein Stück weiter südlich vom Dorf landeten wir wieder auf der Hauptstraße. Gleich an der nächsten Telefonzelle hielten wir an.
"Das ging aber schnell!", wunderte sich Horst-Junior, der bei unserer Bauernfamilie offensichtlich für den Telefondienst zuständig war.
"Ich weiß", lachte ich, "wir wundern uns über uns selbst."
"Und nun?"
"Sag deinen Eltern, sie sollen uns Bescheid geben, wenn sie einen Termin beim Notar haben."
"Klar, mach ich."
Zurück bei Robin im Wagen musste ich tief durchatmen. "Hätte nicht gedacht, dass die Entscheidung für ein Haus so aufregend sein kann." Irgendwie war mir bei aller Freude nach diesem Telefonat ein wenig unheimlich zu Mute. Ich hatte Tatsachen geschaffen.
Robin lächelte und strich mir über die Schulter. "Vielleicht muss das so sein, wenn man sein erstes eigenes Haus kauft."
Als unser Grüner den kleinen Hügel in Erkenschwick wieder hoch kroch, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob wir eine gute Entscheidung getroffen hatten. Auch dieses Häuschen in Erkenschwick leuchtete uns heimelig entgegen. Robert und Sonja hatten die Außenbeleuchtung eingeschaltet, und aus ihrem Küchenfenster floss warmes Licht über die Frühlingsblumen im Vorgarten. Weiß strahlte uns in der Dunkelheit das Fachwerk zwischen den schwarzen Balken entgegen. Das sah sehr romantisch aus. Auch hier war es schön geworden in den letzten Jahren, und es gab liebe Menschen, eine Menge Freunde in unserer Nähe.
"Wie kann man sich nur so unprofessionell für ein Haus entscheiden?", fragte Mark, und er wirkte dabei fast ärgerlich.
Er war mit Robins Kollegin Lydia und dem gemeinsamen Baby Jan im Kinderwagen zum Sonntagnachmittags-Kaffee zu uns gekommen. Wie jedes Mal nach unseren Hausbesichtigungen wollten sie wissen, was wir gesehen hatten, wie wir uns entscheiden würden. Wir hatten schon davon gesponnen, ein solches Projekt unter Umständen auch gemeinsam zu verwirklichen. Vor Monaten in der Aufregung um die Cadmium-Möhren. Als die Planung dazu jedoch konkreter wurde, begannen sie, sich vor der eigenen Courage zu fürchten und waren wieder abgesprungen.
"Habt ihr euch das Mauerwerk genauer angesehen? Gab es dort Feuchtigkeit? Was ist mit dem Dach?"
"Natürlich halsen wir uns keine absolute Bruchbude auf", entrüstete sich Robin. "Für wie blöd hältst du uns eigentlich? Die Substanz scheint nicht schlecht. Daraus kann man etwas machen. Das Dach wirkte noch relativ neu. Jedenfalls das über dem Hauptgebäude. Oder hast du bemerkt, Christine, dass dort Pfannen fehlten oder kaputt waren?"
Ich schüttelte heftig den Kopf, obwohl ich darauf nicht unbedingt hätte schwören können.
"Woher bekommt ihr das Trinkwasser?", hakte Mark nach und versetzte mir damit gleich wieder einen leichten Stich. "Und wie wird das Abwasser entsorgt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gemeinde sechs Kilometer lange Leitungen verlegt hat."
"Wir sind doch nicht die ersten Menschen, die dort leben", sagte ich. Langsam schon ein wenig ärgerlich, weil mir Marks ewige Skepsis auf die Nerven ging und meiner inneren Unruhe neue Nahrung gab. Aber so war er. Er liebte es auch sonst, Euphorien zu zerpflücken, war der nüchterne Realist, der Pragmatiker unter uns.
"So weit ich das richtig verstanden habe, kommt das Trinkwasser über eine Pumpe tief aus dem Boden, ja? Eine Hauswasseranlage also. Wer weiß, wie alt die schon ist. Vermutlich sind inzwischen alle Leitungen marode."
"Du musst immer gleich das Schlimmste annehmen", wehrte ich ab.
"Das Abwasser jedenfalls wird in der ehemaligen Güllegrube aufgefangen", ergänzte Robin. "Ein Nachbarbauer kam bisher ein oder zweimal im Jahr und pumpte sie leer. Den werden wir fragen, ob er das für uns auch macht."
