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Bis zur Zeit der reifen Kirschen hatte ich mein seelisches Tal einigermaßen durchquert. Meine Trauer war nicht völlig weg, doch ich versuchte, damit umzugehen. Immer noch waren da diese leisen, schmerzhaften Stiche, wenn ich bei Freundinnen in den Kinderwagen schauen durfte, wenn ich den Nachbarskindern beim Spielen zuschaute oder ihr Lachen zu mir herüber drang. Doch diese Stiche verloren mit jedem überwundenen, überlebten Monat etwas von ihrem Schmerz, berührten mich nicht mehr in der anfangs so atemberaubenden Intensität.

Robin bemühte sich sehr liebevoll, mir bei meinem inneren Neuaufbau zu helfen. Er zeigte sich in jeder Hinsicht sehr viel sensibler und in seinem Gefühl mir gegenüber zuverlässiger als zuvor. Wir hatten einen neuen Frühling, befreit vom Kinder-Zeugungs-Stress. Ich entspannte mich und genoss es erstaunlicherweise rasch, mein Augenmerk auf andere Dinge als auf meinen Bauch zu lenken. Auch wenn es nicht endgültig geklappt hatte - es war mir zumindest einmal im Leben gelungen, schwanger zu werden. Zumindest im Ansatz eine Bestätigung meiner Weiblichkeit.

Robin wirkte wie von einer schweren Last befreit. Wir stürzten uns gemeinsam mit unseren Doppelhaus-Nachbarn Robert und Sonja und mit einigen anderen Freunden in die politische Arbeit. Gründeten eine Umwelt- und eine Friedensgruppe. Eröffneten einen Dritte-Welt-Laden. Kümmerten uns um die kommunale Politik vor Ort und hetzten von Termin zu Termin. Fanden mit der Zeit immer neue akute Wunden, in die wir unsere Finger legen, für deren Heilung wir uns einsetzen wollten. Lenkten uns durch die Beschäftigung mit Problemen, die über unseren kleinen Beziehungshorizont hinausgriffen, von unseren eigenen Schwierigkeiten ab. Immer noch ein Wegrennen vor dem eigenen Schmerz, aber es wirkte.

Dann gab es kurz hintereinander zwei Ereignisse, die auf längere Sicht Robins und meinem Leben eine völlig neue Richtung geben sollten.

"Ich hab jetzt das Ergebnis der Untersuchung", sagte Robert an diesem sonnigen August-Nachmittag und legte uns den Brief vom Gesundheitsamt auf den Gartentisch. Wir hatten als Umweltgruppe beschlossen, unser Gemüse auf Schadstoffe testen zu lassen. Nicht weit von unserem Haus und seinen beiden Gärten gab es eine Zinkhütte.

Robert war in seinem Schreiben an das Amt als besorgter, naiv fragender Familienvater aufgetreten. Vielleicht lag es daran, dass wir überhaupt eine Antwort bekamen. Wie wir später erfuhren, haben die zuständigen Mitarbeiter wegen ihrer Offenheit ziemlichen Ärger bekommen, denn natürlich sahen wir uns genötigt, die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Dass nichts mehr bedenkenlos zu genießen ist, weiß heute jedes Kindergartenkind. Aber damals, als man rauchende Schornsteine noch als ein Zeichen florierender Wirtschaft bejubelte, als die, die mit dem Finger auf die weniger rosigen Zeichen des Wohlstands zeigten, gern als Nestbeschmutzer ausgegrenzt und der Lüge bezichtigt wurden, war es schon ein Riesenskandal, dass das Untersuchungsergebnis nun – durch unsere Indiskretion - in allen Zeitungen zu lesen war.

Ich stopfte mir den Happen Erdbeertorte in den Mund, schob meinen Teller zur Seite und zog das Schreiben zu mir herüber. Robin rückte an mich heran, legte mir den Arm um die Schulter und las mit.