"Normalerweise nimmt man zu so was einen Gutachter mit", meinte Mark weiter ganz entschieden und konnte unsere Blauäugigkeit offenbar gar nicht fassen. "Überlegt doch mal, ihr kauft euch nicht eben mal kurz ein Paar Schuhe oder irgendeinen anderen Kleinkram. Ich finde, bei solchen Summen muss das schon gut überlegt sein, die habt ihr ein Leben lang am Hals. Und wenn ihr dann noch massiv investieren müsst, na prost Mahlzeit."
"Jetzt mach ihnen bitte ihr Häuschen nicht weiter madig", mischte Lydia sich ein und tupfte ihrem Baby mit der Stoffwindel die Spucke vom Mund. "Du könntest das doch auch nicht besser beurteilen."
"Weiß ich. Will ich ja auch gar nicht", trotzte Mark sie an. "Ich sag nur, da müsste eigentlich erst einmal ein Profi ran."
Mir fiel das Gutachten wieder ein, das mir Herr Auerbach beim Abschied in die Hand gedrückt hatte. Er hatte es erstellen lassen, um seine Finanzierung damit durchzubekommen. Aber da sich das inzwischen erübrigt hatte, brauchte er es nicht mehr. Der Wert des Hauses war darin fast mit dem Doppelten des Kaufpreises angegeben. Robin und ich hatten es zwar einigermaßen skeptisch gelesen, aber auch wir würden es gut gebrauchen können. Ein überzeugendes Argument für unsere Bank.
"Der war schon dran", grinste ich Mark ironisch an und erzählte den beiden davon.
"Warum hast du das nicht gleich gesagt?" Unser Skeptiker wirkte ehrlich erleichtert.
Lydia verdrehte spöttisch die Augen und betätschelte seine Schulter.
"Siehst du? Du kannst dich wieder abregen, mein Bester! Habt ihr wenigstens Fotos gemacht?", fragte sie dann und stopfte ihrem inzwischen laut schreienden Jan den Schnuller wieder in den Mund.
Nein, an Fotos hatten wir natürlich überhaupt nicht gedacht. Aber das würden wir bei der nächsten Gelegenheit gleich nachholen.
"Wir fahren sicher in ein paar Tagen wieder hoch. Ich nehme an, dass wir irgendwann in der kommenden Woche dort unseren Termin beim Notar bekommen", sagte ich. Und zu Robin gewandt: "Dann dürfen wir auf keinen Fall den Fotoapparat vergessen."
Robin nickte, warf einen prüfenden Blick über die Tassen und stand auf, um aus der Küche den frisch aufgebrühten Kaffee zu holen.
"Und? Wie fühlt ihr euch jetzt mit dieser Entscheidung?", fragte Lydia mich. "Könnt ihr einfach so weg? Ihr habt hier doch auch eine Menge Arbeit hineingesteckt. Wenn ich mir vorstelle, wie das Haus aussah, bevor ihr hier wohntet."
"Was mir fehlen wird, seid ihr und all die anderen Freunde. Außerdem, noch sind wir nicht versetzt. Es kann unter Umständen Jahre dauern, bis das klappt. Ich hab schon zu Robin gesagt, ich rechne im günstigsten Fall mit fünf Jahren. In der nächsten Zeit wird dieser Hof wohl zu unserem Wochenenddomizil werden."
An der Haustür läutete es.
Robin kam mit dem Kaffee zurück und brachte Pia, Gregor und Bastian mit zu uns heraus auf die Terrasse. Bastian musste sich unter der niedrigen Tür ebenso bücken wie Robin. Sie waren beide etwas zu groß geraten für diesen Durchgang. Bastian war ein hübscher, langer Kerl, und die meisten Single-Frauen unseres Freundeskreises schwärmten heimlich für ihn. Weil sein Gymnasium sich mit meiner Hauptschule den Schulhof teilte, liefen wir während der Pausenaufsicht oft freundschaftlich untergehakt durch die Menge der Schüler, und so blieb es nicht aus, dass sie auch uns deshalb kichernd eine heimliche Affäre unterstellten.
"Ich hab schon gehört, man kann gratulieren", schmunzelte Pias Freund Gregor mich an und drückte mir seinen Begrüßungskuss auf die Wange.
Pia stellte die drei zusätzlichen Kaffeetassen vor uns auf den Tisch und legte eine Tüte mit Kuchenteilchen dazu.
"Hier, falls jemand Lust auf Kuchen hat. Wir sind noch schnell an der Bäckerei vorbeigefahren. Aber ich hab nicht lange Zeit, ich sag es gleich. Zu Hause wartet ein Stapel Aufsätze auf mich. Die liegen schon seit zwei Wochen da. Ich konnte mich einfach noch nicht aufraffen. Aber so langsam werden meine Süßen ungeduldig. Ich hab sie ihnen für Montag versprochen." Dann umarmte sie mich auch. "Hoffentlich habt ihr euch das gut überlegt", sagte sie dabei. "Im Frühling erscheinen manche Dinge schöner, als sie sind."
"Sag ich doch!", rief Mark und war froh, in Pia jemanden gefunden zu haben, der seine Skepsis teilte.
"Sie ist nur neidisch. Ihr müsst das nicht so ernst nehmen", meinte Gregor und schüttete sich und den anderen Kaffee ein. "Wir suchen inzwischen auch ein Haus, in dem wir uns und unsere Möbel zusammenwerfen können. Aber wir haben noch keines gefunden."
"So weit weg aus dem Ruhrgebiet würde ich auch gar nicht wollen. Das platte Land wäre nichts für mich", sagte Pia und erzählte von dem Tanzlehrgang bei Pina Bausch in Köln, zu dem sie sich wieder angemeldet hatte. "Zu solchen Sachen müsste ich dann ja noch weiter fahren. Ich gehe davon aus, dass es dort oben kein anständiges Theater gibt, keine Kinos, keine interessanten Kneipen. Keine Kultur eben. Jedenfalls nichts, was man zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen kann. Ohne solche Dinge würde ich eingehen auf dem Lande. Nur Garten, Viecher, Natur und Einsamkeit. Nicht einmal eine anständige Autobahnanbindung. Nein, das wäre nichts für mich. So was passt besser zu dir, Christine. Robin hat offenbar auch Spaß daran. Aber ich kann mir Gregor zum Beispiel niemals als Gemüsebauern vorstellen."
Mein Einwand, dass Münster nur eine knappe Autostunde entfernt sei, war für sie kein Argument. "Du kannst nicht mal spontan dort einen Altstadtbummel machen. Zumindest darfst du dabei nichts trinken. Du musst anschließend immer wieder in dein Auto."
Nun ja, Robin und ich waren ohnehin nicht die spontanen Kneipengänger. Schon seit einigen Jahren nicht mehr.
Wir mussten den drei Hinzugekommenen noch einmal alles erzählen, jeden Winkel beschreiben, das Ganze schließlich auf ein Blatt Papier zeichnen.
"Und diesen Teil, meint ihr, kann man zu einer Mietwohnung machen?" Dabei tippte Bastian auf den ehemaligen Kuhstall, in dem Auerbachs ihre Ferienzimmer geplant hatten.
"Gleich in den Sommerferien fangen wir damit an", sagte Robin. "So einsam, wie der Hof liegt, muss er bewohnt sein, so lange wir noch nicht versetzt sind."
"Und das kann dauern. Für einen allein ist es ja schon schwer, und ihr seid zu zweit, da doppelt sich das Problem. Gib mir doch bitte mal die Milch, Lydia", sagte Pia, rührte durch ihren Kaffee und wirkte ein wenig gestresst. So sehr ich sie auch mochte, Pia und unser Freund Mark hatten manchmal etwas unangenehm Realistisches, fand ich.
"Was die anderen wohl sagen werden, wenn sie hören, dass ihr tatsächlich fortgeht?", kicherte Lydia und zog den Hals ein wenig ein, als erwarte sie Nackenschläge. "Die rechnen im Grunde doch schon damit, dass ihr euch für den Stadtrat aufstellen lasst."
"Ich weiß", sagte ich, "aber darauf werden wir wohl keine Rücksicht nehmen können. Ich glaube einfach, dass jeder bei sich selbst anfangen muss mit den Veränderungen. Außerdem fühle ich mich nicht abgebrüht genug, um große Kämpfe im Parlament durchzustehen."