"Ist ja nicht zu fassen!", rief er. "Dreimal so viel Cadmium in den Möhren wie zulässig."

Laut las ich allen versammelten Nachbarn den Passus vor, in dem es hieß: '... für Kleinkinder ungeeignet ...' "Das muss man sich mal vorstellen!"

"Bei den anderen Gemüsearten, Salat, Grünkohl, Porree und so weiter sieht es zum Teil sogar noch schlimmer aus", sagte Sonja und sah hinüber zum Sandkasten. Johanna und Anna-Lena, ihre beiden Kinder bauten darin mit ihren Förmchen kleine 'Kuchen' und bejubelten gelungene Ergebnisse voller Vergnügen. Unberührt und unbeeindruckt von der Aufregung, die sich unter uns Erwachsenen ausbreitete.

Robin nahm mir den Brief aus der Hand und schüttelte den Kopf. "Es ist wirklich nicht zu glauben. Da bemüht man sich, alles ohne Gift hochzuziehen, natürlich zu düngen, und es geht einfach nicht. Man holt es sich aus dem Boden. Das kann bei den Bauern um uns herum auch nicht anders aussehen. Bei denen kommen der Kunstdünger und all die chemischen Unkraut- und Schädlings-Vernichtungsmittel noch dazu! Wenn ich daran denke, wie viel Schadstoffe sich in unseren Körpern schon summiert haben."

"Selbst der Kompost ist eine einzige Giftbombe", sagte Robert. "Durch die Verrottung und die Schrumpfung des Materials potenzieren sich die prozentualen Anteile der Schadstoff-Rückstände noch." Wenn Robert redete, meinte man oft, man sei in einer seiner Vorlesungen an der Uni Essen. Inzwischen jedoch hatten wir uns an seine Sprache gewöhnt und schätzten seinen Sachverstand.

"Und denkt nur an die Kinder! Stellt euch vor, welche Belastung das später für einen so kleinen Menschen bedeutet, wenn ihre Körper jetzt schon anfangen, dieses giftige, nicht mehr abbaubare Zeug zu sammeln. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was das für Johanna und Anna-Lena bedeutet." Auch Sonja war tief betroffen.

Wir dachten alle darüber nach, was zu tun sei und redeten über Flucht. Malten uns Bilder aus vom Leben auf dem Lande, weit weg von allen Giftschleudern des Ruhrgebietes. Allein, nur in mir selbst, fragte ich mich zuweilen, ob nicht auch dieses Gift eine Mitschuld trug an meiner Kinderlosigkeit. Vielleicht reagierte mein Körper zu sensibel, zu empfindsam auf diese Form der Zivilisation, gegen die offenbar auch die Errungenschaften der Medizin nichts auszurichten wussten. Ja, ich spürte immer dringlicher, dass ich weg musste von diesem Ort. Ein erstes Flämmchen begann zu glimmen ...

Im Herbst kam eine ehemalige Kollegin zu Besuch und erzählte voller Begeisterung von einem Haus, das sie sich nach ihrer Versetzung gekauft hatte. "Im Emsland, dort, wo eigentlich kein Schwein hin will, kannst du noch jede Menge billige Häuser bekommen." Und sie rechnete uns vor, wie sie das gemacht hatte. "Bei den Preisen brauchst du entweder kaum oder gar kein Eigenkapital. Zumindest nicht als Beamter, denen schmeißen sie die Kredite ja geradezu nach. Ich musste zwar noch einiges hineinstecken, um es bewohnbar zu machen, aber die finanzielle Belastung ist immer noch niedriger, als die Miete, die ich hier in Erkenschwick gezahlt habe."

Als sie wieder gegangen war, spannen Robin und ich den Faden weiter. Auch wir hatten bis auf zwei blutjunge Bausparverträge zwar eigentlich kein Geld, aber wir waren Beamte. Und wir waren motiviert. Ich ganz besonders.

Das Flämmchen bekam neue Nahrung, wuchs sich zu einem lodernden Feuer aus.


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