Bastian verschluckte sich fast an seinem Kaffee und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Als unser Besuch wieder gegangen war, setzten Robin und ich uns an unseren Küchentisch, holten einen neuen Bogen Papier heraus und zeichneten unser zukünftiges Gelände noch einmal auf. Unterteilten es in kleine Einzelbereiche, planten die Anlagen des Vorgartens, des Gemüsegartens, überlegten, wie wir die Weiden verteilten und wohin die Teiche gehörten. Das Gebiet hinter dem Schleppdach sollte zur Mietwohnung gehören, ebenso wie der Platz, an dem jetzt noch der alte Schuppen stand, so dass auf die Dauer den Mietern auch ein großes Stück Land zur Verfügung stehen würde. Vielleicht würden sie ebenfalls Vieh halten oder einen Gemüsegarten haben wollen. Auf das Schotterstück zwischen Scheune und ehemaligem Kuhstall würden wir Erde auftragen, um ihnen dort eine Wiese als Sitzplatz und ein Blumenbeet direkt vor der Haustür anzulegen. Mit einem Zaun als Sichtschutz zum Wirtschaftsweg hin vielleicht.
Wir versanken begeistert in unsere zeichnerischen Träumereien, planten, verwarfen wieder, zeichneten neu und ließen uns schließlich doch jede Möglichkeit offen. "Wir werden sehen, was sich vor Ort ergibt."
Wir machten Feuer in unserem Kaminofen, hockten uns davor und spannen die Fäden weiter. Erst sehr spät gingen wir zu Bett, konnten vor Aufregung lange nicht einschlafen. Jeder zeichnete weiter an den inneren Bildern. Konnte nicht loslassen und abschalten. Bis der Schlaf irgendwann doch übermächtig wurde.
In der Nacht saß ich dann plötzlich aufrecht im Bett. Ich war aus einem Alptraum aufgeschreckt. "Robin", flüsterte ich ein paar Mal leise. So lange, bis ich es mir endlich gelungen war, ihn ebenfalls zu wecken.
"Was ist?", flüsterte er durch die Dunkelheit zurück.
"Ich habe Angst!"
"Wovor?"
"Vor allem. Meinst du nicht, wir übernehmen uns?"
Um meinen Brustkorb lag ein Eisenring, und ich spürte, wie mir die Augen feucht wurden. Die bedrohlichen Bilder des Traumes drückten mich noch immer wie eine schwere Last. Standen noch immer vor mir in ihrer erstaunlichen Realität.
Robin richtete sich in seinem Bett etwas auf und streckte einen Arm nach mir aus. "Komm mal rüber, du Hase Cäsar", lachte er leise belustigt, und ich kroch hinüber an seine Brust.
"So kennt man dich ja gar nicht." Beruhigend streichelnd wischte er mir über den Rücken. "Hast du schlecht geträumt?"
"Ich glaube ja." Schluchzend drückte ich mein Gesicht an seines und fühlte mich für den Moment sehr hilflos. Diesen Luxus erlaubte ich mir nicht oft. In der Regel war ich es, die die anderen stützte, ihnen Kraft gab. Immer schon.
"Kannst du dich noch daran erinnern?", fragte er. "Erzähl ihn mir."
"Da war eine Krake. Sie wollte mich ins Meer ziehen. Mit riesigen Fangarmen. Und dann war da ein Berg im Wasser, aber ich kam einfach nicht hinauf. Die Wände waren zu schleimig, zu glitschig. Ich rutschte immer wieder ab und konnte mich nicht retten. Und dann schnappten plötzlich Ratten nach mir. Ein Heer von Ratten im Wasser. Ich habe nie so viele Ratten auf einmal gesehen. Es war furchtbar, Robin."
Er hielt mich fest in seinem Arm, streichelte mich weiter und sagte eine Weile gar nichts. Ich weinte mich aus. Brauchte ein paar Minuten, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen.
"Das mit dem Haus ist ja auch eine wichtige Entscheidung, Schatz. Natürlich macht so etwas zunächst Angst", versuchte er weiter, mich zu beruhigen. "Aber du wirst sehen, wenn es morgen früh wieder hell ist, sieht die Sache ganz anders aus."
Ich ließ die letzten Schluchzer aus mir heraus, realisierte mehr und mehr, dass alles nur ein Traum war, und sah ihn an. "Macht dir das alles überhaupt keine Angst?"
"Im Augenblick wahrscheinlich nicht so sehr wie dir. Was diese Sache betrifft, hab ich im Grunde ein gutes Gefühl. Eigenartig. Sonst ist es immer umgekehrt bei uns. Außerdem, was soll schon Schlimmes passieren? Zur Not kann man so was auch wieder verkaufen."
Ich spürte einen Moment vor mich hin und fühlte, wie die Welt in mir begann, sich wieder zu ordnen. "Du hast Recht, ich benehme mich wie ein Kleinkind", sagte ich, streichelte seine Wange und küsste ihn. Dann verkroch ich mich in seinen Armen.
Wenn schon nicht selbst brüten, dann wenigstens brüten lassen. Ungefähr so hat es damals in mir ausgesehen, und auch das machte Mylopas Reiz für mich aus. Ich wollte unbedingt mehr Tiere. Schafe und Ziegen vielleicht. Aber ganz sicher Hühner, damit ich mir morgens die frischen Eier aus den Nestern holen konnte, so wie das für Robert und Sonja jetzt schon möglich war. Aber die hatten immer gerade genug für den Eigenbedarf und konnten uns nicht noch mit versorgen.
Am Nachmittag hatten wir mit unserem Bauern und seiner Frau bei einem Notar den verabredeten Termin, und ich war den ganzen Morgen über nervös und relativ ziellos durchs Haus gelaufen. Hatte oben im Flur, wo mein kleines Büro eingerichtet war, in einer Art Übersprungshandlung einige meiner Sachen für die Schule geordnet. Das musste schon seit langem passieren, und die Beschäftigung damit verkürzte die Wartezeit einigermaßen sinnvoll. Heute, an diesem Tag Ende April, war es endlich so weit.
Die ganze Prozedur verlief zwar bürokratisch sachlich, aber in mir war sehr viel Feierlichkeit. Robin erging es ähnlich. Auch er verfolgte innerlich angespannt, was dabei geregelt und entschieden wurde - mit dieser Steilfalte über der Nasenwurzel, die dafür das entlarvendste Indiz war. Unser erster Kaufvertrag. Für das erste eigene Haus. Zum Abschluss setzte er - genauso wie ich - ein wenig zittrig seine Unterschrift unter das Dokument. Wir hatten zwar schon vieles gemeinsam gemacht, auch mit einigem Risiko Behaftetes in Angriff genommen und verwirklicht, zuletzt die Renovierung unseres Häuschens am Krikedillweg, aber dies war unser erster größerer, gemeinsamer, wirklicher Besitz. Und der war jetzt amtlich.
Händeschütteln, Glückwunsch, Erleichterung auf allen Seiten. Bauer Horst lud uns noch auf einen Sherry zu sich nach Hause ein - "Das muss gefeiert werden." - und wir folgten ihm nach Schale.
So kurz wie möglich hielten wir unseren Besuch, weil es uns mit aller Gewalt hinters Wiechholz zog. Denn nun, mit der Unterschrift unter dem Kaufvertrag, würde der Blick auf unseren Hof eine ganz andere Qualität für uns haben.
Das Herz sackte uns zunächst wieder ein wenig ab, als wir der grauen Scheune entgegenfuhren. Wir parkten meine Ente auf der Betonplatte über der Güllegrube und liefen durch den parkgroßen Vorgarten auf die Haustür zu.
Auerbachs waren zum Glück zu Hause, und so hatten wir Gelegenheit, endlich einmal auch mit ihnen allein zu reden. Wir erzählten ihnen von unserem Vertragsabschluss und besprachen, dass sie auf jeden Fall bis zum Beginn der Sommerferien dort wohnen bleiben könnten.
"Hier haben Sie den Schlüssel für die hintere Eingangstür zum Wirtschaftsraum. Wir räumen die ehemalige Küche, und Sie können sich provisorisch dort und in der Upkammer schon einrichten und das Bad benutzen. Die Tür zur Diele schließen wir ab. Dann bleibt das bis dahin unser Bereich, und wir benutzen Dusche und Toilette im ehemaligen Kuhstall. Aber wir sind raus, so bald es geht, und wir hoffen, dass es gar nicht bis zu den Sommerferien dauern wird. Im Rheinland haben wir schon ein anderes Haus in Aussicht. Wenn das klappt, sind wir hier ganz schnell verschwunden."
Wie beiläufig erzählte Frau Auerbach, dass sie ihre gesamten Ersparnisse in den Ausbau des Kuhstalles gesteckt hätten. "Vierzigtausend Mark!"
Das klang ein bisschen so, als bäte sie uns um einen Ausgleich, aber so Leid sie mir deshalb auch tat, ein bisschen, fand ich, waren sie selbst Schuld an ihrer Misere. Wie konnten sie nur so viel Geld in eine Sache investieren, von der sie nicht einmal wussten, ob sie finanziell abgesichert war? Damit hatten wir im Grunde nichts zu tun. Und wir hatten das Haus nun einmal so gekauft, 'wie es stand und lag'. Genau so lautete die Formulierung im Vertrag.
Robin und ich taten beide so, als hätten wir ihre Anspielung überhört. Aber wir wünschten ihnen wirklich von ganzem Herzen, dass sie ein neues Zuhause finden würden. Vielleicht diesmal unter besseren Vorzeichen. Und wir setzten sie ja nun wirklich nicht von einem Tag auf den anderen auf die Straße.
Frau Auerbach blieb mit den Kindern im Haus, während ihr Mann im grünen Kittel mit uns noch einmal über das Gelände lief. Zum ersten Mal schauten wir uns den Schweinestall etwas intensiver von innen an. Beim ersten Besuch waren wir nur kurz hineingelaufen, hatten einmal rechts und einmal links geschaut und dann unseren Rundgang über das Land fortgesetzt. Jetzt betrachtete ich mir die Futterküche etwas genauer, denn falls Auerbachs doch länger brauchten als beabsichtigt, würden wir diesen spinnverwebten Raum als unsere Übergangsküche einrichten müssen. Diese Futterküche, in der es an der Westwand neben dem Sprossenfenster aus Eisen einen Wasseranschluss ohne Waschbecken gab, lag direkt im Anschluss an den Durchgang zum Haus. Wir würden also auch bei Regenwetter trockenen Fußes zwischen ihr und dem Haus hin- und herlaufen können. Eine alte Holztreppe führte aus ihr nach oben unter das Stalldach, und dort lag noch jede Menge Heu und Stroh. Unter der Treppe führte aus der Futterküche eine grob gezimmerte Tür in einen ersten Stall, in dem es vier gemauerte Schweinekojen gab. Gut für die Lagerung von Brennstoffen. Ging man zwischen ihnen hindurch, konnte man zwischen zwei Türen wählen und kam dann entweder hinter das Stallgebäude und auf das Wiechholz zu, oder man ging geradeaus, und betrat einen zweiten Stall, in dem es noch sechs weitere Kojen gab. Sie wirkten neuer, und hier passten eine Menge Schafe, Hühner und Gänse hinein.
"Wie sieht es denn mit Ratten aus?", fragte Robin, unser eigenes "Kompost-Problem" vor Augen, und Herr Auerbach erzählte davon, dass er im Winter einige von ihnen ganz dreist durch den Garten habe laufen sehen. "Aber dann habe ich sie gut gefüttert", er grinste vielsagend, "und seitdem ist es ruhig. Zumindest äußerlich."
"So ist das nun mal", sagte ich. "Wer weiß, wie viele von diesen Viechern es auch in der Stadt gibt. Wenn dort die Menschen wüssten, was unter ihren Häusern und in der Kanalisation herumkriecht. Aber wo man eine sieht, sagt man, gibt es mindestens fünfzig. Das gehört nun mal zum Leben. Ratten gibt es auch bei uns in Erkenschwick."
"Alles darf man aber auch nicht mehr nehmen", fuhr Herr Auerbach in der Beschreibung seiner 'Rattenfütterung' fort. "Die Biester sind inzwischen ja schon resistent gegen die härtesten Geschosse. Doch hier bei der Genossenschaft gibt es eine ganz gute Mischung. Die wirkt offenbar noch. Racumin blau oder rot. Das rote ist besser, glauben Sie mir."
Wir registrierten diesen Tipp und erzählten ihm von unserer Absicht, den ehemaligen Kuhstall zu einer Mietwohnung umzubauen. "Wir wissen noch nicht, wann wir hierher versetzt werden, und wir hoffen, dass es uns überhaupt gemeinsam gelingt. Es ist ja schon schwer genug, allein einen Versetzungsantrag durchzubekommen. Zu zweit und möglichst nahe beisammen dürfte es noch um einiges schwieriger werden. Und so lange nicht sicher ist, dass wir hier wirklich leben können, muss zumindest ein Teil des Hauses bewohnt sein."
"Ganz schön mutig", fand Herr Auerbach. "Lassen Sie einen solchen Hof mal ein paar Tage allein. Da können sie anschließend für neue Fensterscheiben sorgen und müssen die Bierflaschen, manchmal sogar auch die Scheißhaufen aus den Ecken sammeln." Er lachte verlegen und sah mich an, als habe er das für meine Ohren etwas zu derb ausgedrückt. "Sie glauben ja gar nicht, wie willkommen solche leer stehenden Gebäude für einen ganz speziellen Teil der Landjugend sind. Einmal entdeckt, werden sie zum Treffpunkt. Bei den Orgien, die da laufen, bleibt auf die Dauer nicht mehr viel heil. Deshalb ist es schon wichtig, dass hier so oft es geht, jemand ist."
Na ja, zum Glück sind vorerst noch Auerbachs hier, dachte ich. Dann verabschiedeten wir uns von ihm, und er ging zu seiner Familie zurück ins Haus.
Robin und ich liefen noch ein wenig allein über das Gelände. Auf einer der Wiesen fiel ich beinahe über einen riesigen Stein, der vom Bewuchs fast verdeckt war. Weil ich nicht auf den Boden, sondern umher geschaut hatte, konnte ich ihn nicht sehen.
"Das muss ein immens großer Findling sein", sagte ich zu Robin, dem es in letzter Sekunde gelungen war, mich aufzufangen. "Vielleicht können wir den irgendwann mal ausbuddeln."
Er bückte sich, strich ein wenig Gras und lose Erde zur Seite, befühlte die raue Oberfläche und meinte: "So wie es ausschaut, braucht man dazu einen Kran. Der hat ja ungeheure Ausmaße. Ist vielleicht ein Felsen, ein unterirdischer Berg."
"Aber doch nicht hier. Das ist Sandboden. Weißt du nicht mehr, dass unser Bauer erzählte, das sei früher eine Heidelandschaft gewesen?"
"Vielleicht ein Felsen, der während der Eiszeit hier her geschwemmt wurde."
Dann kümmerten wir uns nicht weiter um den Stein. Schauten hinüber zum Wald, über dem der frühlingsgrüne Flaum seit unserem ersten Besuch schon sehr viel grüner geworden war. Schon von hier aus war zu sehen, dass dieses Wiechholz ein herrlich unaufgeräumtes, naturbelassenes Fleckchen sein musste. Schließlich wendeten wir uns um, lehnten uns gegen den Zaun und betrachteten unser Haus.
"Schön ist das alles noch nicht", fand Robin und ließ den Schlüssel, den Herr Auerbach ihm gegeben hatte, auf dem Handteller auf und ab hüpfen. "Da steckt noch eine Menge Arbeit drin."
"Es müsste ganz einfach einen großen Knall geben, und danach sollte alles so sein, wie wir es haben wollen."
Erstaunt sah er mich an und grinste. "Das meinst du doch nicht im Ernst. Ich glaube, wenn es so wäre, hättest du es gar nicht haben wollen."
Er kannte mich einfach zu gut und wusste, dass für mich oft genug der Weg das Ziel war, dass ich es stinklangweilig gefunden hätte, mich hier in ein fertiges Nest setzen zu können. Dazu hatte ich schon als Kind zu begeistert jedes Buch verschlungen, das von menschlichen Pioniertaten berichtete. Solche Dinge faszinierten mich. Aus dem beinahe Nichts etwas schaffen, sich an den kleinen Schritten und jeder neuen Entdeckung freuen. Das war es, was ich brauchte. Gern wäre ich nicht Lehrerin sondern Archäologin geworden.
Er hatte schon Recht. Wäre Mylopa von Anfang an das gewesen, was es am Ende war, ich weiß nicht, ob es mich so gereizt hätte. Mich faszinierte die Herausforderung. Immer schon. Und der Angelhaken saß bereits zu diesem Zeitpunkt tief in meiner Haut, machte mich blind und taub für jedes unangenehme Gefühl.